Blogeintrag 4
Szenen aus dem Schulalltag

Das Schüler-Lehrer-Verhältnis

Das Verhältnis zwischen Lernenden und Lehrenden wirkt deutlich enger als in Deutschland, was aber auch daran liegen kann, dass es sich bei meiner Schule um ein Internat handelt und die Kinder von früh bis spät im Kontakt mit den Lehrenden stehen. Spontane Umarmungen sind keine Seltenheit, auch in Jahrgang sieben. Generell gibt es wenig räumliche Abschottung zwischen Lehrern und Schülern – offene Lehrerzimmer, keine Lehrertoiletten (auch der Schulleiter geht auf das Jungsklo der siebten Klassen), und gemeinsames Essen in der Schulmensa, wenn auch an Tischen, die etwas abseits stehen. Insbesondere die Grundschüler kommen aber gern herüber und erschrecken oder ärgern ihre Lehrer. Ich finde es schön und gleichzeitig überraschend, dass es keine „exklusiven“ Lehrerbereiche gibt. Dennoch hat man dadurch manchmal wenig Rückzugsmöglichkeiten, insbesondere als ausländische Lehrerin, die gerne mal belagert wird.

Offene Lehrerzimmer

Überrascht hat mich das offene Lehrerzimmer. Ich habe dort schon einige Situationen erlebt, die eher als Grenzüberschreitung in Deutschland gelten würden. Die Schüler können relativ frei im Lehrerzimmer ein- und ausgehen (es gibt für jeden Jahrgang eigene Lehrerzimmer). Meistens gibt es zwar einen Grund, wie das Abholen von Büchern oder ein nachträgliches Abfragen von Englischvokabeln, aber es ist häufig der Fall, dass zumindest eine kleine Gruppe an Schülern im Raum ist. Einige von ihnen hängen den am Schreibtisch sitzenden Lehrern praktisch über der Schulter und gucken auf die Laptops. Neulich habe ich zudem beobachtet, wie drei Schüler etwas auf dem Schreibtisch eines Lehrers während seiner Abwesenheit gesucht haben. Dass das Lehrerzimmer so offen zugänglich ist und die Schüler es auch scheinbar eher als öffentlichen Raum wahrnehmen, sehe ich als starken Kontrast zu deutschen Lehrerzimmern. Hui bat in einer Unterrichtsstunde einen Schüler, ihr Handy aus der Schublade ihres Schreibtisches zu holen. Auch das kann ich mir in Deutschland kaum vorstellen. Anscheinend besteht ein großes Vertrauen zwischen Schülern und Lehrern, andererseits berichtete Hui auch schon von Diebstählen aus dem Lehrerzimmer und den Rucksäcken der Lehrer.

Deutschunterricht zwischen Anspruch und Realität

Im Zwischenseminar in Peking wurde noch einmal bekräftigt, dass die Unterrichtssprache die Zielsprache (also Deutsch) sein soll. Das ist für mich erstmal nichts Neues, da es auch in der Englischdidaktik oberstes Gebot ist, dass im Englischunterricht nur Englisch gesprochen wird. In der Realität sind Übersetzungen ins Chinesische aber gang und gäbe. Da die Schüler aus ihrem Englischunterricht größtenteils nichts anderes gewohnt sind, sind große Augen und eine Art Schockstarre die Folge, wenn keine Übersetzung geliefert wird. Dennoch versuche ich, den Chinesischanteil klein zu halten, was in einigen Klassen auch gut gelingt in anderen aber eher schwer bei Hui durchzusetzen ist.
 
  • So sieht Unterrichtsvorbereitung aus: Hauptsache viele Bilder © Paula Keller

    So sieht Unterrichtsvorbereitung aus: Hauptsache viele Bilder

  • Beim Thema Frühstück musste ich feststellen, dass ich ein deutsches Frühstück schon etwas vermisse © Paula Keller

    Beim Thema Frühstück musste ich feststellen, dass ich ein deutsches Frühstück schon etwas vermisse

