Blog #4
HERZLICH willkommen!
Nach diesem tollen und spannenden Wochenende in Kiew machte ich mich mit dem Zug auf den Weg nach Charkiw. Die Sonne strahlte an diesem Sonntag aus ganzer Kraft. Ich verließ das Seminar etwas zeitiger, um noch rechtzeitig zum Bahnhof zu kommen. Im Metrofahren hatte ich mich ja schon am Wochenende geübt (ohne auch nur ein Wort zu verstehen). Aber schließlich habe ich einen Verkehrsingenieur zum Papa, den ich nicht enttäuschen wollte. Ich nehme diese Tatsache naiver Weise immer als Grund dafür an, dass ich mich schon mit jeglichem Nah- und Fernverkehr arrangieren könne. Nicht ganz zu Recht, wie sich bald herausstellen sollte.
Lachen und Winken
Da war ich nun. Ganz allein in dieser riesigen Bahnhofshalle. Ich hatte noch keine ukrainische Handynummer und auch kein WLAN oder ähnliches, was mir vielleicht hätte helfen können. Ich schaute auf mein Bahnticket. Ich verstand nicht ein Wort. Ich stand da mit einem schweren Rucksack, einem Koffer, drei Tüten sowie einer Flasche Wasser in der einen und dem Ticket in der anderen Hand und…LACHTE. Ich lachte einfach. Hätte ich eine Hand frei gehabt, hätte ich mir an den Kopf gefasst, welchen ich aber nun passend zu dem Lachen einfach nur schüttelte. Die Anzeigen auf der großen Bahnhofstafel änderten sich ständig. Aber um ganz ehrlich zu sein, war das auch nicht ausschlaggebend für meine ohnehin große Verwirrung, denn ich konnte ja eh nichts verstehen.
Durchatmen. Das ist das Gute, wenn du allein bist. Es muss weiter gehen. Und es wird weitergehen. Irgendwie wirst du das schaffen. Einfach, weil du es schaffen musst. Ich quatschte also – nachdem der Versuch an der Bahnhofsinformation scheiterte – jeden Menschen an, der mir über den Weg lief und wedelte mit dem Ticket in der Hoffnung, dass mir jemand erklären könne, zu welchem Gleis ich müsse. Mein Gegenüber wedelte jeweils nur mit dem Kopf. Bis dann ein – mir etwas merkwürdig erscheinender Mann – vor mir stand (und das sage ich, wo doch jeder, der die letzten Zeilen aufmerksam gelesen hat, wissen müsste, dass ich in diesem Moment wohlmöglich auch nicht gerade seriös erschien).
Manchmal braucht man einfach mehr Glück als Verstand.
Dieser Mann blieb nun vor mir stehen und versicherte mir, dass er wisse, wo ich hin müsse. Und das, obwohl er mein Ticket noch nicht einmal gesehen hatte. Also irgendwo hat dann auch meine Gutgläubigkeit mal ein Ende. Ich sagte „NIIIIIIIIIIIIIIET!“. Und das nicht nur einmal. Doch er blieb. Er rückte mir richtig auf die Pelle. Was für eine unangenehme Situation. Ich bekam ein bisschen Angst, packte meine Tüten und wurde schneller. Er folgte mir. Er folgte mir so lang, bis ich rannte. Ich wollte gerade alles hinschmeißen und stampfen, da die Situation so ausweglos erschien, als ich meinen Kopf nach oben neigte (um die erste mögliche Wutträne zu unterbinden), und das Bahnhofsschild erblickte. Auf diesem Schild stand „Kiew – Charkiw“.
Charkiw? Kahrkiv? Kharkov?
Ich fuhr ca. 400 Kilometer quer durch die Ukraine. Der ukrainische Schnellzug ist mit dem deutschen ICE zu vergleichen. Nichts mit auseinanderfallenden Sitzen oder ähnlichem. Ich schaute aus dem Fenster. Es gibt kaum etwas Ungewöhnliches zu berichten. Die Fahrt war quasi eins zu eins die gleiche, wie die Fahrt von München nach Magdeburg (nur um einiges günstiger).
Der Zug fuhr mich eben nur nicht von München nach Magdeburg, sondern von Kiew nach Charkiw. Oder Kahrkiv. Oder Kharkov. Keine Ahnung. Die richtige Aussprache und Schreibweise der Stadt, in welcher ich knapp drei Monate leben würde, war nur eine Unsicherheit von vielen. In Mails wird es mal so, mal so geschrieben (mittlerweile weiß ich, dass eigentlich alles richtig ist). Die Zeit verging, die Aufregung kam. Ich war wirklich nervös: „Wie wird das wohl alles werden? Die Stadt? Die Wohnung? Die Schule? Die Lehrkräfte? Und vor allem: die Schüler*innen?“
Es blieben noch 10 Minuten bis ich den Bahnhof von Charkiw erreichen würde. Ich hätte platzen können vor Nervosität. Ich stieg aus und sah im ersten Moment niemanden. Doch dann stand sie da: Tatiana Chepurna mit einem richtigen Schild aus Papier mit meinem Namen. Sie ist die betreuende Lehrkraft am Lyzeum an der Karazin-Universität, an dem ich in Zukunft sein werde. Ich war so erleichtert. Mit ihr kam die Englischlehrerin. Beide hatten ein Strahlen im Gesicht und empfingen mich ganz herzlich. Tatiana Chepurna „organisierte alles“. Ich bekam noch am gleichen Abend eine ukrainische Handynummer und Metrobahnkarte. Außerdem wurde ich darüber in Kenntnis gesetzt, dass mich am nächsten Morgen der Deutschlehrer abholen und zur Schule bringen würde.
