Rukiye Samanci wusste genau, wie man Mathe erklärt – allerdings nur in ihrer Muttersprache. Anfangs habe sie sich manchmal gefühlt wie die kleine Meerjungfrau, die vom Prinzen oberhalb des Ozeans träumt, aber keine Stimme hat, um mit ihm zu sprechen.
Von Janna Degener-Storr
Rukiye Samanci lebt seit fünf Jahren in Deutschland – und unterrichtet Mathe an einer Hauptschule in Remscheid. Im nordrheinwestfälischen Programm Lehrkräfte PLUS hat die türkische Lehrkraft sich dafür fit gemacht.
Einen Prinzen hatte sie immer an ihrer Seite – ihr Mann versorgte die gemeinsame Tochter, kümmerte sich um den Haushalt und ermunterte Rukiye Samanci in den anstrengenden Zeiten ihrer Fortbildung. „Aber als Lehrerin, die ihren Beruf sehr liebt, war es mein Ziel, dem Land, in dem ich lebe, mit meinen Talenten zu danken“, betont sie. Die 36-jährige Türkin hatte in ihrer Heimat Mathematik und Naturwissenschaften auf Lehramt studiert und an der Schule gearbeitet. Sie kannte sich mit modernen didaktischen und pädagogischen Methoden aus und wollte ihren deutschen Schülerinnen und Schülern ihr Wissen so gut wie möglich vermitteln. Doch ihre Sprachkompetenzen im Deutschen wurden ihrem fachlichen Niveau anfangs einfach nicht gerecht. „Beim spontanen Sprechen habe ich Fehler gemacht, außerdem mussten sich die Zungenmuskeln an die neuen Laute gewöhnen“, erklärt die 36-jährige Lehrerin lachend.
Inzwischen fühlt sich die türkische Lehrerin an der deutschen Schule wohl und akzeptiert. Sie setzt in ihrer Arbeit auf eine gute Vorbereitung, motiviert die Jugendlichen beispielsweise mit spielerischen Lernplattformen wie Kahoot, Lernvideos sowie der Lern-App Anton und baut auch auf die Kooperation der Eltern und die Zusammenarbeit mit dem Kollegium. „Wenn es Schwierigkeiten mit Unterrichtsstörungen gibt, helfen Sozialarbeiter, Sonderpädagogen, andere Lehrkräfte und auch die Schulleitung“, betont sie. Und von ihrer Kollegin, mit der sie jetzt ihre erste eigene Klasse leitet, habe sie auch „bürokratische Fachbegriffe“ gelernt – von „Attestpflicht“ bis „Notebook-Leihvertrag“. Wenn Schüler den Stoff nicht verstanden, dachte sie anfangs oft, es liege an ihrem Deutsch. Doch sie befragte die Jugendlichen anonym und sprach auch mit Lehrkräften, die sie zuvor unterrichtet hatten. So stellte sie schnell fest: Die meisten Kinder, die in ihrem Unterricht nicht so gut klarkamen, lernten zuhause nicht oder hatten schon immer Schwierigkeiten mit Mathe gehabt. Ihre Arbeit wurde von allen Seiten geschätzt. Inzwischen hat Rukiye Samanci einen festen Arbeitsvertrag.
