Woche 9
Atemberaubender Winter in Xi’an

Als das Flugzeug am Montagmorgen in Xi’an aufsetzt, erschrecke ich. Gefühlt befinden wir uns noch irgendwo über den Wolken. Auch der Blick aus dem Fenster lässt nicht erahnen, dass wir bereits gelandet sind. Also schalte ich mein Handy ein, um die Wetter-App zu checken und ahne es bereits: Der Luftqualitätsindex misst einen Wert von 500. Seit einigen Tagen, genauer gesagt seit Beginn der Heizperiode, befinden sich die Werte selten unter 250. Ab einem Wert über 300 wird die Luftqualität als „gefährlich“ eingestuft. In diesem Moment wollte ich noch nicht daran denken, was mich draußen erwarten würde. Viel zu schön war das vergangene sonnige Wochenende mit überwiegend hervorragender Luft in Shanghai.
Die Qualität der Luft hängt übrigens unmittelbar mit dem Beginn der Heizperiode zusammen. Deshalb ein kurzer Exkurs zum Heizverhalten in China: Meine Betreuerin erzählte mir, dass in China im Zeitraum vom 15. November bis zum 15. März geheizt wird. Das liegt daran, dass ein Großteil der Heizungen in China durch staatliche Fernwärme geregelt werden. Allerdings gibt es eine Heizungsgrenze, die Regionen nördlich des Yangtse-Flusses betrifft. In den südlichen Provinzen wird, wenn nötig, mit Klimaanlage geheizt.

China und die Luftverschmutzung
Dass China ein großes Problem mit Smog hat, war mir bereits vor meiner Anreise bewusst. Allerdings rechnete ich nicht damit, dass die Luftverschmutzung in meiner Praktikumsstadt, der Zwölf-Millionen-Metropole Xi’an, ein solches Ausmaß annehmen wird und noch schlimmer zu sein scheint als in Peking. Schuld daran ist vor allem die geographische Lage. Xi’an ist von Bergen umgeben. Aus diesem Grund wird die Stadt von dem feinen Staub verhüllt, der sich wie eine Glocke über der Stadt sammelt und diese durch einen mystisch aussehenden, grauen Schleier verdeckt. Farben sind kaum noch zu erkennen und Kontraste verschwimmen. Die auf der Wetter-App angezeigte Sonne sucht man vergeblich.

  • Der Blick von meinem Balkon in den „sonnigen“ Himmel © Charlene Hennecke

    Der Blick von meinem Balkon in den „sonnigen“ Himmel

  • Mystisch aussehender Smog umhüllt den Nordbahnhof von Xi’an © Charlene Hennecke

    Mystisch aussehender Smog umhüllt den Nordbahnhof von Xi’an

Ich unterschätzte die Auswirkungen der Luftverschmutzung anfänglich. Die Symptome belächelte ich und schob sie zunächst nicht auf die Luftverschmutzung. Auch wollte ich das Tragen eines Mundschutzes umgehen, vermutlich aus ästhetischen Aspekten. Ich konnte und wollte mir einfach nicht vorstellen, welche Konsequenzen die schlechte Luftqualität (für mich) mit sich ziehen kann. Die nicht zu unterschätzende Gesundheitsgefahr geht mit sinkender Lebensqualität einher. Ich habe Probleme, tief einzuatmen. Es vergeht kein Tag, an dem ich mein Nasenspray stehen lassen kann. Meine Haut, Haare, Mund und Nase sind ausgetrocknet. Ich bin permanent erkältet und habe einen ständigen Druck im Kopf. Dementsprechend sinkt auch mein allgemeines Wohlempfinden. Meine eigentlich gute Laune verschwindet und die morgendliche Motivation aus dem Bett aufzustehen, ist an sehr verschmutzten Tagen quasi nicht vorhanden.
Anfänglich zweifelte ich an mir, doch ich bin nicht die Einzige, der die Luftverschmutzung zu schaffen macht. Es geht nicht nur mir als Europäerin so, sondern auch den chinesischen Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern. Als ich meine Betreuerin zu Beginn meines Praktikums gefragt habe, was ihr an Deutschland gefällt, antwortete sie „die frische Luft“. Das habe ich belächelt, doch heute verstehe ich sie. Ich frage mich, wie die Chinesen das jeden Winter aushalten können. Mich strengt dieser Zustand extrem an und ich freue mich über jeden Tag, an dem die App Werte „nur“ um die 150 anzeigt.

