Blogeintrag 10
90 Tage China: Woche 10

Starthilfe

„Wenn Sie auf die Toilette gehen, werden Sie in Schwierigkeiten geraten. Wenn Sie Müll in die Toilette werfen, wird es zu Stau führen. Die Wartungskosten müssen von den Eltern bezahlt werden. Schließlich hoffe ich, dass Sie glücklich bleiben.“
Als wir die Übersetzung der Hausregeln des Airbnb-Vermieters lesen, müssen wir unweigerlich lachen. Carina, Hanna und ich sind auf dem Weg nach Shanghai. Mit ein paar weiteren Stipendiaten aus unserer Schulwärts!-Gruppe haben wir uns in Shanghai für das Wochenende verabredet. Das Lachen vergeht uns jedoch schneller als gedacht. Der Vermieter der Ferienwohnung kontaktiert uns kurz nach der Landung auf dem Flughafen in Shanghai-Pudong und teilt uns mit, dass es in dem Apartment große Probleme mit den sanitären Anlagen gibt und dass das Apartment daher aktuell nicht genutzt werden kann. „Das muss ein Scherz sein“, denke ich laut und erinnere mich an die vorab versendeten Hausregeln, an die sich unsere Vorgänger wohl nicht gehalten haben – na deren Eltern werden sich freuen!
Wir sind bereits auf dem Weg zur Wohnung, die wir jetzt nicht nutzen können. Nach einigem Hin und Her bietet uns der Vermieter eine Ausweichmöglichkeit an, die unweit des People’s Square, relativ zentral gelegen ist, dafür aber keinen Balkon besitzt. Wir bekommen einen Teil des Geldes erstattet und gehen ohne große Diskussion auf den Deal ein. Nach und nach findet sich unsere Gruppe an der neuen Adresse ein. Mittlerweile ist der Kühlschrank auch mit Bier und ein paar Kleinigkeiten für das Frühstück bestückt.
 
  • Mit OFOs und Mobikes durch die Stadt: Bikesharing hat in China Hochkonjunktur © Theresa Metzler

    Mit OFOs und Mobikes durch die Stadt: Bikesharing hat in China Hochkonjunktur

  • Stehend, liegend, gestapelt – OFOs findet man überall © Theresa Metzler

    Stehend, liegend, gestapelt – OFOs findet man überall

Am Nachmittag leihen wir uns OFOs aus und erkunden Shanghai auf zwei Rädern. Die charakteristisch gelben Fahrräder kann man in China in mehr als 150 Städten ausleihen und auch in anderen Ländern der Welt sind sie mittlerweile verfügbar. Obwohl die OFO-Fahrräder ohne feste Station wahllos in der Stadt stehen, haben wir kein Problem damit, sieben funktionstüchtige Räder in unmittelbarer Nähe zueinander zu finden. Die gelben Flitzer stehen, liegen und stapeln sich wirklich überall in den Städten. Es ist praktisch und die Ausleihe regelt man ganz einfach per App. Auf jedem Fahrrad gibt es einen QR-Code, den man mit dem Handy scannt. Danach erscheint ein vierstelliger Code, den man am Fahrrad eingibt und schon öffnet sich das Fahrradschloss. Kosten pro Fahrt, egal wie lange man fährt und wohin: 1 Yuan – das sind gerade einmal dreizehn Cent. Sobald man die Fahrt beendet hat, stellt man das Rad an einem beliebigen Ort der Stadt ab, schließt das Schloss und beendet die Fahrt per OFO-App mit dem Handy. Für die Chinesen ist das Leben per Smartphone schon lange Alltag – ich bin jedes mal aufs Neue begeistert und staune über die technischen Möglichkeiten, die uns hier widerspruchslos fremdbestimmen.

Alt und Neu

Wir fahren ein Stück auf der Nanjing Street, der berühmten Einkaufsstraße Shanghais, entlang und zwischenzeitlich vergesse ich fast, dass ich in China bin. Während wir durch die Stadt radeln, kommt mir in den Sinn, dass ich gerade genauso gut mitten in New York City sein könnte. Shanghai ist nicht das China, das ich in Xi’an, Hangzhou oder Peking kennen gelernt habe – so viel steht fest. Bereits vor meiner Reise ins Reich der Mitte habe ich mir sagen lassen, dass Shanghai – ähnlich wie Hong Kong – sehr westlich geprägt ist. Der Anblick der vielen Kaufhäuser mit riesigen Werbeflächen für internationale Marken und die Auswahl an zahlreichen Restaurants und Biergärten im Vorbeifahren bestätigen mir genau dieses Bild. Vom Jing’an Distrikt fahren wir weiter in Richtung Altstadt, die sich unweit des Flussufers, am Huangpu, befindet.
 
