Blog #4
Shenzhen Second Foreign Languages School
Mittlerweile starte ich in die vierte Schulwoche meines Abenteuers an einer chinesischen Schule. Ich denke, jetzt ist es endlich mal an der Zeit, euch das Konzept, die Prinzipien und den Alltag der öffentlich staatlichen Schule mal genauer vorzustellen.
Schon nach den ersten Tagen dachte ich, ich wüsste genau wie hier der Alltag abläuft. Doch eigentlich fällt mir beinahe täglich etwas Neues auf, was mein Bild der Schule, der Lehrkräfte sowie der Schülerinnen und Schüler erneut auf den Kopf stellt. Manchmal bin ich begeistert, häufig erschrocken und dann wiederum muss ich vor Kuriosität einfach nur den Kopf schütteln und schmunzeln. Doch genauso fällt mir in diesem Moment des Schreibens auch auf, dass ich vieles schon einfach so hinnehme. Fest etablierte Rituale an der Schule sind auch für mich bereits zur Gewohnheit geworden, ich hinterfrage sie nicht – sie gefallen mir sogar und einiges davon hätte ich gerne genauso in Deutschland!
Die Schule
Die „Shenzhen Second Foreign Languages School” ist eine Internatsschule, gelegen im Bezirk Gualan, welcher circa eineinhalb Stunden von Shenzhens „City“ weit entfernt liegt. Shenzhen besteht eigentlich nicht wirklich nur aus einem Stadtkern, sondern hinter jeder größeren Metrostation verbirgt sich ein neues Einkaufswunder. Auf jeden Fall liegt meine Praktikumsschule viel zu weit außerhalb, um einfach mal eben einen Stadtbummel machen zu können. Für mein Portemonnaie ist das ganz sicher das Richtige ;)
Der gesamte Schulcampus hat eine Fläche von 119 000 Quadratmetern, worunter die Gebäude 70 000 Quadratmetern in Anspruch nehmen. Es ist wirklich unfassbar riesig hier, eine kleine Schulstadt mitten in der chinesischen Provinz!
Also, die von der World Health Organisation (WHO) empfohlene Tagesbilanz von 10 000 zu erreichenden Schritten, schaffe ist hier meistens schon vor dem Mittagessen!
Insgesamt werden an der Schule 3000 Schülerinnen und Schüler in 60 Klassen von 251 Lehrkräften unterrichtet. Ein Lehrerzimmer, so wie man es aus Deutschland kennt, gibt es hier bei dieser Größe jedenfalls nicht.
Da es sich um eine Fremdsprachenschule handelt, wird neben dem Unterricht der verpflichtenden Unterrichtsfächer in China auch Fremdsprachenunterricht angeboten. Es können Japanisch-, Englisch-, Französisch-, Russisch- und auch Deutschkurse gewählt werden. Die Deutschklasse, der ich zugeteilt bin, besteht bisher nur aus 15 Jugendlichen. Bedauerlicherweise gibt es an der Schule nur eine Deutschlehrerin (sie ist übrigens Chinesin, die Germanistik in China studiert hat), obwohl die Nachfrage deutlich größer ist. Die Schule sucht aktuell dringend Deutschlehrkräfte, die Lust haben hier zu lehren. Interessierte können sich also gerne bei mir melden – Ich bin mir jedoch sicher, dass ICH erst einmal zurück nach Deutschland komme ;)
Zum Schulcampus gehört ein Sportstadium für 3000 Gäste, mit einer eigenen 400 Meter Laufbahn und einem Fußballplatz. Außerdem gibt es noch ein Freibad, Volleyball-, Tennis-, und Basketballplätze. Ach ja, und zwei riesengroße Turnhallen sind auch noch vorhanden. Für etwaige Krankheitsfälle befindet sich auch noch eine eigene Schulklinik mit extra angestellten Schulärzten auf dem Campus. Ebenso gibt eine eigene Wäscherei.
