Blog #9
Verwirrungen des Zöglings Stefan

Wer entweder im Studium mit kulturwissenschaftlichen Fragestellungen in Berührung kam oder sich anderweitig damit beschäftigt, wird vermutlich schon vom Eisbergmodell der Kultur gehört haben. Dieses versteht Kultur, wie überraschend, als einen Eisberg, von dem lediglich die Oberfläche im gegenseitigen Austausch mit einer unbekannten Kultur sichtbar ist. Während also Kleidung, Essen oder die Sprache offensichtlich wahrnehmbar sind, bleibt vieles andere für das Auge im Verborgenen. Dazu zählen in etwa gesellschaftliche Werte und Normen, Einstellungen, Ideale sowie interpersonelle Beziehungen, so beispielsweise die Rolle der Frau. Dementsprechend spielt es überhaupt keine Rolle, wo dieser Kulturaustausch stattfindet, obwohl zweifelsohne offensichtliche Unterschiede zwischen einigen Regionen größer erscheinen mögen. Daher versuchen die folgenden Zeilen im Besonderen einige scheinbar verborgene Aspekte schwedischer Kultur zu erkunden.
 
Revision: Sauberkeit und Müllverbrauch
 

Plastiktüten im schwedischen Supermarkt © © Stefan Zielasko Plastiktüten im schwedischen Supermarkt © Stefan Zielasko
In einem meiner ersten Texte hatte ich das Erscheinungsbild des öffentlichen Raumes in Schweden hervorgehoben und die Sauberkeit samt der müllfreien Straßen gelobt. Obwohl dies auch weiterhin meine Wahrnehmung ist und ich etwa das Rauchverbot an öffentlichen Plätzen wertschätze, beschäftigt mich ein großer Irritationspunkt – der Plastikverbrauch. Theoretisch müsste man meinen, dass die Plastikflut in den Supermärkten und weiteren Bereichen des alltäglichen Lebens am heutigen Tage wahrlich kein Geheimnis mehr darstellt. Und wenngleich es nicht unbedingt einfach ist, in Gänze auf Plastik zu verzichten, können bereits kleine Veränderungen große Wirkung erzielen. Mit Blick auf die deutsche Politik lassen sich Beispiele rasch finden; so hat das Bundesumweltministerium erst kürzlich ein Verbot von Einwegplastiktüten in Supermärkten beschlossen. In meinen Augen ist das nicht nur notwendig und sinnvoll, sondern längst überfällig. Man bedenke, dass jedwedes Obst und Gemüse vor dem Verzehr sowieso gewaschen wird. Worauf ich hinaus will: Überraschenderweise scheint dieser Gedankengang in Schweden noch auf seine Vertreter zu warten. Sowohl im Obst- und Gemüsebereich als auch direkt an der Kasse laden ganze Rollen von Plastiktüten zum gemütlichen Gebrauch ein. Nicht selten beobachte ich Kunden der Supermärkte, die ihren Einkauf in 6 Plastiktüten anstatt einem Rucksack oder einem Mehrwegbeutel nach Hause tragen. You can do better, Sweden!
 
Öffentlicher Nahverkehr: Grün matters
 
Sämtliche Busse fahren in Malmö nicht nur elektrisch, sondern auch mit Strom aus erneuerbaren Energieträgern. Diese Orientierung wird dann auch farblich hervorgehoben; alle Busse sind grün. Das hervorragend ausgebaute Radwegenetz sowie die günstige Lage der Bahnhöfe in alle Richtungen Schwedens und natürlich auch nach Kopenhagen sorgen folglich für eine deutliche Reduktion des Autoverkehrs. Im Vergleich zu meinem Wohnort Erfurt, der in seiner Größe mit Malmö vergleichbar ist, ist das wirklich beeindruckend. Es zeigt mir: gut ausgebaute Verkehrsinfrastruktur ist die Voraussetzung für nachhaltige Fortbewegung im städtischen Bereich. Für den ländlichen Raum mit weiteren Wegen gilt sicherlich Selbiges. Die Malmöer*innen scheinen auch nicht so empfindlich das Rad zu benutzen, wenn es regnet oder schneit. Man fährt einfach und beschwert sich nicht. Komisch nur, dass im Verkehrsbereich großer Wert auf Nachhaltigkeit und gute Voraussetzungen gelegt wird, während das Problem des Plastikverbrauchs bisher nicht angegangen wurde.
E-Bus © © Stefan Zielasko E-Bus © Stefan Zielasko
Samstag ist nicht nur Samstag, sondern Lördagsdodis
 
