06. Dezember 2016
Konferenz European Angst

Eröffnungsrede von Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts

Anrede,
 
Europas Werden als gemeinsamer Kulturraum, getragen von gemeinsamer Verantwortung, ist Teil meiner Biografie und damit meines Denkens und Handelns. Ich gehöre zur sogenannten „Nachkriegsgeneration“. In Breslau geboren, heute zu Polen gehörend, musste ich meine Heimat verlassen, war Flüchtling im eigenen Land, aufgewachsen in Westdeutschland, konfrontiert mit der Hinterlassenschaft des NS- Deutschland, ein Land isoliert in der Welt. Deshalb mussten wir, die Nachkriegsgeneration, erst einmal unsere eigene Geschichte reflektieren und uns mit den Schrecknissen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen, bevor wir uns der Zukunft zuwenden konnten. Eines haben wir gelernt: Nie wieder!
 
Natürlich war in einer derart geschlossenen kleinen Welt die Neugier auf die große Welt besonders groß. Als fünfzehnjähriger Schüler überschritt ich das erste Mal die deutsch-französische Grenze. Empfangen wurde ich zunächst mit dem Schimpfwort „boche“. Der Erbfeind Deutschland war in den Köpfen präsent – kein Wunder.
 
Zur damaligen Zeit war es bei den jungen Leuten üblich, sich per Anhalter zu bewegen. Es gab wenig Autos und auch die öffentlichen Verkehrsmittel waren nicht gut ausgebaut. So fuhr auch ich, der boche, per Anhalter durch Frankreich. So kam es zu vielerlei persönlichen Begegnungen. Begegnungen, das war das Zauberwort. Die persönlichen Kontakte lösten die Klischees auf und erlaubten eine eigene Beurteilung. So lernte ich in den Schulferien Italien und Spanien, Skandinavien und Großbritannien, das damalige Jugoslawien und weitere europäische Länder kennen. Das Interesse beschränkte sich bald nicht mehr auf das Reisen. Wir beschäftigten uns mit der Literatur der Länder, mit der Bildenden Kunst, wir kannten die Filme und ihre Künstler. Europa wurde zu einem kulturellen Projekt, gerade wegen seines Reichtums und seiner Vielfalt der Kulturen. Wir gelangten zur Überzeugung: kein Europäer muss sich in einem europäischen Land als Fremder fühlen. Und mit dem Mauerfall und den offenen Grenzen wurde diese Auffassung auch politisch bestätigt. Europa, so war unser Eindruck, kann aufgrund seiner Diskursfähigkeit, seiner gegenseitigen Anerkennung von Gleichwertigkeit und der Wertschätzung von Vielfalt ein Beispiel für Zukunft sein.

Ausgangsfragen:
Inzwischen stehen wir vor Entwicklungen, die uns zum Teil fassungslos machen, Entwicklungen von Gewalt und Abschottung, von Angst und Radikalisierung, von Ressentiments und Feindbildern. Wo ist das Innovationspotential Europas? Kapitulieren wir vor der Zukunft aus Angst vor Verlusten, aus Angst vor der Welt, aus Angst vor Veränderungen?

Der Zulauf zu Europas neuen Rechten ist ungebrochen. Jüngst hat eine Studie der Bertelsmann-Stiftung in 28 Ländern untersucht, was die treibenden Kräfte sind. Es hat sich gezeigt: Der Erfolg der Populisten speist sich vor allem aus der Angst vor der Globalisierung, und weniger als vermutet aus der Unterstützung traditioneller Werte. Je niedriger das Bildungsniveau, je geringer das Einkommen und je älter die Menschen sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie die Globalisierung als Bedrohung wahrnehmen. Die Studie hat auch gezeigt: Die Menschen, die am wenigsten persönliche Berührungspunkte mit „dem Fremden“ haben, fürchten es am meisten. Globalisierungskritische Menschen fürchten in erster Linie die Einwanderung. Sie haben wenig Kontakt mit Ausländern, fürchten Migration und äußern häufiger ausländerfeindliche Gefühle. Sie sind skeptischer gegenüber der Politik und gegenüber der EU.