  • Willkommen in Shanghais Altstadt © Theresa Metzler

    Willkommen in Shanghais Altstadt

  • Das ist unsere Zeit. Prost © Theresa Metzler

    Das ist unsere Zeit. Prost

Wir stellen unsere Räder ab und stoßen mit einer gekühlten Dose „Tsingtao“-Bier auf das bevorstehende Wochenende an. Eine Szene wie diese, sieben biertrinkende Deutsche, zum großen Teil blond und blauäugig, würde in anderen Städten Chinas, für großes Aufsehen sorgen. In Xi’an hätte sich wohl schon längst eine kleine Ansammlung an Menschen gebildet, die uns fotografieren oder einfach bloß anstarren würden. In Shanghai sind wir fast unsichtbar, das Promi-Feeling bleibt aus. Uns begegnen verschiedene Menschen aus allen denkbaren Ländern, überall hört man andere Sprachen. Ich lasse den Blick über die Gesichter meiner neugewonnen Freunde schweifen und entdecke erleichtert, dass die anderen diese kleine „China-Auszeit“ genauso genießen wie ich selbst.

Wir schlendern durch die touristische Altstadt mit ihren einladenden kleinen Sträßchen, vorbei an Holzhäusern in klassischer, chinesischer Architektur, bis hin zum berühmten Yu-Garten. Alles ist wunderhübsch beleuchtet und die Lichter tanzen im Wassergraben, der das hell erleuchtete Yuyuan-Teehaus umgibt.
Zu Fuß begeben wir uns weiter in Richtung Flussufer. Dort lockt der weltberühmte Bund mit einer spektakulären Aussicht auf das gegenüberliegende Stadtviertel Pudong. Jeden Tag schießen hier, wo sich „alt“ und „neu“ gegenüber stehen, zahlreiche Touristen ihre Erinnerungsfotos. Europäische Kolonialbauten auf der „Bund-Seite“, westlich des Flusses, stehen hier den atemberaubenden Wolkenkratzern des wirtschaftlichen Bezirks Pudong gegenüber. Bei Nacht erstrahlt alles in spektakulären Farben, die sich als Werbe- und Lichtbanner über die Wolkenkratzer auf der gegenüberliegenden Seite ziehen. Wir blicken auf die atemberaubende Skyline und entdecken dort das Shanghai World Financial Center, daneben den Jin Mao Tower, den Oriental Pearl Tower und den 632-Meter-hohe Shanghai Tower.
Shanghai soll auch ein ausgeprägtes und überragendes Nachtleben haben. Davon wollen wir uns nun natürlich selbst ein Bild machen, also los!
 
  • I Love Shanghai © Theresa Metzler

    I Love Shanghai

  • Blick auf die Skyline in Pudong © Theresa Metzler

    Blick auf die Skyline in Pudong

  • Vorfreude auf eine lange Nacht in Shanghai: Carina, Hanna und ich (v.r.n.l.) © Theresa Metzler

    Vorfreude auf eine lange Nacht in Shanghai: Carina, Hanna und ich (v.r.n.l.)

It’s Gameday!

Am Samstag starten wir, etwas später und dafür ausgeschlafen, mit einem ausgiebigen Mittagessen in den Tag. Die gebratenen Dumplings, auf die wir hier in Shanghai immer wieder stoßen, werden als Variation auf einer Platte mit drei verschiedenen Füllungen serviert. Auf unseren Tellern befinden sich sechs Teigbällchen, wovon jeweils zwei mit Fleisch, Shrimp und Gemüse gefüllt sind. Vorsichtig beißen wir in die Teigtaschen und saugen die noch sehr heiße Brühe aus den Knödeln heraus. Obwohl die meisten von uns mittlerweile sehr gut mit Stäbchen essen können, gibt es immer wieder Speisen, die einfach nicht zum Essen mit Stäbchen geeignet sind. Die Shengjian Mantou, wie die Shanghaier Köstlichkeiten genannt werden, sind ein gutes Beispiel dafür, finde ich. Durch die Brühe ist der Teig noch rutschiger, meine Stäbchen verlieren den Gripp und der Teigklumpen landet mit einem geräuschvollen „Platsch“ in der säuerlich-scharfen Essigsoße, in den ich ihn zuvor getunkt habe. Während ich weiterhin angestrengt versuche, die Spezialität möglichst elegant in meinen Mund zu bugsieren, dreht sich unsere Diskussion am Tisch darum, ob das chinesische Wort für Dumplings nun eigentlich „Jiaozi“ oder „Baozi“ ist, denn jeder von uns scheint in den verschiedenen Städten Chinas Dumplings in anderen Variationen gegessen zu haben. Bei einer Sache sind wir uns jedoch relativ einig: Es schmeckt verdammt gut!

