Blogeintrag 7
90 Tage China: Woche 7
Olympia!
Es ist noch früh am Morgen, als Carina und ich uns am Sonntag aus dem Bett quälen. Pünktlich um 8 Uhr sollen wir da sein. Ich bin ein bisschen aufgeregt, denn heute habe ich zusammen mit meinen Deutschlernenden den großen Auftritt auf der Bühne der Schulaula. Auf dem Weg zur Schule probe ich in meinem Kopf noch einmal den Text, meine Nervosität legt sich langsam wieder. „Es wird schon werden“, denke ich. „Außerdem ist Dabeisein alles – der olympische Gedanke ist das, was zählt.“
Zwei Tage zuvor: Es ist bereits später Freitagnachmittag, als ich Carina am Nordbahnhof in Empfang nehme. Nur wenige Tage sind vergangen, seit wir uns in Peking gesehen haben und ich freue mich sehr, dass wir auch das bevorstehende Wochenende zusammen verbringen werden. Es steht ein sehr besonderes Event an, für das sich unsere Schule schon seit Wochen vorbereitet. Die Nationale Deutscholympiade des Goethe-Instituts findet bei uns an der Fremdsprachenschule in Xi’an statt. Dabei handelt es sich um den nationalen Wettbewerb aller Deutschlernenden aus China auf den Niveaustufen A2-B2. Für den Entscheid reisen am späten Freitagnachmittag Schüler aus ganz China an. In der Jury sitzt auch Steffi Stadelmann aus dem Goethe-Institut in Peking. Es wird ein freudiges Wiedersehen und zugleich lerne ich viele neue deutschbegeisterte Menschen kennen.
How much?
Der Hunger treibt uns im Anschluss in ein kleines Restaurant in einer Nebenstraße des Viertels und wir belohnen unsere für gut befundenen Verhandlungskünste mit der klassischen Shaanxi-Kombi aus „Chinese Hambuger“ und kalten Reisnudeln in Essig und Chiliöl. Danach landen wir noch in einem kleinen Café, wo wir uns über eine neue süße Entdeckung freuen. Es gibt eine Art gestockter Joghurt (den die Chinesen als „Käse“ bezeichnen“), der mit einer süßen Soße aus Osmanthus abgeschmeckt ist. Botaniker, Biologen und Gartenfreunde werden wissen, um was es sich dabei handelt. Ich kannte die Pflanze bisher nicht. Die chinesische Pflanzenart zeichnet sich durch intensiv duftende Blüten aus und ist offensichtlich auch bei der Zubereitung von Süßspeisen einsetzbar. Carina und ich einigen uns darauf, dass man auf den „Käse“ gut und gerne verzichten kann – die liebliche Osmanthus-Soße jedoch kann sich sehen (und schmecken) lassen!
Spiel, Spaß, Spannung
Am Samstagmorgen sitzen Carina und ich gespannt bei der Eröffnungsfeier der Nationalen Deutscholympiade. Es gibt ein paar Reden und einen kleinen Vorgeschmack der a capella Band „Quintessenz“, die extra für das Wochenende aus Bamberg eingeflogen wurde und am Abend ein exklusives Konzert für uns gibt. Während die Schüler im Anschluss an die Eröffnungsfeier zu ihren schriftlichen Prüfungen eilen, mache ich es mir im Korrekturzimmer gemütlich. Carina ist auf dem Weg zur Terrakotta-Armee, die man ja irgendwie schon wenigstens einmal gesehen haben „muss“, wenn man in Xi’an ist.
Ab 11 Uhr bin ich für die Bespaßung der Schüler eingeteilt, die mit den schriftlichen Prüfungen früher als alle anderen fertig sind. Ich wurde gebeten, einen Landeskunde-Vortrag zu halten, den ich auch brav vorbereitet habe, aber kurzerhand links liegen lasse, als ich in die erschöpften Gesichter der Teilnehmer blicke.
Ich fordere alle auf, Platz im Raum zu schaffen und die Tische und Stühle zur Seite zu schieben. Jetzt wird gespielt! Dank der Erfahrungen, die ich in den vergangenen Jahren im Bereich der Theaterpädagogik sammeln konnte (Uta, Bettina und Philipp: ich danke euch!), bringe ich mit Spielen wie „Ich auch“, „Das kotzende Känguru“ und „Die Chefin sagt“ ein bisschen Leben in das muffige Prüfungszimmer. Die Sprachkenntnisse rücken hier einmal kurz in den Hintergrund und bald habe ich das Gefühl, dass die Prüflinge wenigstens für einen Moment lang vergessen, wie schwer der Druck des Wettbewerbs auf ihren Schultern lastet.