Populistische und nationalistische Parteien und Bewegungen bekommen Zulauf. Sie gewinnen umso mehr Schwungkraft, je ratloser die etablierten politischen und kulturellen Institutionen sind. Sobald populistische Rhetorik Teil des öffentlichen Diskurses wird, sind die Folgen unvorhersehbar, wie das Referendum über Großbritanniens Austritt aus der EU gezeigt hat. Wenige Stunden nach dem Brexit wurde öffentlich, dass seine Befürworter mit gefälschten Zahlen gearbeitet hatten und bewusst Ängste geschürt haben. Die Analyse zeigte auch, dass es weniger die jungen Menschen waren, die sich verführen ließen. Leider haben zu wenig von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Ich glaube, die jungen Europäer haben gemerkt, dass das Versprechen Europas, die Pluralität, die Offenheit und die Freizügigkeit einer freien Berufswahl, des Wohnortes und der Niederlassungsmöglichkeiten nicht nur eine reizvolle Lebensperspektive ist, sondern genutzt werden kann, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, auch in Notzeiten Optionen zu haben. Dazu sollten sie sich auch äußern!

Weltweit erliegen Menschen der verführerischen Macht der Bilder, die im Netz gekonnt von ihren Machern in Szene gesetzt werden. Es ist besonders erschreckend zu sehen, wie sehr Angehörige von Minderheiten von populistischen Parolen in Mitleidenschaft gezogen werden. Gleich ob Roma in Ungarn, Flüchtlinge in einer sächsischen Kleinstadt oder polnische Arbeiter in Großbritannien: Grund, um ihre körperliche Unversehrtheit zu fürchten, haben sie alle. Wir leben in schwierigen Zeiten,
Weshalb geschieht dies jetzt? Und wie gehen wir damit um?

Die Konferenz:
Die Konferenz European Angst wird sich diesen Fragen nähern, ohne die Kontroverse zu scheuen. Sie soll nicht „noch eine dieser Konferenzen“ sein, bei der sich wie so oft die ohnehin schon zur europäischen Idee Bekehrten über den Unverstand der Andersdenkenden, der nicht Bekehrten empören. Die Wahlergebnisse der letzten Monate haben uns gelehrt, dass diese Strategie ins Leere führt. Die Konferenz soll einen Raum öffnen für einen ehrlichen Meinungsaustausch, bei dem auch Verantwortung wahrgenommen wird und auch unangenehme Themen nicht zu kurz kommen dürfen. Die Idee ist, sich nicht in einem liberalen Konsens einzukapseln sondern auf die Zumutungen der Gegenwart mit populistischen Losungen zu reagieren. Ich bin überzeugt: Die europäischen Werte sind unsere Basis, um die es sich lohnt, argumentativ zu kämpfen.

Europa ist keine unverbindliche „Salatschüssel“, sie ist auch kein „Schmelztiegel“, bei dem Profile und Konturen der einzelnen Länder homogenisiert werden. Für mich ist Europa eher zu vergleichen mit einem „Mosaik“, gefasst von einer gemeinsamen europäischen Verantwortung und getragen von einem Untergrund aus Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
 
Die Europäische Union hat offensichtlich noch immer Vermittlungsprobleme im Hinblick auf eine Gemeinschaft. Drei will ich kurz nennen:

  • Die EU sieht sich selber zu technokratisch, zu sehr nur als Serviceeinrichtung. Jaques Delors hat in seiner oft zitierten Rede von 1992 „Europa eine Seele geben“ die Notwendigkeit einer emotionalen und spirituellen Grundierung Europas zum Ausdruck gebracht, ohne die eine europäische Idee gefährdet sei. Dieses Narrativ steht noch immer aus.
  • Die EU wird in erster Linie als ökonomisches Projekt gesehen Immer mehr Lebensbereiche werden marktwirtschaftlichen Prinzipien untergeordnet. Auch die Kultur gerät in Gefahr, zunehmend am Nützlichen und Gewinnbringenden gemessen zu werden. Kultur ist ein öffentliches Gut und der Markt kann nicht allein bestimmend sein.
  • Die EU hat sträflich vernachlässigt zu thematisieren, dass wir in Europa nicht nur auf einer Insel der Glückseligkeit leben, sondern dass wir auch Verpflichtungen gegenüber anderen Regionen in der Welt haben. Schon 2011 hat man die Augen vor den Toten im Mittelmeer verschlossen und auf die große Zahl von Geflüchteten 2015/2016 war man europäisch nicht eingestellt. Begriffe wie Solidarität, Humanität, Anerkennung und Respekt kommen im Diskurs über Migration im europäischen Maßstab nicht vor.
Um diese Begrifflichkeiten auszuloten und Antworten zu geben, bringt die Konferenz European Angst  prominente Autoren, Wissenschaftler, Intellektuelle und Journalisten mit ganz unterschiedlichen Ansichten und Erklärungsmustern zusammen. Zu den Teilnehmern zählen neben anderen die Trägerin des Literaturnobelpreises Herta Müller, die den Einführungsvortrag halten wird, die Philosophen Slavoj Žižek aus Slowenien und Didier Eribon aus Frankreich, der niederländische Soziologe Paul Scheffer, die englisch-türkische Schriftstellerin Elif Shafak, die vielfach ausgezeichnete deutsche Theaterregisseurin und -intendantin Shermin Langhoff sowie die Journalisten Beppe Severgnini aus Italien, Lukas Warzecha aus Polen und Martin Ehl aus Tschechien.