Frühmorgens vor Schulbeginn, während der wenigen Pausen, und spät abends nach Schulschluss, öffnet zudem immer der schuleigene Supermarkt, in welchem sich die Schülerinnen und Schüler, oder auch ich, mit Snacks versorgen können. Leider gibt es in diesem Laden ausschließlich „ungesunden Kram“, wie Chips, Kekse oder Cola. Meine Suche nach frischen Obst musste ich frustriert nach den ersten Tagen aufgeben. Ich kaufe hier täglich eigentlich nur Joghurt, der hier in China übrigens viel süßer ist und nicht gegessen, sondern getrunken wird. Das war wirklich eine ganz schön komische Situation für mich, als ich das erste Mal den Tetra Pak öffnete, mit meinem Löffel den extrem flüssigen Joghurt aß und mir die Lehrerin einen Strohhalm reichte. In diesem Punkt bin ich mir jedoch treu geblieben, ich trinke immer noch nicht, sondern löffele weiterhin ;)
Von Montag bis Freitag ist es für die Schülerinnen und Schüler verboten, den Campus zu verlassen. Sicherheitsmänner bewachen 24 Stunden am Tag alle Ausgänge der Schule – selbstverständlich auch vor ungebetenen Eindringlichen. Ich besitze eine Art Chipkarte, mit der ich zu jeder Tages- und Nachtzeit ein- und ausspazieren kann. Wie ist gehört habe, ist dies für chinesische Lehrkräfte und auch andere SCHULWÄRTS!-Praktikanten nicht immer möglich. Vielmehr gelten Ausgehzeiten bis maximal 22 Uhr. Glück gehabt!
Für Lehrkräfte, die mit dem Auto morgens zur Schule anreisen, gibt es übrigens noch eine eigene Waschanlage auf dem Gelände sowie eine Aufladestation für stromfahrende Autos. Hier in Shenzhen fahren selbst die öffentlichen Busse ausschließlich mit Strom.
Es gibt drei Schülerwohnheime auf dem Schulgelände. In diesen teilen sich die Jugendlichen zu sechst ein kleines Zimmer mit Bad. Ja, ich dachte zunächst auch, dies seien viele zu viele in einen Raum. Man muss aber auch bedenken, dass die Jugendlichen zu einem sowieso den gesamten Tag im Klassenraum oder auf dem Sportplatz sind. Zu anderen habe ich das auch Gefühl, dass hier eine ganz andere Definition von Privatsphäre gilt.
Ich lebe, genau wie die anderen Lehrkräfte, in einem kleinen und einfach möblierten Zimmer in einem Gebäude etwas abseits der Schülertrakte. In diesem kleinen Raum habe ich es mir mittlerweile schon etwas gemütlicher gemacht. Das Einzige was mir wirklich fehlt ist ein Kühlschrank. Bei Tagestemperaturen von mindestens 28 Grad (nachts wird die 24 Grad Marke nicht unterschritten), lohnt es sich leider auch nicht, einige Dinge draußen auf dem Balkon zu lagern. Da ich sowieso so einige Probleme mit dem chinesischen Essen habe, wäre es schön, einige frische Lebensmittel, wie Obst, Gemüse oder Joghurt Zuhause lagern zu können.
Normalerweise ist es aber auch gar nicht nötig, sich um eigene Mahlzeiten kümmern. In den Schüler- und Lehrerkantinen, die getrennt voneinander sind, gibt es traditionell chinesisches Frühstück, Mittag- und Abendessen. Die Qualität der Gerichte ist für mich zwar schwer abschätzbar, da sich die vegetarischen Optionen auf wenig beschränken. Wenn ich das aber anhand der Menge auf den Tellern sowohl bei den Schülerinnen und Schülern, als auch bei den Lehrkräften bewerten müsste, würde ich sagen es schmeckt außerordentlich gut. Ich frage mich wirklich immer, wie sie es schaffen, solche Haufen von Reis, Kohl und Fleisch in so einer kurzen Zeit zu essen – und das auch noch mit Stäbchen!