Der lange Weg ins deutsche Klassenzimmer
Damit ist Rukiye Samanci einen von wenigen internationalen Lehrkräften, die den langen Weg in das deutsche Schulsystem geschafft haben. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft schätzt in ihrer Veröffentlichung „‚Verschenkte Chancen?!‘ Die Anerkennungs- und Beschäftigungspraxis von migrierten Lehrkräften“ aus dem Jahr 2021, dass 80 Prozent der im Ausland ausgebildeten Lehrkräften die Anerkennung ihres im Ausland erworbenen Abschlusses in Deutschland nicht schaffen. Die Bertelsmann-Stiftung betonte 2023 in ihrem Impulspapier „Zugewanderte Lehrkräfte für eine chancenorientierte Schule: Potenzial in Perspektiven verwandeln!“, dass die Anerkennungsverfahren zu lange dauern, Berufserfahrung nur unzureichend berücksichtigen und aufgrund des Erfordernisses von zwei Fächern zu selten zu einem auflagenfreien Bescheid führen. Ausgleichsmaßnahmen setzen ein hohes sprachliches Niveau voraus und seien nicht auf die Bedarfe der Zielgruppen zugeschnitten. Mehrere Bundesländer wie Berlin, Bremen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt planen aber immerhin, ausländische Abschlüsse einfacher anzuerkennen oder die Lehrkräfte beim Wiedereinstieg in ihren Beruf zu unterstützen. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hatte die Länder in einer Erklärung im März 2023 dazu aufgerufen, entsprechende Möglichkeiten zu prüfen.
Rukiye Samanci verfolgte ihr Ziel sehr diszipliniert und hatte auch Glück: Sie brachte aus der Türkei zwei Fächer mit, konnte in BAMF- und Jobcenter-finanzierten Sprachkursen der Volkshochschule und der Universität Deutsch bis zum Niveau C1 lernen und ergatterte anschließend einen der begehrten Plätze im kostenfreien nordrheinwestfälischen Wiedereinstiegprogramms für Geflüchtete Lehrkräfte PLUS. Hier besuchte sie ein Jahr lang weitere Deutschkurse sowie pädagogisch-interkulturelle Qualifizierungen und fachlich-fachdidaktische Seminare, parallel dazu absolvierte sie ein umfangreiches Schulpraktikum. Ihr Lebensunterhalt wurde in dieser Zeit durch das Jobcenter finanziert. Obwohl hier nur 125 Teilnehmende Platz finden, ist dieses Programm bundesweit das größte seiner Art. Es gilt zudem als besonders erfolgreich. Darüber hinaus gibt es beispielsweise in Brandenburg das Refugee Teachers Program, in Schleswig-Holstein das InterTeach-Programm, in Baden-Württemberg das IGEL-Programm zur Integration geflüchteter Lehrerinnen und Lehrer sowie unterschiedlichste Lehrgänge der Bundesländer, die im Prozess der Anerkennung beruflicher Qualifikationen durchlaufen werden müssen.
Souverän den Schulalltag meistern
Lehrkräfte müssen im Schulalltag zum Beispiel den Aufbau von Versuchsprotokollen oder andere Arbeitsaufträge erklären, ihren Schülerinnen und Schülern lernförderliches Feedback geben, bei Streit auf dem Pausenhof spontan intervenieren, Elterngespräche führen, sich bei Schulkonferenzen Notizen machen oder bei Fachkonferenzen über didaktische Ansätze berichten. Im Programm Lehrkräfte PLUS erarbeiten sich die internationalen Lehrkräfte anhand solcher ausgewählten Kommunikationssituationen die notwendigen sprachlichen Mittel, um sie dann in Rollenspielen und Unterrichtssimulationen zu üben und reflektieren. Die allgemeinsprachliche Ausbildung wird ergänzt durch einen Fachsprachenkurs mit Fokus auf die MINT-Fächer und die fächerübergreifende Workshopreihe „Berufliche Kommunikation im Kontext Schule“. Im Modul „Ankommen in der Schule“ lernen die Lehrkräfte zum Beispiel, sich mithilfe eines Steckbriefs im Kollegium vorzustellen, ein Kennenlerngespräch in einer neuen Klasse zu führen und auf Tabu-Fragen von Schülerinnen und Schülern sprachlich angemessen zu reagieren. Im Modul „Kommunikation im Kollegium“ trainieren sie unter anderem, Rollen und Zuständigkeiten zu beschreiben, zwischen formellen und informellen Situationen zu unterscheiden oder an einer Konferenz teilzunehmen. Und im Modul „Kommunikation mit Eltern“ geht es etwa darum, Elternbriefe zu formulieren, den Leitfaden für Elterngespräche der Schulentwicklung NRW zu verstehen, Elterngespräche einzuleiten und mit möglichen Konfliktsituationen umgehen zu können.