English Talent Competition
Eines meiner Vorurteile war, aus welchem Grund auch immer, dass der Unterrichtsalltag in China bis auf das kleinste Detail durchorganisiert ist. Doch tagtäglich erlebe ich Gegenteiliges, was mir so manches Mal den Puls in die Höhe treibt. Stunden werden willkürlich verschoben, es gibt außerplanmäßige Termine oder Unterrichtsstunden fallen (sehr) spontan aus, weil es scheinbar Wichtigeres zu tun gibt (ich verstehe natürlich, dass Deutsch als zweite Fremdsprache nicht den höchsten Stellenwert einnimmt). Auch diese Woche sollte besonders werden. Dienstagabend lachte ich die Spanischlehrerin Ana noch aus, weil man ihr einen Abend vorher mitteilt hat, dass sie Jurymitglied bei der „English Talent Competition“ sein wird (wir „amüsieren“ uns immer gemeinsam über die „chinesische“ Spontaneität, die wir im Schulalltag erfahren). Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht die geringste Ahnung, dass auf mich Ähnliches zukommen wird. Sie musste innerhalb weniger Stunden die Reden der antretenden Schülerinnen und Schüler lesen, korrigieren, Fragen dazu notieren und eine Abschlussrede vorbereiten, ohne überhaupt irgendwelche Informationen erhalten zu haben. Wir ausländischen Lehrkräfte können das anscheinend leisten. Es scheint oft, als schreibe man uns Superkräfte zu. Aus Mitleid erklärte ich mich bereit, ihr zu helfen, denn geteiltes Leid ist bekanntlich halbes Leid. Als ich ihr am nächsten Nachmittag viel Glück wünsche, entdecke ich auf meinem Handy eine Nachricht meiner Betreuerin. „Liebe Charlene, du wirst in die Jury der englischen Talentshow eingeladen. Die Veranstaltung findet morgen statt. Ich bringe dich dorthin. Du hast ja Zeit, oder?“ Natürlich habe ich Zeit, es ist ja schließlich mein freier Schultag. Noch im Treppenhaus tat es mir Ana gleich und lachte laut. Ich hätte es gestern mit meiner Schadenfreude wohl nicht übertreiben sollen. Auf meine Nachfrage, ob ich etwas vorbereiten muss, bekomme ich erst einige Stunden später die Antwort: „Ich glaube nein, die Englischlehrerin wird dir vor Ort alles erklären.“ Mit dieser Antwort kann ich wenig anfangen, also frage ich weiter nach. Innerlich lache ich wieder einmal über die Spontaneität, die bei einem solchen Event weniger angebracht ist. Eine solche Veranstaltung wird schließlich nicht von heute auf morgen aus dem Boden gezaubert. Wenn auch mit mulmigem Gefühl möchte ich dieses Abenteuer annehmen. Eine chinesische Talentshow auf Englisch werde ich schließlich nicht ein zweites Mal erleben. In weiteren Nachrichten erzählt mir Wenjing lediglich von ihren Erfahrungen. In der Regel müssen Fragen zu den Reden der Teilnehmenden gestellt werden und zum Abschluss wird eine zusammenfassende und kommentierende Rede gehalten. Das wusste ich bereits von Ana. Ich hätte mich gerne auf diesen besonderen Tag vorbereitet, doch es sollte wohl nicht so sein. Ich hatte keine andere Wahl als meinen Perfektionismus über Bord zu schmeißen und es einfach auf mich zukommen zu lassen. Trotzdem fuhren meine Gedanken am Abend zuvor Karussell, schließlich wollte ich mich nicht blamieren und auch mein Englisch ist schon ein wenig eingerostet. Am nächsten Tag, kurz vor der Show, kam die erlösende Nachricht, dass ich „nur“ eine Rede halten und die Teilnehmenden bewerten muss. Das Programm der Talentshow beinhaltet auch keine Reden, sondern Sing-, Tanz- und Theaterdarbietungen – ist für mich auch viel interessanter als zwölf Reden zum gleichen Thema ;)
Als ich die Aula der Schule betrete (Schande über mein Haupt, dass ich diese nach neun Wochen zum ersten Mal sehe) bin ich trotzdem nervös. Die Englischlehrerin gibt mir eine wirklich sehr knappe Einweisung, drückt mir Zettel und Stift in die Hand und bringt mich zum Platz. Zum Glück sitzt die Französischlehrerin Flo neben mir und unterstützt mich mental. Als die Moderatoren die Show eröffnen, ist meine Aufregung wie weggeblasen. Viel zu begeistert bin ich von den Auftritten der Schülerinnen und Schülern, die von tollen Outfits und sehr guten Englischkenntnissen gekrönt werden.
  • Das Moderatorenteam der English Talent Competition der Xi’an Foreign Language School © Charlene Hennecke

    Das Moderatorenteam der English Talent Competition der Xi’an Foreign Language School

  • Flo und ich in der Jury © Charlene Hennecke

    Flo und ich in der Jury

Als Flo und ich als besondere Gäste der Talentshow aufgerufen werden und mit einem lauten Applaus und Gekreische der Schülerinnen und Schüler begrüßt werden, bestätigt sich meine These, dass uns Fremdsprachenlehrerinnen offenbar Superkräfte zugeschrieben werden. Wir scheinen einen ganz besonderen Stellenwert an der Schule zu haben. Das bestätigt sich später auch in der Abschlussrede des Schulleiters, der uns lobend hervorhebt. Ich bin peinlich berührt, denn ich finde, dass die chinesischen Lehrkräfte mindestens genauso viel leisten. Sie sind es, die täglich von 7 Uhr bis mindestens 18 Uhr den Schulalltag stemmen.

Es treten insgesamt zwölf Gruppen auf, eine besser als die andere. Ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus und merke, wie viel Arbeit die Teilnehmenden in ihre Auftritte gesteckt haben. Für mich besonders imposant sind die Auftritte zweier Schülerinnen mit den traditionell chinesischen Instrumenten. Eine Schülerin spielt die Cucurbit Flute (Hulusi, oder auch Mundorgel) und eine andere Schülerin tritt mit der Koto (ein Saiteninstrument) auf. In meiner Rede am Ende versuche ich, so gut es geht, alle Schülerinnen und Schüler lobend zu erwähnen. Ich bedanke mich für die Einladung als Jurymitglied. Für mich war diese Show besonders, denn neben dem Unterrichtsalltag ist es schön, auch an außerunterrichtlichen Veranstaltungen teilnehmen zu dürfen und so der chinesischen Kultur ein Stückchen näher zu kommen.
  • Meine kleine (große) Rede auf der Bühne © Charlene Hennecke

    Meine kleine (große) Rede auf der Bühne

  • Erinnerungsfoto der Talentshow © Charlene Hennecke

    Erinnerungsfoto der Talentshow

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