  • „Bildet eine Gruppe!“ Der Versuch, auf chinesisch zu verzichten © Paula Keller

    „Bildet eine Gruppe!“ Der Versuch, auf chinesisch zu verzichten

Letzten Freitag habe ich zum ersten Mal zwei Stunden allein unterrichtet, weil Hui mit zwei Schülerinnen auf einer Deutscholympiade in Xi’an war. Zum Teil habe ich ein bisschen auf Englisch zurückgegriffen, aber im Grunde alles auf Deutsch erklärt. Während es in der einen Klasse reibungslos funktionierte, war die Unruhe in der zweiten (generell eher lauten Klasse) deutlich größer, wobei das Thema Farben ja durchaus anschaulich ist und man relativ leicht ohne Übersetzung auskommen kann. Was ich immer noch eher befremdlich finde, ist das Vorsagen von Wörtern und das chorische Wiederholen dieser von der ganzen Klasse. Manchmal kürze ich diesen Part unbeabsichtigt ab, aber Hui bremst mich dann aus und lässt die Schüler das Wort mindestens dreimal wiederholen. Die Schüler sind aber generell unsicher, was die Aussprache angeht, und sagen dann im Zweifel lieber gar nichts sagen. Auch wenn sie einfache Sätze bilden sollen wie „meine Lieblingsfarbe ist...“, muss/wird dieser Satz lange „geprobt“ bis die Schüler sich trauen, ihn anzuwenden. Das in Deutschland vorherrschende Motto im Fremdsprachenunterricht „fluency before accuracy“ gilt hier eindeutig nicht – eher das Gegenteil ist der Fall. Was dazu führt, dass die Schüler eben nicht besonders fließend Englisch sprechen. Mit sogenannten „Oral English“-Stunden, die dann meist von Muttersprachlern übernommen werden, wird versucht, etwas gegenzusteuern. Aber die restlichen Stunden wird von den chinesischen Englischlehrern viel Grammatik gelehrt. Als ich Hui erklärte, dass man in Deutschland eher wert darauf legt, dass man erfolgreich kommunizieren kann (das ist ja schließlich Ziel des Lernens einer Fremdsprache) und man dafür kleinere Grammatik- oder Aussprachefehler hinnimmt, erwiderte sie, dass man so ja aber keine guten Tests schreibt. Wenn diese dann auch noch über die weitere Schullaufbahn entscheiden, ist es natürlich klar, wo hier der Fokus liegt.

Ebenfalls eher ein No-Go in deutschen Klassenzimmern sind wettbewerbsorientierte Unterrichtsformen, während kooperative Formen stark gefördert werden. Hier dagegen läuft eigentlich alles über den Wettbewerbsgedanken. Innerhalb der Klasse sind die Schüler einzelnen Gruppen zugeordnet, für die sie durch gute Antworten oder schlechtes Benehmen Punkte sammeln oder verlieren können (erinnert mich ein bisschen an Harry Potter und die Strafpunkte bzw. Pluspunkte für das ganze Haus). Auch meine Gastgeschenke wie Gummibärchen wurden nicht an alle verteilt, sondern als Belohnung für die zwei bis drei besten Schüler einer Stunde eingesetzt. Zugegeben: Mein Gummibärchenvorräte hätten 9 mal 50 Schüler auch weit überstiegen, trotzdem hätte ich am liebsten jedem eines gegeben. Die Größe der Klassen ist auch immer wieder DAS Argument, warum vieles nicht geht. Gummibärchen für jeden? Zu viele Schüler. Ein Arbeitsblatt für jeden? Zu viele Schüler (mein Osterkreuzworträtsel musste zu zweit bearbeitet werden und zudem anschließend wieder ausradiert werden, damit die Zettel noch für die weiteren 8 Klassen reichen). Kooperative Unterrichtmethoden? Zu viele Schüler. Das Schaffen von Sprechanlässen gestaltet sich tatsächlich als schwieriger – aber nicht unmöglich. Der Versuch eines Kugellagers endete eher im Chaos, was auch daran lag, dass die Lernenden sich zum Teil weigerten, mit ihrem Gegenüber zu sprechen und sich immer ihren Freunden zuwandten. Auch bei Gruppenarbeiten stößt man an Grenzen. Da das Drucken und Kopieren an der Schule nur eingeschränkt möglich ist, hatte ich für eine Gruppenarbeit acht „Legespiele“ vorbereitet, die in Gruppen. á ca. sechs Schülern bearbeitet werden sollten, was schon grenzwertig war, allein vom Platz um die einzelnen Tische. Gleich in der ersten Klasse gab es aber 54 Lernenden, was die Gruppen nochmal vergrößerte. Dazu kam, dass die kleinen Zettel, die auf dem Tisch in die richtige Reihenfolge gebracht werden sollten, durch die vielen Ventilatoren in der Klasse ständig wegflogen und diese nach Einsätzen in drei verschiedenen Klassen schon arg ramponiert aussahen, aber ja noch deutlich mehr Einsätze vor sich hatten. Deswegen habe ich Hui zu DEM Lehrergadget schlechthin überredet: einer Laminiermaschine. Diese ist auch schon angekommen und wir haben schon erste Testobjekte laminiert. Die nächste Materialproduktion kann kommen!
 
