Johannes Ebert am 23. Juli 2016
Jetzt erst recht: die Stimme erheben
Artikel von Johannes Ebert zum Thema „Europa“ in der „taz“
An einem seiner letzten Abende in Deutschland war Ben enttäuscht. Ein Jahr lang hatte der Sohn englischer Freunde in München Jura studiert, war Mitglied im Fußballverein, begegnete im Studentenwohnheim Menschen aus aller Welt. „Dieses Jahr würde ich jederzeit wiederholen“, sagt Ben. Das EU-Referendum in Großbritannien lag wenige Tage zurück. Weltoffen und chancenorientiert hatte der 21jährige Rugby-Fan, obwohl er in Deutschland war, für „remain“ gestimmt. Gewonnen haben bekanntermaßen die anderen.
Es ist nicht zu leugnen, dass es in den Ländern der europäischen Union Kritik gibt am Umgang mit der heutigen politischen Lage. Wirtschaftskrise, Jugendarbeitslosigkeit, die großen Bewegungen von Migration und Flucht. All dies verunsichert und weckt Zweifel an der Fähigkeit der Politik, wichtige Fragen der Zeit im Sinne der Bürgerinnen und Bürger Europas zu bewältigen. Es ist jedoch mehr als fraglich, ob die Antworten auf die aktuellen Herausforderungen, die eng mit der Globalisierung und dem Entstehen neuer Märkte und Machtzentren einhergehen, aus einer nationalen Logik heraus gegeben werden können. Wahrscheinlich nicht. Die Geschichte lehrt, dass miteinander konkurrierende Nationalstaaten sich im Wesentlichen gegeneinander profilieren, anstatt Situationen zu suchen, in denen sie gemeinsam etwas gewinnen. In den 70 Jahren vor der Gründung der Europäischen Union haben auf ihrem Territorium zahlreiche Kriege stattgefunden. In den 70 Jahren seit der Gründung der EU hat es hier keinen Krieg mehr gegeben. Vielmehr wurde in Verhandlungen, komplexen Prozessen, mit Austauschprogrammen und in kultureller Begegnung ein Klima der Verständigung erreicht; Kompromisse wurden geschlossen.
Doch der Brexit und die populistischen und EU-feindlichen Bewegungen in Europa zeigen, dass sich die europäische Politik nicht auf dem Erreichten ausruhen kann. Die Erzählung vom Frieden und anderen Errungenschaften der EU wie die Freizügigkeit oder die gemeinsame Währung reichen nicht mehr aus, um die Bürger an das Projekt Europa zu binden. Es scheint, als müsse jede Generation ihr Europa neu für sich erfinden. Der Brexit nimmt die Politik und die Bürokratie in die Pflicht, Lösungen zu finden für die drängenden Fragen der Zeit: Antworten auf wachsende Ungleichheit, wahrgenommene Intransparenz, Konstruktionsfehler in den institutionellen Strukturen der EU und Demokratiedefizite, nicht zuletzt auf die Verlustängste der Bürger.
Was die Kampagne für den Ausstieg in Großbritannien so attraktiv gemacht hat, war das starke, emotionale und für die Brexit-Anhänger positiv nach vorne gerichtete Narrativ der Freiheit und der Rückgewinnung der politischen Selbstbestimmung. Darum wurde heftig gerungen, notfalls auch mit nachweisbaren Unwahrheiten. Zwei Argumentationslinien standen im Mittelpunkt: Die ökonomische, nach der Großbritannien außerhalb der EU wirtschaftlich besser dastehen würde und vom Binnenmarkt profitieren könne, ohne die Lasten der EU zu tragen. Und das Thema Migration, verbunden mit einer gefühlten Angst vor Überfremdung. Dass gerade dieses Thema ein Spiel mit dem Feuer war, zeigen die zunehmenden Übergriffe gegen Ausländer direkt nach dem Referendum.
Die Brexit-Gegner verzichteten darauf, die Errungenschaften der Europäischen Union, die Zusammengehörigkeit als Wertegemeinschaft, das Friedensprojekt Europa in den Mittelpunkt zu rücken. Stattdessen ließen sie sich auf einen Schlagabtausch zu den Themen Migration und Ökonomie ein, bei dem sie die Ausstiegsfolgen aus der EU mit schwarzen Farben an die Wand malten. Sie unterlagen, weil sie ex negativo und aus der Defensive heraus argumentierten; über eine ähnlich starke und emotionale Erzählung für die EU verfügten sie nicht.