Neue Sprachen, neuer Hund, neue Umgebung
Valera, die Englischlehrerin, brachte mich in meine neue Bleibe: die Wohnung ihrer Mama. Ihre Mama, die nur Ukrainisch und Russisch spricht, und mit der ich in Zukunft zusammen leben werde. Das wusste ich. Dass dazu aber auch ein kleiner Hund gehört, wusste ich nicht. Ich habe ein bisschen Angst vor Hunden, wenn ich sie nicht kenne. Ich konnte mich nicht entscheiden, über was ich mich mehr sorgen sollte: über die Sprache, den Hund oder die vollkommen neue und fremde Umgebung. Also entscheid ich mich einfach für: NICHTS. Das erschien mir in dem Moment am einfachsten. Ich freundete mich noch in den nächsten Stunden mit dem Hund an, trank mit der Mama gemeinsam Tee und packte aus.
Valera richtete mir mein Handy ein und half mir bei allen Fragen. Sie sollte mir auch noch in den nächsten Tagen eine große Hilfe sein, wenn es zum Beispiel um Einkaufsmöglichkeiten etc. ging. Am nächsten Morgen saß – wie versprochen – Alexey überpünktlich vor meiner Tür und ich kam erst einmal – untypisch deutsch – ein paar Minuten zu spät die Treppen runter geflitzt, bevor wir uns auf den Weg zum Lyzeum machten.
Der erste Schultag
Das Lyzeum machte gleich zu Beginn einen sehr guten Eindruck auf mich. Es liegt fußläufig etwa 20 Minuten von der Innenstadt entfernt. Abgesehen davon befinden sich in der Straße des Lyzeums zahlreiche Cafés, Restaurants, Bäcker und all sowas. Ich werde noch im Schulflur vom Direktor der Schule begrüßt. Der Direktor und auch all die anderen Lehrer*innen, die ich in den ersten Minuten schon kennen lernte, sind sehr, sehr freundlich, hilfsbereit, nett und geben mir das Gefühl, äußerst willkommen zu sein. Alexey ließ mich nicht allein und übersetzte fleißig. Und dann ging es auch schon los.
Nachdem mir Nastja, eine Schülerin der 11. Klasse, noch am ersten Tag den Weg in die Innenstadt zeigte und mich zu einigen wichtigen Sehenswürdigkeiten führte (dazu in einem anderen Blogeintrag mehr), lernte ich in den kommenden Tagen die Schüler von der 5. bis zur 11. Klasse à la Speed Dating kennen. Sie erzählten mir der Reihe nach, wie sie heißen, wie alt sie sind und welche Hobbys sie haben.
Und ich erzählte – ganz spontan – sehr viel (das fiel mir noch nie sonderlich schwer). Ich berichtete also eben Gleiches von mir und ergänzte noch ein „paar“ Details aus meiner unglaublich „langjährigen“ Lebensgeschichte, zum Beispiel, dass ich mit knapp 18 von Magdeburg (ehemals DDR und Ostdeutschland: „Kennt ihr die DDR?“) nach München („Die Hauptstadt von Bayern, dem größten Bundesland von Deutschland.“) gezogen bin, was ich studiert habe, wie das Studium für mich war, dass ich in einer WG gewohnt habe (erkläre nebenbei noch was eine WG ist), und dass ich im Olympiapark joggen gegangen bin, und dass ich meine Freunde gern zum Kaffee treffe oder zum Spätzlekochen („ein typisches Gericht aus Baden-Württemberg“) …nun gut.
Wie ich die Schüler*innen und Lehrer*innen gleich in mein Herz schloss...
Um es kurz zu fassen: den Schüler*innen und mir gingen die Themen nicht aus. Sie konnten mich alles fragen, was sie mochten. Da ich mich aber noch gut an meine Schulzeit zurückerinnern kann und genau weiß, wie das war, wenn die Lehrkraft sagte „Stellt bitte Fragen!“, probierte ich durch mein spontanes Gequassel das Eis ein bisschen zu brechen. Und den Schüler*innen fielen viele Fragen ein. Sie schrieben mir außerdem noch in der ersten Woche eine Liste mit Essen, das ich probieren müsse (was ich mittlerweile auch teilweise habe, aber auch zum Essen folgt ein Blogeintrag), welche ich immer in meinem Kalender bei mir trage, um das gegessene Essen abhaken zu können (so viel schon vorneweg: ich wurde noch nie enttäuscht). Zusätzlich gaben sie mir Reisetipps etc. Wir plauderten einfach etwas.
Soviel zu meiner ersten Woche an der Schule. Ich fühlte mich vom ersten Tag an sehr wohl. Die Schüler*innen habe ich ganz bald tief ins Herz geschlossen und das Unterrichten in den darauf folgenden Wochen bereitete und bereitet mir große Freude. Die Lehrkräfte an der Schule sind prima. Natürlich habe ich mehr mit den Deutschlehrern zu tun. Tatiana Chepurna und auch die anderen beiden Deutschlehrer nehmen sich immer Zeit für interessante Gespräche (auch abgesehen vom Thema Schule), helfen mir bei allem, wirklich allem (auch einer leeren Uhrenbatterie), geben mir sämtliche Freiheiten hinsichtlich des Unterrichtens und sind einfach toll.
Ich hätte mit meiner Schule nicht mehr Glück haben können, als ich es mit dem Lyzeum an der Karazin-Universität habe.