Besonderheit: 42 Studierende als gleichwertige Akteure
Eine Besonderheit der Konferenz ist deren aktive Gestaltung durch rund 40 Studierende aus ebenso vielen Ländern. Sie wurden in einer öffentlichen Ausschreibung ermittelt und nehmen heute und morgen an den Diskussionen teil. Das heißt: Bei jedem Diskussionsblock werden zehn von ihnen in Dialog mit den Rednern treten. Wir versprechen uns davon, dass die etablierten Perspektiven der Politologen, Professorinnen und Kulturschaffenden auf dem Podium ergänzt und kontrastiert werden durch Wahrnehmungen und Analysen, die noch nicht arriviert, noch nicht abgeschlossen sind. Und die – angesichts der Jugend derer, die sie einbringen - in die Zukunft weisen. Umgekehrt hoffen wir, dass die Studierenden das, was sie sich während der Konferenz aneignen, was sie dort lernen und aufnehmen, weiter tragen.  Dass sie darüber mit ihren Kommilitonen zuhause sprechen, es in ihren Netzwerken teilen und auf diese Weise der Konferenz eine besondere Form von Nachhaltigkeit verleihen.

Mit dabei sind Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus Irland und Zypern, aus Armenien und Mazedonien, aus Polen und den Niederlanden, aus Slowenien und Deutschland, und zahlreichen Ländern mehr. Einige von ihnen haben Migrationserfahrungen gemacht. Die Internationalität ist uns auch deshalb wichtig, weil wir uns sicher sind, dass sich die Entwicklungen in unterschiedlichen europäischen Ländern – besonders in denen Ost- und Westeuropas - zwar bisweilen gleichen mögen, aber unterschiedliche Ursachen und Hintergründe haben und auch ungleichzeitig ablaufen. Die Studierenden übernehmen außerdem die Aufgabe, ein Manifest mit ihren Visionen einer besseren europäischen Zukunft zu verfassen, welches sie zum Abschluss von European Angst präsentieren.
 
Warum veranstaltet ausgerechnet das Goethe-Institut diese Konferenz?
Seit der Gründung des Goethe-Instituts 1951 hat sich das Verhältnis der europäischen Staaten zueinander gravierend verändert: Grenzen waren gefallen oder zumindest durchlässiger, Frieden und Verständigung in weiten Teilen Europas Normalität geworden. Die traditionelle Vermittleraufgabe der Kulturinstitute schien erfüllt.

In den letzten knapp zehn Jahren ist die positive Entwicklung jedoch in vielerlei Hinsicht rückläufig: Man denke an die Finanz- und Wirtschaftskrise oder die Unfähigkeit der Mitgliedsstaaten, für die Flüchtlingskrise eine gemeinsame Lösung zu finden – als Symptome einer fundamentalen Krise Europas, die eine Rückbesinnung auf den Ausgangpunkt der Integration unabdingbar macht: Europa als kulturelles Projekt.  Blaise Pascal hat den Satz geprägt: „Vielfalt, die sich nicht zur Einheit ordnet, ist Verwirrung. Einheit, die sich nicht zur Vielfalt gliedert, ist Tyrannei.“ In einigen Ländern Europas erleben wir, dass Vielfalt unerwünscht ist und unterdrückt wird. Der Einsatz für den Kulturdialog zwischen europäischen und mit außereuropäischen Nachbarn, die Förderung des Konzepts der Mehrsprachigkeit und die fortlaufend kritische Beleuchtung der eigenen Einstellungen und Werte bleiben deshalb zentrale Aufgaben für das Goethe-Institut und für Europa. Deutschland, in der Mitte Europas, mit neun Nachbarländern, kommt dabei eine besondere Rolle zu. Als Kulturinstitut fühlen wir uns mitverantwortlich für den europäischen Kulturraum, für Europa als Bildungsprojekt.

