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Auslandspraktikum Last Minute

Es ist Mitte Oktober. Die vergangenen Monate – ja eigentlich nahezu fast das ganze Jahr 2016 – waren hauptsächlich von einem allumfassenden Thema geprägt: dem Staatsexamen. Es galt, die Zulassungsarbeit zu schreiben und – in meinem Fall – auf irgendeinem Weg die Prüfungen in Schulpädagogik, Soziologie, Politik und in den Didaktiken der Fächer Sozialkunde, Deutsch, Geschichte und Kunst zu „überleben“.
 
Ich hatte lange Nächte und die Bibliothek war meine neue Heimat. Da blieb wenig Zeit für anderes. Samstags und auch ab und an unter der Woche noch ein bisschen jobben (in München lebt es sich ja nicht gerade für lau) und bei Zeiten noch die Heimreise in meine Heimatstadt Magdeburg einplanen (das Leben von Familie und Freunden dort geht schließlich weiter, sie werden 50, kriegen Kinder, wechseln Jobstellen oder Beenden ihre Studiengänge etc.). Nun gut. Es gab jedenfalls – wenn man so sagen möchte – genügend Beschäftigung und wenig Langeweile.
 
Was kommt nach dem Studium? Für mich ist klar: Ab ins Ausland!
 
Wenn ich dann aber mit Kaffee und Schnitte vor der Bibliothek saß und gerade mal nicht darüber nachdachte, in letzter Minute doch noch alles hinzuschmeißen, drängte sich immer wieder diese eine Frage auf: Was machst du danach?
 
Durch das Lehramtsstudium hat man an und für sich das Glück (oder auch Pech, wie man’s nimmt), eigentlich ungefähr zu wissen, welcher spätere Beruf damit angestrebt wird (ganz abgesehen davon, dass es auch viele andere Möglichkeiten gibt). Gerade in den letzten Jahren hatte ich wenig Zweifel daran, den richtigen Studiengang gewählt zu haben. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen macht mich glücklich und mein Leben schöner. Ich wusste also, dass ich auch nach meinem Studium unbedingt dieser Tätigkeit nachkommen wollte. Ich hatte einen neuen „guten“ Grund (jeder kennt sie wohl: diese „guten“ Gründe), die Lernsachen einmal kurz zur Seite zu legen und im großen World Wide Web auf die Suche nach Möglichkeiten für ein Praktikum zu gehen. Am besten als Lehrer. Am liebsten im Ausland.
 
Meine Voraussetzungen waren nicht die Besten: Ich bin keine schlechte Studentin, aber gehöre auch nicht zu jenen, die ausschließlich Einser schreiben. Neben dem Studium habe ich anstatt häufiger in das ein oder andere Buch zu schauen, eher noch zwei Jahre mit meiner lieben Freundin Judith beim Projekt „Schule für Alle“ mitgearbeitet und auch sonst versucht, so viel wie möglich an Praxiserfahrungen zu sammeln.
 
Natürlich hätte ich sicherlich auch sonst verschiedene Zeitfenster in den sechs Jahren häufiger für einen „Bibtag“ nutzen können, aber ich bin ein sehr geselliger Mensch. Ich brauche meine Freunde um mich herum. Brauche ein WG-Abendessen mit so viel Spätzle, dass mir der Bauch platzt, ein „Ich-analysiere-bis-ins-kleinste-Detail“-Gespräch an der Isar, das dahin fliehende Zeitgefühl, wenn man einmal mehr im Café verweilt, einen Theaterabend, oder zwei, drei, vier und all sowas.
 
Beauvais, Bordeaux und Istanbul haben mich inspiriert
 
Aber zurück zum Thema. „Schule für Alle“. Judith. Ausland. Judith, die ich 2012 über das Projekt kennenlernte, machte so ziemlich all das, was ich mir immer gewünscht hatte. Nach dem Abi ging sie nach Frankreich und arbeitete als Au-pair und während unserer Freundschaft lauschte ich dann immer wieder spannenden Geschichten von ihren erneuten Auslandserfahrungen: hier als Fremdsprachenassistentin in Beauvais (ein Ort mit einer sehr schönen Kirche), da ERASMUS in Bordeaux und zum Schluss dann noch ein SCHULWÄRTS!-Praktikum in Istanbul. Es war toll. Ich war begeistert. Ich hätte ihr Stunden zuhören können.
 
Auch ohne umfassende Kenntnisse der jeweiligen Landessprache ist ein Auslandsabenteuer möglich
 
Ich bin kein neidischer Mensch. Ich freue mich über jede tolle Erfahrung, die meine Freunde machen, sehr. Doch das kleine Mädchen in mir dachte sich: „DAS WILL ICH AUCH. JETZT. GLEICH. SOFORT.“ Das kleine Mädchen hatte dabei nur eine Sache übersehen: Judith spricht ein 1a-Französisch und studiert es auch. Und Sprachkenntnisse sind für einen Auslandsaufenthalt von Vorteil. Hab ich gehört. Das mit der Fremdsprachenassistenz klappte nicht. Was nun? „Was war das nochmal in Istanbul? Du sprichst doch kein Türkisch?“ Judith ist wirklich für viele Überraschungen gut, aber irgendwann ist dann auch mal Ende im Gelände. Sie erklärte mir also, wie das mit dem Goethe-Institut und SCHULWÄRTS! so abläuft.
 