Ein Ausflug nach Dresden
Sonntagmorgen: Die Deutschlehrerinnen unserer Schule haben sich einen kleinen Sketch für die Schüler ausgedacht, bei dem ich mich bereit erklärt habe, mitzumachen. So begleite ich meine Schüler bei meinem Auftritt als Sprachlehrerin und Stadtführerin auf der Bühne durch Dresden. Wir besichtigen die Frauenkirche und spielen ein typisch chinesisches Spiel am Elbufer, bei dem getanzt, musiziert und gesungen wird. Im Hintergrund sind wenig authentische Bilder von lachenden Kindern, die auf saftig grünen Wiesen spielen, an die Wand geworfen. Auch die Frauenkirche ist auf einem hochbearbeiteten Bild zu sehen. Meine „echten“, dafür unbearbeiteten Fotos aus Dresden wurden dankend abgelehnt. Ein paar Schülerinnen tanzen zu einem Lied von Mike Singer, der ja nun auch nicht unbedingt den repräsentativsten deutschen Musiker abbildet. Im Anschluss singe ich mit den anderen das Lied „Du bist die Musik in mir“ aus dem Film High School Musical. Wir haben uns sogar eine kleine Choreographie dazu überlegt. Der Kitsch gehört in China einfach dazu. Wenn man sich darauf einlässt, macht es sogar richtig Spaß. Als Belohnung verteile ich Gummibärchen an meine Schützlinge. Ich finde, sie haben die Ideen der Lehrerinnen wirklich gut umgesetzt und sich große Mühe gegeben. Es soll auch eine kleine Entschädigung dafür sein, dass sie seit Wochen für diesen Auftritt proben und dafür, dass der Plan fast jeden Tag umgeworfen wurde – manchmal sogar innerhalb von wenigen Stunden. Ich lerne vor allem, dass Pläne und Verabredungen in China nur wenig Gültigkeit haben. Nachdem wir den gesamten Donnerstag in dem Tonstudio der Schule verbracht haben, um Gesang und Text aufzunehmen, weil alles als Playback-Show gespielt werden sollte, entschied die Leitung am nächsten Tag, es doch anders zu machen. Die Proben waren mühsam, ich habe es ja selbst gespürt. Die Schüler haben keine andere Wahl, als mitzumachen. Ob es ihnen gefällt, was da auf der Bühne stattfindet, das ist zweitrangig. Ein bisschen schade finde ich es schon, dass man sie in keinster Weise nach ihren Ideen gefragt hat. Das Ziel der Lehrerinnen war stets, die Leiterin zufrieden zu stellen. Vielleicht sagt das auch etwas darüber aus, in welchem System wir uns hier bewegen.Gewinnen auf Chinesisch
Ich bin froh, dass der Auftritt gut gelaufen ist und kann mich nun ein wenig zurücklehnen. Unserem Auftritt folgen noch ein paar weitere Darbietungen. Verwunderung macht sich auf unseren Gesichtern breit, als Carina und ich zwei musikalischen Beiträgen der Schüler lauschen. Eine Gruppe singt das Lied „Edelweiß“ aus „The Sound of Music“ und ein paar recht junge Schüler singen „Kleine Kinder, kleine Sorgen“ von Heintje. Wir fragen uns vor allem, welches Deutschlandbild hier vermittelt werden soll. Es gibt auch noch ein paar Sketche, die wirklich herzerwärmend sind und über deren Pointen wir schmunzeln können.Nach dem Abschlussprogramm werden die Sieger der Olympiade verkündet. Diesen steht im Juni eine Reise nach Freiburg bevor, wo sie an der Internationalen Deutscholympiade für ihr Land ins Rennen gehen werden. Aus der Perspektive der Schüler geht es wirklich um etwas! Das begreife ich schweren Herzens in dem Moment, in dem die Sieger namentlich genannt werden. Für mich ist dieser Moment der Höhepunkt der Veranstaltung. Ich möchte am liebsten euphorisch auf die Bühne rennen und den Schüler gratulieren, sie herzlich umarmen. Ich ermahne mich, dass ich in China bin und dass hier alles möglicherweise verhaltener ausfällt.
In der Tat: Bei der Verkündung der Sieger bleibt der tosende Beifall aus. Verhaltener Applaus und suchende, vielleicht auch etwas neidvolle Blicke im Raum sind das, was ich beobachte. In der Reihe hinter mir beginnt ein Mädchen zu schluchzen und zu weinen. Ein Begleitlehrer tröstet sie. Die Gewinner genießen ihren Ruhm, die Verlierer sind eben Verlierer. Die einleitenden Worte von Steffi zur Eröffnung der Olympiade, dass „dabei zu sein, alles ist“, dass der olympische Gedanke wichtig ist und dass alle schon heute Gewinner sind, sind längst verklungen. Es erinnert ein bisschen an die sehr brutalen Olympischen Spiele des antiken Griechenlands, wo tatsächlich nur derjenige ein Gewinner war, der mit dem Siegeskranz aus Olivenzweigen nach Hause ging.
Ich frage mich oft, wie ich mich in dem bevölkerungsreichsten Land der Welt entwickelt hätte, wenn ich hier groß geworden wäre. Wäre ich schüchtern oder selbstbewusst? Würde ich mich trauen, mich von der Masse abzuheben und meine Meinung zu sagen? Wäre ich in der Lage, eigne Ideen zu entwickeln und hätte ich den Mut sie umzusetzen? Das werde ich niemals herausfinden, schon klar.
Aber das Gedankenspiel hilft mir zu entscheiden, in welcher Welt ich leben möchte. Denn ich habe die Wahl.