Eine Spezialität in Shanghai: Shengjian Mantou
Eine Spezialität in Shanghai: Shengjian Mantou | © Theresa Metzler
Später am Tag sind wir auf dem Weg in das ehemalig französische Viertel Tianzifang, das heute als Künstlerviertel bekannt ist und das gar nicht so leicht zu finden ist. Wir spazieren durch die verwinkelten, labyrinthartigen Gassen vorbei an Lädchen, Cafés und Souvenirshops. In den engen Straßen mit den vielen einladenden Möglichkeiten zum Bummeln verliert sich unsere Gruppe bald ein wenig und wir verabreden uns zu einem späteren Zeitpunkt am Nachmittag.

Bummeln im französischen Viertel Tianzifang
Bummeln im französischen Viertel Tianzifang | © Theresa Metzler
Denn heute ist Samstag, das heißt: Gameday! Heute, am 9. Spieltag, spielt Shanghai SIPG gegen Beijing Guo’an im Shanghai Stadium. Wir haben im Vorfeld Karten für das Spitzenspiel des Tabellenersten gegen den Tabellenzweiten gekauft und machen uns nun auf den Weg. In der Chinesischen Super League kennt sich eigentlich keiner von uns so richtig gut aus, aber die Chinesen mögen Fußball, so viel wissen wir. Ich habe in meinen Klassen sehr häufig die Frage gestellt bekommen, ob in Deutschland wirklich alle Fußball mögen und ob ich den FC Bayern München gut finde. Meine Antwort fiel stets diplomatisch aus – immerhin repräsentiere ich Deutschland in China. Aus dem Interesse der Schüler*innen habe ich dann übrigens auch eine kleine landeskundliche Unterrichtseinheit zum Thema „Sport in Deutschland“ kreiert. Fußball ist ja auch nicht die einzige Sportart, die bei uns populär ist.
Zurück zum Spiel, das im berühmten Shanghai Stadium, einem der Austragungsorte der Olympischen Sommerspiele im Jahr 2008, stattfindet. Rund 80.000 Zuschauerplätze fasst das Fußballstadion, das sich am heutigen Samstagabend nur langsam füllt. Wir befürchten, dass die Stimmung nicht sonderlich spektakulär sein wird und sind überrascht, wie sehr sich die Fans ins Zeug legen, als der Schiedsrichter das Spiel anpfeift. Als Elkeson in der 27. Minute das 1:0 schießt, toben die 22.000 anwesenden Fans und wir jubeln mit. Natürlich sind wir heute Abend für Shanghai. Vor dem Stadion haben wir uns sogar noch mit Fanschals und -jacken ausgestattet. Wenn schon, denn schon! In der zweiten Hälfte kassiert unsere Elf jedoch noch zwei Gegentreffer. Wir fühlen uns trotzdem wie Gewinner, denn ein wunderbarer Abend neigt sich dem Ende zu.
 
