Blogeintrag 1
Willkommen in Zhuzhou – die erste Woche mit Tai Chi und scharfem Essen
Allein über die Reise nach Zhuzhou könnte ich einen eigenen Eintrag schreiben. Um es kurz zu fassen: Wir haben unseren Zug verpasst. Ausgeschmückt wäre die Geschichte erweitert um die Elemente: erschwerte Passkontrolle, verlorener Begleiter, 12. Kofferkontrolle, unerwartete Metrofahrt und monolinguale Bahnhofsmitarbeiter. Wir erhielten letzten Endes mit viel Glück unsere reservierten Tickets, die auf den Folgezug umgeschrieben wurden und nachdem einige Nerven in Shenzhen zurückgelassen wurden, fuhren wir mit dem Abendzug nach Zhuzhou. Davor mussten wir allerdings nochmal den Bahnhof wechseln, aber dafür hatten wir auch gute 4 Stunden Zeit, in denen wir auch unsere Bereuerinnen erreichten und über die neue Ankunftszeit informierten. Am Zielbahnhof empfingen uns beide gemeinsam mit riesigen und wunderschönen Blumensträußen und brachten uns vorbei an den Hochhäusern der Innenstadt zum Schulcampus, denn dort bin ich für die kommenden drei Monate untergebracht. Marcels Wohnung befindet sich auf dem zweiten Campus seiner Schule. Weil es schon so spät war, wurde sie ihm aber erst am nächsten Tag gezeigt und er verbrachte die erste Nacht bei mir.
Unsere Unterkünfte sind beide ziemlich groß, vor allem, weil wir beide nur ein kleines Zimmer erwartet hatten. Erwartet hatten wir allerdings auch ein standardisiertes Badezimmer. Beziehungsweise, wir hatten darauf gehofft. An das Loch im Boden werde ich mich sicher gewöhnen, aber das durch Gas erwärmte warme Duschwasser wird zu einer echten Herausforderung. Am Donnerstag habe ich die Wohnung nach dem Duschen geradezu fluchtartig verlassen, um den starken Gasgeruch in meiner Küche zu melden. Ich schätze, das wird nicht das letzte Mal sein, denn der Techniker hat lediglich eine Schraube an der Flasche festgestellt. Was Marcels Bad betrifft, so hat er das Glück eine westliche Toilette erwischt zu haben, allerdings befindet sich diese innerhalb der Duschkabine, welche einen Teil der Küche einnimmt. Alles eben ein wenig kurios beziehungsweise ungewohnt.
Am Abend unserer Ankunft wurde ich gleich darüber informiert, dass ich mich am Folgetag im Englischunterricht der 7. Klasse vorstellen soll. Außerdem würde uns meine Betreuerin (Deutschlehrerin der Schule) um 7:30 Uhr zum "späten Frühstück" abholen und uns den Campus zeigen. Wir wachten allerdings schon um 6:20 Uhr auf, denn um diese Zeit werden die Schüler durch das über den Campus schallende Kinderlied "Yankee Doodle" geweckt. Einen weiteren Song hörten wir um 6:35 Uhr, denn dann beginnt die morgendliche Sporteinheit. Den dritten Song gibt es zu Beginn der Lesezeit um 7:20 Uhr. Ausschlafen können wir in Zukunft also auch bei späterem Schulbeginn nicht. Die Schüler beginnen um 7:50 Uhr übrigens mit ihrer ersten Stunde, dann hören wir leise das Glockenspiel, das den Stundenbeginn einläutet.