In der Wissenschaft wurde die Qualifizierung von Lehrkräften aus dem Ausland lange vernachlässigt. „Die Fachdidaktik DaF/DaZ konzentrierte sich in den letzten Jahren berechtigterweise vorrangig auf die Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte“, erklärt die DaF-Expertin Anja Häusler, die die Fachsprachenkurse an der Ruhr-Universität Bochum koordiniert und das Programm „Lehrkräfte PLUS“ seit seinem Start im Jahr 2017 federführend begleitet. In ihrer Arbeit legt sie großen Wert darauf, die Bildungsbiografien der zugewanderten Lehrkräfte wertzuschätzen anstatt sich auf die sprachlichen Defizite zu fokussieren. „Das Fach DaF/DaZ setzt einen ständigen Perspektivenwechsel voraus. In jeder Unterrichtsstunde versuche ich den Programmteilnehmenden vor Augen zu führen, welche sprachlichen und übergeordneten Kompetenzen sie schon mitbringen. Denn nur wenn die zugewanderten Lehrkräfte Vertrauen in ihre Kompetenzen und in ihre Fähigkeiten zur Kompetenzerweiterung haben, können sie mittelfristig souverän im schulischen Kontext agieren.“ Auch Autonomie, Kontinuität und eine intrinsische Motivation sind aus ihrer Sicht zentral, wenn es um die Qualifizierung von ausländischen Lehrkräften geht. „Wenn Sie an Ihrem Beruf ernsthaft interessiert sind, investieren Sie Zeit, um sich laufend fortzubilden“.
Vorbild für die Kinder und Jugendlichen
Rukiye Samanci hätte im Anschluss an das Programm Lehrkräfte PLUS die Möglichkeit gehabt, sich im bundesweit einzigartigen Anschlussprogramm „Internationale Lehrkräfte fördern“ (ILF) weiterzuqualifizieren. Sie schätzt dieses Programm. Weil sie dann aber immer noch nicht die formalen Voraussetzungen für eine unbefristete Anstellung im deutschen Schuldienst gehabt hätte und ihre Deutschkenntnisse gut genug waren, entschied sie sich stattdessen für eine einjährige anschließende so genannte Pädagogischen Einführung, die sich eigentlich an deutsche Seiteneinsteiger und Seiteneinsteigerinnen richtet. In dieser Zeit wurde sie als tarifbeschäftigte Lehrkraft bezahlt. „Neben vielen deutschen Ingenieurinnen und Ingenieuren, die an die Schule wechseln wollten, waren dort auch drei Kolleginnen, die wie ich aus dem Ausland kamen und schon als Lehrkraft gearbeitet haben“, erzählt sie. Mit den Inhalten habe sie sich im Programm Lehrkräfte PLUS schon beschäftigt, trotzdem habe sie dazugelernt, durch die Unterrichtsbesuche, die Seminare und das Feedback ihres Seminarleiters, aber auch durch den Austausch mit den deutschen und internationalen Teilnehmenden.
Rukiye Samanci berichtet auf einem eigenen Instagram-Account „GutesGefühl“ von ihren Erfahrungen als türkische Mathelehrerin in Deutschland und hofft, dass sie als Lehrkraft auch ein Vorbild für ihre Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sein kann. In jedem Fall baut sie interkulturell und sprachlich eine Brücke für diese Jugendlichen. Wichtiger als eine perfekte Aussprache sind dafür eine offene Kommunikation und ein vertrauensvolles Miteinander, findet sie. Zu Ihren Klassen sagt sie wohl zu Recht: „Ich spreche nicht wie eine Deutsche, aber ich verstehe euch und ihr versteht mich. Und ich bin ein Meister in Mathe, das könnt ihr von mir lernen“. Auch mit ihrer ganz persönlichen Perspektive auf das Leben und das Lernen ist Rukiye Samanci ein großer Gewinn für ihre Schule.