Irgendwie hatte ich mich in all dem Wirrwarr von Staatsexamen und Co. zwischendurch noch für ein Auslandsjahr in Namibia beworben. Und nachdem alles so aussah, als würde das wirklich klappen, habe ich mögliche Ausreisevorhaben erstmal  hinten angestellt und mich wieder mehr auf das Examen konzentriert. Bei einem Besuch in Magdeburg erzählte ich meiner Freundin Victoria – neuerdings treffen wir uns von Zeit zu Zeit zwischen Babybrei und Trinkflasche – dass ich mir durchaus vorstellen könnte, wenn ich aus Namibia zurück bin, nochmal ins Ausland zu gehen. Die Ukraine. Oder so.
 
In die Ukraine? Dort ist doch Krieg!
 
Es gab Unterstützung, aber wenig Verständnis. „Du sprichst doch gar kein Russisch,“ hatte sie gesagt. „Außerdem ist dort doch Krieg,“ hatte sie gesagt. „Ich habe dich lieb, aber manchmal bist du doch ein bisschen komisch,“ hatte sie gesagt.
 
Und damit war das Thema auch eigentlich erstmal vom Tisch und wir widmeten uns Kinderbüchern. Und da ist er wieder. So einer dieser Momente: Das bin noch nicht ich. Ich will noch so viel erleben. Kinder? Ja! Familie? Ja! Aber bitte erstmal die Welt.
 
Der Gedanke ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ich suchte nach dutzenden Möglichkeiten, um auf einem weiteren Weg ins Ausland gehen zu können. Nach so einem „Ich-analysiere-bis-ins-Detail“-Gespräch mit einer Freundin war dann auch klar, dass Au-pair oder Work and Travel in Australien zwar ganz tolle Projekte sind, ich aber dennoch gerne schon als Lehrerin arbeiten oder zumindest in der Schule tätig sein wollte. Aber wie?
 
Schicksalsmail vom Goethe-Institut
 
Und dann kam sie wie ein Schicksalsbote in mein Postfach geflattert. Die Mail mit dem Betreff „Last-Minute-Auslandspraktikum“ in Zusammenarbeit mit dem Projekt SCHULWÄRTS! vom Goethe-Institut (davon hatte ich ja schon gehört). Ich hatte nicht viel Zeit zum Überlegen (aus oben beschriebenen Gründen). Erstmal bewerben. Dann sehen, was passiert.
 
Und dann passierte alles schneller als gedacht. Bewerbung. Zack. Ein Wochenende voller Überlegungen zu Unterrichtskonzepten. Zack. Zusage. Zack. Fassungslose Freude. Zack. Ausreiseseminar. Zack. Ukraine.
 
Von absoluter Überzeugung...
 
Die Ukraine also. Ich rief meine Eltern noch während des Ausreiseseminars an. Mein Papa versuchte noch in letzter Minute alles einzuwerfen, um mich davon abzuhalten. Erfolglos. Die Reaktionen, wenn ich erzählte, dass es in die Ukraine gehen würde, waren eher – sagen wir, um es schön auszudrücken – verhalten.
 
„Wieso jetzt Ukraine?“
„Was ist mit Russland?“
„Wohin genau? Aber das ist doch gleich da, wo der Krieg ist!“
 
Krieg. Krieg. Krieg. Ein Wort, was ich immer wieder hörte. Wenn mein Handy blinkte, waren es nahezu bei jedem dritten Mal wieder irgendwelche von vor zwei Jahren hervorgekramten Zeitungsartikel, die den Menschen in Deutschland die Situation in der Ukraine erklärten. „Danke. Habe ich schon gelesen.“ wurde zu meinem „Copy and Paste“-Satz.
 
...zu absolutem Zweifel
 
Irgendwann, nachdem der ganze Examensprüfungswahnsinn ein bisschen abfiel, saß ich  abends auf dem Balkon. Baumelte mit meinen Beinen von links nach rechts. Sagte nichts. Mein Mitbewohner verstand alles. „Sabrinchen. Mach dir keine Sorgen – das wird toll, spannend, aufregend und all sowas. Ich beneide dich sogar ein bisschen. Ein Abenteuer. Du fährst in ein Land, das kaum jemand von uns bereist hat oder bereisen wird“. „Aber die Sprache. Oder wenn doch. Und überhaupt. Krieg?“ Linus sagte nichts, lächelte mich an, nahm mich in den Arm. Und. Ich. Verstand. Alles.
 
Auf geht’s also in ein Land, das kaum jemand bereist hat und über das doch so viele Meinungen existieren.

Ich in Kiew
Ich in Kiew | © Sabrina Bank

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