Taichi und Unterricht
Am Dienstag bekam ich eine funktionstüchtige Waschmaschine und erschien um 10:10 Uhr zur täglichen Tai Chi Stunde im Foyer des Hauptgebäudes, zu der sich fast alle Lehrer treffen. Am 22.10. gibt es einen Tai Chi Wettbewerb und aus diesem Grund wird hart trainiert. Inzwischen macht es mir wirklich Spaß und Frühsport ist immerhin eine gute Sache. Später am Tag fuhren wir in die Stadt, um eine chinesische SIM Karte für uns zu kaufen. Diese sind Gott sei Dank recht günstig, sodass wir jetzt auch mobile Daten haben und nicht auf das schwankende WLAN Netz in meiner Wohnung angewiesen sind. Nachmittags stellte ich mich in Yings Deutschunterricht vor und half den begeisterten Schülern ein wenig bei der schwierigen deutschen Aussprache. Wir werden hier ein wenig wie Popstars behandelt, nur weil wir anders aussehen und ein wenig größer sind. Dabei habe ich auch schon einige Chinesen gesehen, die uns an Körpergröße überragen. Mal schauen, wie lange wir noch die interessanten Neuen sind. Erfahrungsgemäß legt sich sowas schnell und bald werden wir wohl nach unserer wirklichen Unterrichtsqualität beurteilt. Im Moment werden wir vor allem gefragt wie groß wir sind, was wir für Musik hören und ob wir einen Freund/eine Freundin haben - es sind eben auch nur normale Teenager. Zum Unterricht an sich ist zu sagen, dass großer Wert auf Aussprache gelegt wird, sowohl im Englisch- als auch im Deutschunterricht, wovon sich deutsche Schulen zum Teil noch eine Scheibe abschneiden können. Andererseits sind die Klassen sehr groß (bis zu 50 Schüler) und so kann individuelle Förderung noch schwerer organisiert werden, als bei uns. Ich werde bis zum Ende des Monats in 7 Klassen Englisch unterrichten, wobei es auch nur eine Stunde pro Klasse und Woche ist. Dass verlangt wird als Deutscher perfekt Englisch sprechen zu können, ist keine Seltenheit, wie wir auch von anderen Stipendiaten erfahren haben. Dass wir es dann auch unterrichten können, ist hier Common Sense. Na sagen wir es mal so: Wir schlagen uns so durch.Um bei Kuriositäten zu bleiben, bietet sich ein Kommentar zu Marcels Sportfest an. Es zeigten verschiedene Gruppen was sie im letzten Monat gelernt haben - von Karateübungen über Theaterchoreografien bis hin zu coolen Cheerleadertänzen - und wie gut sie in Formation marschieren konnten. Nun, diese halbe Militärparade zu pathetischer Musik gibt es auch an meiner Schule, aber bei Marcel haben wir gesehen, dass schon die Erstklässler ihren Sportunterricht nutzen, um die Gangart zu trainieren. Der Grund dahinter ist mir noch schleierhaft. Ähnlich ergeht es mir mit der Tradition des Feuerwerks. In Europa haben einige Städte sogar das private Silvesterfeuerwerk verboten, hier vergeht kein Tag ohne den Schreck, den das plötzliche Geknalle in der Nachbarschaft auslöst. Von einem Kollegen wurde uns erklärt, dass mit diesen Feuerwerkskörpern verschiedene Ereignisse gefeiert werden und man versucht durch das Licht und das Geräusch böse Geister fernzuhalten. Diese Ereignisse sind zum Beispiel eine Geburt, ein Trauerfall, Geburtstage, Jubiläen, der Beginn des Wochenendes, der Wochenanfang, die Wochenmitte und so weiter.
Am Wochenende haben wir einen Ausflug ins Stadtzentrum gemacht, um den Carrefour (französische Supermarktkette) zu besuchen. Dort gab es wie erwartet ein paar internationale Items mehr, auch wenn die riesige Auswahl an Obst, Gemüse, Sojasaucen, Gewürzen, Reis, frischem (also lebendem) Fisch und kleinportionierten Süßigkeiten wieder eher chinesisch war und an den Markt an meiner Schule erinnerte. Weil die große Verkehrsdichte aka das Verkehrschaos den Ausflug auf mehrere Stunden ausdehnte beschlossen wir, den Rest der freien Zeit lieber am Stadtrand zu verbringen. Am heutigen Sonntag sind wir übrigens nicht allein auf dem Campus. Soeben hat es zur Mittagspause geläutet und zahlreiche Schüler haben ihre Unterrichtsräume verlassen. Überraschungen gibt es hier wirklich einige.