Das Verständnis von Schule
Als ich das erste Mal das Motto der Schule las, war ich wirklich überrascht. Wie kann denn bitte „Schönheit“ ein anzustrebendes Ziel einer Schule sein?!
Nachdem ich mich jedoch genauer informiert habe, wurde mir mitgeteilt, dass es wohl schlichtweg ein Übersetzungsfehler der chinesischen Zeichen ins Englische sei. Nach Angaben der Schulleitung zeichnen sich die Fremdsprachenschule und ihre Schülerinnen und Schüler durch Ehrgeiz, Wahrheit und Zielstrebigkeit aus. Die Schule möchte die Kinder und Jugendlichen zu gebildeten und kultivierten Menschen erziehen, die einerseits globale Visionen verfolgen sollen, andererseits „das chinesische Herz“ für immer in sich tragen. Sie zielen ab auf ein...
internationales Verständnis, eine Vermittlung von Moral durch eine lebensnahe Erziehung, das Beibehalten von Sinologie und Patriotismus!
Der Schulalltag
Wie das Leben und der Unterricht an der Fremdsprachenschule Shenzhen so richtig sind, kann ich nur erahnen. Da es mich aber wirklich interessiert, wie die Schülerinnen und Schüler die langen Tage wahrnehmen, was sie genau machen und was für eine Sicht sie auf die Schule haben, werde ich einige „Kids“ bald mal persönlich befragen und davon in einem weiteren Eintrag berichten.
Trotzdem glaube ich, den Ablauf jeden Tages meiner Schülerinnen und Schüler bisher einigermaßen gut zu kennen. Dieser ist wirklich in gar keinem Fall zu vergleichen mit dem unseres Schulsystems.
Ich denke ich werde ich in den kommenden Wochen meine Sichtweise über die Schule in China nochmals ändern und ich hoffe noch an viel mehr Insiderinformationen zu geraten. Solange soll dieser Überblick aber erst einmal ausreichen:
06:15 Uhr:
Der Wecker klingelt, das heißt über die riesigen Lautsprecher der gesamten Schule laufen mal mehr, mal weniger sanfte Klänge zum Aufwachen.
07:20 Uhr:
Offizieller Unterrichtsbeginn. Davor wurde bereits gefrühstückt und ein paar Bahnen auf der Sportbahn gelaufen.
09:20 Uhr:
Die Musik ertönt mal wieder über den gesamten Schulhof. Shakiras Song „Waka Waka“ ertönt. Wenn die letzte Sekunde des Songs abgespielt ist, müssen es alle bis zu den Basketballfeldern geschafft haben. Es ist Zeit für die Morgengymnastik. Zentimetergenau stehen die Jugendlichen nun hinter- und nebeneinander aufgereiht und befolgen Anweisungen, die sie von einem Mann vor ihnen über ein Mikrofon erhalten. Sie bewegen sich nach rechts und links, drehen und kreisen ihre Arme.
09:45 Uhr:
Frisch und aktiv geht es weiter mit dem Unterricht.
11:45 – 12:30 Uhr:
Zeit für das Mittagessen. Anschließend wandern die Jugendlichen scharenweise zum Minimarkt und decken sich mit Süßem, Cola, Trockenfleisch und Eis für die Mittagspause ein.
13:00 Uhr:
Ab jetzt herrscht komplette Totenstille an der Schule. In den Zimmern soll jetzt geschlafen werden. Selbst die Lehrkräfte gehen in ihre Zimmer, oder stellen ihre Klappbetten im Klassenzimmer auf, packen ihre Bettdecken aus der Plastiktüte und machen ein Nickerchen. Schließlich ist der Tag noch längst nicht vorbei!
13:45 Uhr:
Der Wecker klingelt erneut, die Schule erwacht.
14:00 Uhr:
Unterrichtsbeginn. Viele Klassen haben jetzt am Nachmittag eine Stunde Sport auf dem Sportplatz oder im Schwimmbad.