Bereits 2013 hat José Manuel Barroso das Fehlen einer positiven Erzählung für Europa als Defizit empfunden. Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise berief er eine Gruppe von Denkern und Kulturschaffenden ein, die ein neues europäisches Narrativ erarbeiten sollten. Titel: „The Mind and Body of Europe“. Ein seltsam lebloses Papier, das ohne weitere Folgen blieb, denn, so der damalige Leiter des Goethe-Instituts Brüssel, Berthold Franke, 2014 in der ZEIT: „Sinn- und identifikationsstiftende „Erzählungen“ werden nämlich nicht einfach konstruiert, sondern ergeben sich aus historischer Erfahrung… Um Menschen zu ergreifen müssen Narrative eine positive Zukunft beschreiben und spontan einleuchten. Sie werden gefunden und nicht erfunden.“
Angesichts des Brexit und der Forderungen der populistischen und europaskeptischen Bewegungen, die Angst vor dem Fremden schüren und Abgrenzung propagieren, ist heute jeder persönlich gefordert. In vielen europäischen Familien gibt es Flucht- und Kriegserfahrungen. Meine im Sudetenland geborenen Großeltern, meine Mutter, meine aus Laos stammende Frau – sie alle teilen ein Schicksal als Flüchtlinge, die gegen Widerstände ihren Platz in der Gesellschaft gefunden haben. Meinen Kindern sieht man den sogenannten Migrationshintergrund an, und ich möchte, dass ihnen das nicht zum Nachteil gereicht, sondern dass sie in einem toleranten Europa mit einem höheren Maß an Chancengleichheit aufwachsen. Auch deshalb gilt es, dem nationalen Alleinvertretungsanspruch populistischer Bewegungen und Parteien die Stirn zu bieten und eigene Ansprüche an ein weltoffenes und in die Zukunft gerichtetes Europa zu formulieren. Wir lassen uns Europa nicht so einfach aus der Hand nehmen!
Möglicherweise stellt der Austritt des EU-Mitglieds Großbritannien und die damit verbundenen Folgen, die wir noch nicht wirklich abschätzen können, die historische Zäsur dar, die den Impuls für eine neue tragfähige Erzählung der Europäischen Einigung geben kann. Die dazu notwendige europaweite Debatte darf kritische Fragen nicht ausklammern. Sie muss aber doch auf der Grundlage einer gemeinsamen Verständigung über Werte, aus einer Reflexion über die bisherigen Errungenschaften und in Abgrenzung von EU-feindlichen Bewegungen der europäischen Einigung eine neue Vision vermitteln. Das kann keine Arbeitsgruppe von Experten leisten, sondern hierzu ist ein Prozess notwendig, an dem sich viele beteiligen und wo der gemeinsame Weg des Aushandelns und der Kooperation eine entscheidende Rolle spielt. Kultur und Bildung können dabei eine wichtige Rolle spielen, weil sie Freiräume des offenen und kritischen Austauschs jenseits der Tagespolitik bieten, weil Theater, Literatur, Film oder Kunst ihre eigenen Wege beschreiten, um Dinge sichtbar zu machen und kritische Fragen zu stellen, um die Debatte weiterbringen zu können. Schüler- und Jugendaustausch legen die Grundlage für echte Begegnung und machen Europa erfahrbar. Die Arbeit in europäischen Netzwerken hilft dabei, europäische Kooperation konkret einzuüben und bewahrt davor, eine einseitige nationale Sicht auf die aktuellen Entwicklungen einzunehmen.
Bei allen Aktivitäten im Bereich Kultur und Bildung kommt der jungen Generation eine besondere Rolle zu. Den Analysen zufolge war die Mehrheit der jungen Briten gegen den Brexit. Allerdings haben zu wenige von ihnen – anders als Ben in seinem Münchner Auslandssemester – tatsächlich abgestimmt. Wir müssen daher für eine gemeinsame Vision gerade junge Menschen befragen, wie wichtig ihnen ein gemeinsames Europa inklusive Frieden, Reisefreiheit und Auslandssemester ist und wie ihre Entwürfe für Europas Zukunft aussehen. Nur so erreichen wir die breite Teilhabe derer, die Europa in Zukunft gestalten sollen.
Eine der größten Herausforderungen ist es jedoch, das Augenmerk auf die Bruchlinien der Gesellschaft zu richten: Wenn bei einem signifikanten Anteil der Gesellschaft Vorbehalte gegen die europäische Einheit und Solidarität bestehen, müssen wir uns fragen, mit welchen Themen, Angeboten und Formaten wir diejenigen erreichen und ansprechen, die Europa und die Werte, für die es steht, kritisch sehen und wie sie an einer neuen Erzählung teilhaben können.
Die optimistische Hoffnung für Europa ist, dass die Politik, vom Brexit erschüttert, tatsächlich eine „bessere EU“ schafft, wie das beispielsweise Außenminister Frank-Walter Steinmeier in einer europaweiten Artikelserie fordert. Ebenso wichtig ist es, dass viele Europäer, die zwar die Errungenschaften eines gemeinsamen Europas hochhalten, dies aber passiv tun, ihre Stimme erheben. Dass sie eine neue Erzählung formulieren, wie ihr Europa der Zukunft aussehen soll jenseits von Populismus für mehr Demokratie, Toleranz und soziale Ausgewogenheit.
erschienen in der Ausgabe vom 23. Juli 2016