  • Fankultur in China © Theresa Metzler

    Fankultur in China

  • Biete Sohn und suche Schwiegertochter © Theresa Metzler

    Biete Sohn und suche Schwiegertochter

Partnersuche à la Shanghai

Am Sonntag möchte ich unbedingt den Heiratsmarkt sehen, über den ich bereits im Vorfeld der Shanghai-Reise viel gehört habe. Im Volkspark gleich am People’s Square tummeln sich viele Touristen und Neugierige, so wie ich, die dem Geheimnis des etwas anderen Basars auf den Grund gehen wollen. Hinter aufgespannten Regenschirmen, auf denen ein Steckbrief klebt, sitzen Mütter und Väter, die ihre Kinder regelrecht vermarkten. Ich beobachte das Treiben und unterdrücke zugegebenermaßen mein Entsetzen über das, was die Eltern für ihre erwachsenen Kinder dort veranstalten. Die eigentlichen Hauptpersonen, nämlich die jungen Männer und Frauen, sind selbstverständlich nicht anwesend. Geregelt wird alles unter den Eltern. Gerade, als ich mich ein bisschen zu ärgern beginne, dass ich nicht lesen kann, was auf den Steckbriefen steht, kommt ein junger Chinese, schätzungsweise Anfang zwanzig, auf Hanna, Carina und mich zu und spricht uns an. Ob er sein Englisch mit uns üben könne. Wir schauen uns an und nicken. In anderen Ländern würde ich jetzt vermutlich einen unauffälligen, doch prüfenden Griff zum Reisverschluss meines Rucksackes tätigen, hier in China bin ich (mittlerweile) unbesorgt. Auch in den touristischen Gegenden in Xi’an wurde ich bereits häufig von Chinesen und Kindern angesprochen, die ihr Englisch mit mir üben möchten. Mittlerweile weiß ich, dass dahinter kein Taschendieb-Trick steckt, sondern echtes Interesse. Wir unterhalten uns mit dem jungen Mann, er fragt uns, ob wir wissen, was das hier sei. Wir erzählen ihm von dem, was wir bisher gehört und gelesen haben und kommen ins Gespräch.
 
Auf den Steckbriefen, die übrigens keine Fotos enthalten, sind Informationen über Geschlecht, Alter, Körpergröße, Charakter, Bildungsabschlüsse und vor allem Eigentum und Jahreseinkommen gelistet. „Der finanzielle Status ist besonders wichtig“, erzählt der junge Mann weiter, „denn eine Hochzeit kostet in China viel Geld.“ Ich nicke, denn ich weiß, was er meint. „Außerdem wird von dem Mann erwartet, dass er eine Wohnung oder ein Haus und ein Auto hat.“
Ich möchte wissen, ob hier mehr Männer oder Frauen „im Angebot“ sind, seine Antwort ist eindeutig. Als Resultat der mittlerweile abgeschafften Ein-Kind-Politik gibt es in China heute deutlich mehr Männer als Frauen. Weil China ein traditionelles Land ist, wünschen sich die meisten Eltern heute immer noch einen Sohn als Erstgeborenen. Mädchen wurden in Zeiten der Geburtenkontrolle demnach viel häufiger abgetrieben, eine traurige Wahrheit. Wenn man nur ein Kind haben konnte, dann bitteschön einen Jungen – der Familientradition zuliebe.   
Wir fragen ihn, wie er das finden würde, wenn seine Eltern ihn hier auf diesem Markt anpreisen würden. „Das würden sie nicht tun, ich komme aus einer sehr modernen Familie und ich darf mir meine zukünftige Frau selbst aussuchen“, beruhigt er uns in sehr gutem Englisch. Am liebsten würde er ein Mädchen aus dem Ausland heiraten. Dort gibt es so hübsche Frauen, wie wir es seien. Wir lächeln, das Gespräch ist schlagartig etwas komisch und unangenehm geworden. Vielleicht steckt hinter seinem Versuch, „sein Englisch mit uns zu üben“, doch noch ein anderes Interesse, was wir ihm jedoch nicht übel nehmen. Höflich bedanken wir uns für das nette Gespräch und machen uns unauffällig aus dem Staub.
 
Noch zwei Tage zuvor habe ich in angesagten Clubs von Shanghai genau beobachten können, dass viele junge Chinesen in Shanghai weitestgehend keine Probleme damit haben, einen Partner bzw. eine Partnerin zu finden oder kennen zu lernen. Auf dem Heiratsmarkt wird deutlich, dass arrangierte Ehen in China trotzdem existieren. Zu groß ist die Sorge der Eltern, dass ihr Kind nicht rechtzeitig unter die Haube kommt oder etwa „leer“ ausgeht. Doch ich ahne, dass auch noch etwas anderes mitspielt. Mit der Geburt eines Kindes, sorgen die meisten Eltern vor, denn von den Kindern in China wird erwartet, dass sie sich später um ihre Eltern kümmern. Diese Verantwortung lastet schon früh auf den Schultern der jungen Erwachsenen und sie ist von Geburt an da.
Shanghai ist eine der begehrtesten Städte der Welt, es scheint, als wollen alle einmal dort gewesen sein in dieser glamourösen, schnelllebigen Millionenmetropole. Doch auch in dem angesagten Wirtschaftszentrum Shanghai findet man Orte, an denen das traditionelle China mit alten Werten vertreten ist. Im Park am People’s Square steht manchmal die Zeit still. Hier, wo besorgte Mütter und Väter ihre Schirme aufspannen, um die Familienehre zu retten.

Shanghai – Ausflug in ein anderes China
Shanghai – Ausflug in ein anderes China | © Theresa Metzler

 

Top