15:00 – 17:00 Uhr:
Abwechselt laufen die Klassen die pflichtmäßigen 1600m auf der Laufbahn.
17:00 – 18:00 Uhr:
Jetzt ist es Zeit zum Duschen. Die sechs Jugendlichen in einem Zimmer achten eigenständig genauestens darauf, dass keiner mehr als 10 Minuten im Bad benötigt.
18:00 Uhr:
Zeit für das Abendessen!
18:30 Uhr:
Erneuter Unterrichtsbeginn.
20:00 – 22:00 Uhr:
Selbststudium in den Klassen. Die Schülerinnen und Schüler lernen für Tests oder machen Hausaufgaben. Es herrscht absolute Ruhe. Die Lehrkräfte wandern durch die Flure.
22:00 Uhr:
Es klingelt. Schulschluss! Die letzten Snacks für die Nacht werden eingekauft.
22:20 Uhr:
Es ertönt das deutsche „Wiegenlied“. Zeit für die Nacht, Zeit zum Schlafengehen.
Wie ihr seht, dreht sich für die Schülerinnen und Schüler von Montag bis Freitag alles nur um die Schule. Für das Ausprobieren verschiedener Hobbies oder für ein bisschen Chillen mit Freunden in der Freizeit bleibt hier keine Zeit. Auch am Wochenende gibt es einen Batzen Hausaufgaben für die nächste Schulwoche zu erledigen. Die Jugendlichen sagen selbst, dass sie eigentlich nur lernen. Wenn sie dann mal am Wochenende Zeit haben, verbringen sie diese mit der Familie, shoppen online oder spielen mit dem Handy. Die Benutzung des Handys ist hier nämlich strengstens verboten! Stellt euch mal Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland ohne Handy vor – kaum denkbar, oder? Hier völlige Normalität.
Wie meine Arbeit an der Schule aussieht, wann und wie lange ich arbeite und wie ich mich mittlerweile fühle, schreibe in einem weiteren Blogeintrag.
Auf jeden Fall überdenke ich schon nach vier Wochen beinahe täglich mein bisheriges Konzept von Schule allgemein, obwohl China definitiv eine Parallelwelt für mich darstellt, in der all das erlaubt zu sein scheint was in unserem Leben in Deutschland kaum vorstellbar wäre.
Wenn ich sehe, dass die Schülerinnen und Schüler morgens schon um 6:30 Uhr auf der Bahn laufen und ich das Privileg habe, nochmals kurz die Augen schließen zu dürfen und daran denke wie der Alltag deutscher Schüler aussieht, fange ich an nachzudenken. Nein, ich denke nicht an das Ungleichgewicht, oder stelle mir die Frage nach Fairness, frage mich nicht, welches Schulsystem wohl besser ist. Mir wird dabei einfach nur bewusst, dass jeder von uns in seiner ganz eigenen Gewohnheit lebt und diese als Normalität betrachtet. Einmal ein Schritt aus seiner ganz eigenen Sicherheitszone zu wagen, kurz oder länger erschrocken zu sein und dann doch festzustellen, wie gut andere Gewohnheiten sind, ist für mich gerade genau das Richtige. Woher soll ich schließlich wissen, was mir gefällt, was nicht, wie ich arbeiten oder auch leben möchte?
Das Unterrichten in China gibt mir jedenfalls unglaublich viel Mut für mein kommendes Referendariat in Deutschland und meinen Beruf als Grundschullehrerin. Erstens kann mich, bezogen auf den schulischen Kontext, glaube ich so schnell nichts mehr umhauen. Zweites möchte ich unbedingt den Kindern Spaß an der Schule, und auch am Lernen vermitteln.
Es geht natürlich nicht darum, das Konzept und die Disziplin chinesischer Schulen in meinem Unterricht zu implementieren. Vielmehr geht es um das Verständnis. Die Schule wird hier als positiver und enorm wichtiger Teil des Lebens betrachtet – und nicht als eine Zeit, die man einfach irgendwie überstehen muss!