Einen unrühmlichen Ursprung hat die schwedische Tradition Lördagsgodis, das Samstagsnaschen. In der Mitte des 20. Jahrhunderts stellte die schwedische Regierung fest, dass die Zahnqualität der schwedischen Bevölkerung sehr schlecht ist. Daraufhin wurden die sogenannten Vipeholm Experimente initiiert, wobei Patient*innen einer Psychiatrie in einer Kontroll- und Experimentiergruppe medizinischen Versuchen ausgesetzt wurden. Alle Patient*innen letztgenannter Gruppe waren über vier Jahre gezwungen, enorme Massen an Süßigkeiten und damit Zucker zu konsumieren, was selbstverständlich zu einer Verschlechterung der Zahngesundheit führte.
Als Ergebnis der Studie, die von der Zuckerindustrie mitfinanziert wurde, führte das schwedische Gesundheitsministerium das Konzept des Samstagsnaschens ein. Das ist zwar nicht gesetzlich verankert, wird aber von zahlreichen Familien tatsächlich praktiziert – ohne kritisch mit den Hintergründen umzugehen oder sie zu thematisieren. An Samstagen sind die Geschäfte von Hemmakväll, in denen hunderte verschiedener Süßigkeiten angeboten werden, also regelmäßig überfüllt mit schwedischen Familien. Historische Kenntnisse über die „Euthanasie“-Verbrechen der NS-Zeit lassen mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen.
  • Hemmakväll © Stefan Zielasko

  • Hemmakväll © Stefan Zielasko

Schwedischer Atheismus
 
In keinem Land der Welt leben prozentual so viele Atheisten wie in Schweden, was vor allem sonntags offensichtlich wird: alle Geschäfte haben geöffnet, Busse und Züge fahren zur gleichen Zeit wie an Wochentagen, Messen oder Ähnliches werden nur noch von weniger als fünf Prozent der Bevölkerung aufgesucht.

Mehr noch: Atheismus ist beinah ein Bestandteil schwedischer Identität. Religion wird als Privatsache und Gespräche über religiöse Themen in der Öffentlichkeit werden als unangenehm empfunden. Vor einigen Jahren wurde sogar in Börlange (Nordschweden) der erste nicht-religiöse Friedhof der Welt eröffnet.

Ich erlebe die Schwed*innen als durchaus pragmatische Menschen, die sofort rational nach Problemlösungen suchen anstatt sich polemisch über Missstände zu beschweren. Vielleicht trägt der Atheismus dazu seinen Teil bei; ich teile ihn jedenfalls und würde sagen, dass diese Eigenschaft (die rationale Problemlösung) durchaus auch vielen Menschen in Deutschland gut zu Gesicht stehen würde.

Abschließend ein Beispiel dafür: Es wäre undenkbar, dass in Schweden Debatten über die (auch rechtliche) Gleichberechtigung von lesbischen, schwulen, bi-, transsexuellen oder queeren Menschen geführt wird. Der auch in Deutschland gegenwärtig noch präsente und angeblich „christliche“ Einwand, Homosexualität gefährde das traditionell-konservative Familienbild von Mann, Frau und Kind, würde hier wohl als Argument vergangener Jahrhunderte betrachtet werden (und das meiner Meinung nach völlig zu Recht!). In der Konsequenz dieser Orientierung belegt Schweden im erst kürzlich veröffentlichten LGBTQ+-Index weltweit den ersten Rang und stellt somit das (theoretisch) lebenswerteste Land für alle LGBTQ+-Menschen dar.
 
Mein Rat: Um den Eisblock Kultur zu ergründen, sind kleine Tauchgänge zu den verborgenen Eisspitzen unabdingbar. Niemand wird ein Land oder eine Kultur jemals verstehen können, wenn er nur die massentouristischen Postkartenmotive der Marco Polo Reiseführer besucht.
 
Eisige Grüße aus Schweden,
Stefan

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