  • Unterrichtsvorbereitung Teil 2: Schulsachen © Paula Keller

    Unterrichtsvorbereitung Teil 2: Schulsachen

  • Nächstes Level: Schulsachen und Farben © Paula Keller

    Nächstes Level: Schulsachen und Farben

  • Das Lehrerklischee schlechthin: Die Laminiermaschine © Paula Keller

    Das Lehrerklischee schlechthin: Die Laminiermaschine

Auf der Suche nach der Motivation

Pubertät ist, wenn der Wettbewerb nicht mehr greift. Dann werden Punktabzüge nur noch schulterzuckend hingenommen und Preise als Anreiz ignoriert. Erschwerend hinzu kommt aus meiner Sicht der Stellenwert von Deutsch für die Schülerinnen und Schüler. Sie haben lange Schultage mit Abendunterricht, häufig auch am Wochenende noch Privatunterricht und am Ende der Mittelschule die erste wegweisende Prüfung, die bestimmt, auf welche Oberschule sie gehen können. Da ist es durchaus verständlich, wenn einige Schüler abschalten, anstatt eine Sprache zu lernen, die sie sich nicht ausgesucht haben, die nur ein Jahr lang angeboten wird und die noch dazu ohne eine für sie bedeutende Prüfung abschließt. Zwar gehen sie auf eine Fremdsprachenschule, die dazu von den Eltern teuer bezahlt wird, allerdings erschöpft sich das Sprachangebot momentan in Englisch ab Klasse 1 und Deutsch ausschließlich in der 7. Klasse. Auf unserem Zwischenseminar in Peking, in dem unter anderem Motivationsprobleme und schlafende Schüler Thema waren, habe ich auch andere Modelle kennengelernt. Wie zum Beispiel die Wahl der zweiten Fremdsprache, sodass neben Deutsch auch Japanisch, Spanisch, Französisch usw. anwählbar waren. Das führt zu kleineren Klassen und motivierteren Lernenden. Natürlich habe ich auch viele interessierte und engagierte Schüler in meinem Unterricht – aber eben auch welche, die die Zeit lieber zum Schlafen nutzen. Allerdings werden sie meistens wieder aufgeweckt.

Das Klischee der disziplinierten chinesischen Schüler

Mangelnde Motivation und hoher Leistungsdruck äußern sich nicht nur in verschlafenen Stunden sondern auch in „klassischen“ Unterrichtsstörungen, wie Quatschen, Streit mit dem Sitznachbarn oder Arbeitsverweigerung. Bei über 50 Schülern im Raum können auch leise geführte Gespräche zu einer durchaus lauten Geräuschkulisse anwachsen. Was einige Schüler nicht davon abhält, sich direkt in normaler Lautstärke zu unterhalten. Das Stören im Unterricht wird meist mit einem Punktabzug für die Gruppe geahndet. Lassen sich die Störer davon nicht beeindrucken, müssen die jeweiligen Schüler für den Rest der Stunde stehen. Zum Teil werden Schüler auch zum Rapport ins Lehrerzimmer zitiert und in einigen Fällen die Eltern informiert und das Verhalten ihrer Kinder besprochen. Das gemeinsame Fazit kann jedoch auch „Kapitulation“ heißen. In Klasse 70 – die ohnehin bereits den Ruf als „Horrorklasse“ im Lehrerzimmer genießt (laut Hui bekommen alle Lehrer Kopfschmerzen von Klasse 70) – saßen diese Woche im Deutschunterricht drei Jungen, die irgendwie beschließen konnten, „nicht mehr zu lernen“. Sie hatten keine Bücher und bekamen auch kein Material während der Stunde, sie sitzen nun anscheinend offiziell ihre Zeit ab. Nach der letzten Stunde in Klasse 70 stöhnte Hui, dass die Schüler in Deutschland ja viel disziplinierter seien, was ich so jetzt auch nicht unterschreiben würde. Bezeichnenderweise wurde ich neulich im Bus von einer Schülerin der Nanfang Oberschule am anderen Ende der Stadt (wo ich die zwei anderen Deutschpraktikanten besuchte) gefragt, ob ich den Unterricht „very difficult“ finde, nachdem ich erklärte, dass ich Lehrerin an der Mittelschule bin. Zuerst wusste ich nicht genau, was sie damit meinte, aber dann sagt sie, dass in der Mittelschule viele „naughty“ seien. „The teachers did not know what to do with us“.

Highlights: ein paar Brocken Deutsch

Auch wenn das Deutschniveau allgemein sehr niedrig ist, freue ich mich natürlich immer, wenn die Lernenden doch ein paar Deutschbrocken präsentieren. Offensichtlich haben die Gummibärchen aus der ersten Stunde nachhaltigen Eindruck hinterlassen. So rief ein Schüler neulich lauthals „Gummibärchen!“, als ich eine Dose mit farbigen Zetteln mit in den Unterricht brachte. Auch ein paar Siebtklässlerinnen, die ich im Bus in der Innenstadt traf, probierten sich an ein paar Sätzen und erklärten „Ich mag Schokolade“ (die Lernenden merken sich offensichtlich nur die wichtigen Vokabeln...). Da die Lernenden häufig „bye bye“ sagen (existiert in Form von „baibai“ auch schon im Chinesischen), habe ich versucht, „Tschüss“ zu etablieren. Dabei hat mich Hui darauf hingewiesen, dass „Tschüss“ dem chinesischen 去死 (qù sǐ) sehr ähnlich ist, was wörtlich „geh sterben“ heißt und im übertragenen Sinne so etwas bedeutet wie „Fahr zur Hölle!“. Die Lernenden würden diese Ähnlichkeit aber eher witzig finden und so habe ich auf den Fluren jetzt schon häufiger „Tschüss“ gehört.

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