Zugleich hat die Initiative für diese Konferenz auch mit einer Frage zu tun, die wir als Goethe-Institut an uns selbst stellen: Wie positionieren wir uns, die wir uns den Werten von Austausch, Dialog, Begegnungen, Akzeptanz und interkulturellem Miteinander verpflichten, wenn diese Werte so massiv unter Beschuss geraten wie zurzeit? Wenn die Idee einer sich beständig selbst aufklärenden Aufklärung, zu der wir uns selbst aufrufen, auf so wenig Gegenliebe stößt wie im Augenblick? So zu tun, als wäre nichts, ist eine denkbar schlechte Lösung. Nicht zuletzt auch deshalb, weil manche Kollegen, die für andere europäische Kulturinstitute arbeiten, unter Druck stehen, da ihre Institute umstrukturiert werden – hin zu Repräsentationsplattformen, die ein positives Bild einer jeweiligen Nationalkultur liefern sollen.
 
Zugleich befinden wir uns in einer überaus glücklichen Position, denn wir erfreuen uns weitgehend politischer Unabhängigkeit. Das bedeutet: Wir können Räume für kritisches Denken öffnen. Wir können beides in Frage stellen – zum einen den technokratischen Diskurs derer, die keine Alternative zum neoliberalen Projekt sehen wollen, die Selbstgewissheit der etablierten Politiker, die Hermetik einer EU, die wichtige Entscheidungsprozesse nicht transparent werden lässt. Zum anderen die populistischen Reaktionen darauf, den Hass auf Minderheiten, die Verrohung der öffentlichen Rede, den Chauvinismus.
Der Philosoph Didier Eribon, einer der Teilnehmer der Konferenz, legt in seinem autobiographischen Buch „Rückkehr nach Reims“ überzeugend dar, warum sich so viele Menschen in Frankreich vom Front National vertreten fühlen. Er tut dies, ohne sich je bei diesen Menschen oder gar bei der Partei Marine Le Pens anzubiedern. In einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ hat er im Juli folgendes gesagt: „Das Problem ist, dass Europa von einer Klasse regiert wird, die der britische Autor Tariq Ali einmal die "extreme Mitte" genannt hat: Diese Leute glauben, dass das, was den gut ausgebildeten Menschen in den Metropolen nützt, automatisch gut für alle ist. Das ist offensichtlich falsch: Es gibt in Europa sehr viele Menschen, die marginalisiert sind, die verzweifelt sind, die über das, was in ihrem Leben vor sich geht, wütend sind. Die nicht nur keine Arbeit haben, sondern die sich auch nicht mehr vorstellen können, dass sie jemals wieder einen Job bekommen werden oder dass es ihren Kindern eines Tages besser gehen wird..“
 
Als Goethe-Institut sollten wir uns davor hüten zu glauben, dass das, was den gut gestellten, gebildeten Menschen in den städtischen Zentren nützt, wie von Zauberhand allen nützt. Wir sollten uns der Herausforderung stellen und über unsere eigene Rolle nachdenken, indem wir anerkennen, dass unsere Wertvorstellungen nicht selbstverständlich von allen geteilt werden. Und wir sollten auch im Blick behalten, dass Kultur nicht per se den Werten des Miteinanders und des Austauschs verpflichtet ist. Sie lässt sich sehr wohl in den Dienst ausgrenzender, chauvinistischer Programme stellen. Eine Auseinandersetzung damit und die Selbstbefragung sind nötig. Vielleicht wird an deren Ausgang nicht das Ergebnis stehen, dass wir wissen, wie wir diejenigen erreichen, die in Reims Front National wählen oder in Debrecen Jobbik.
So viel aber ist klar: Besser zu verstehen, warum all dies geschieht, ist die Grundlage für unsere zukünftige Arbeit. Je stärker European Angst Prozesse der Reflexion und Selbstreflexion anstößt, umso eher erreichen wir dieses Verständnis und umso eher finden wir Wege aus der Angst und aus der Starre.
 
Mein herzlicher Dank für diese Initiative gilt der Leiterin des Goethe-Instituts und Europabeauftragten Susanne Höhn, der Programmleiterin Cristina Nord und ihrem ganzen Team!

Weiter danke ich unseren Partnern für die gute Zusammenarbeit:
  • European Movement International, das sich maßgeblich um die Auswahl der Studierenden gekümmert hat
  • EUNIC Brussels & EUNIC Global
  • BOZAR, wo wir heute zu Gast sein können
  • Istituto Italiano di Cultura Bruxelles
  • Centre culturel tchèque à Bruxelles
  • Polish Institute. Cultural Service of the Embassy of the Republic of Poland in Brussels.
  • Alliance Franaise und Ambassade de France en Belgique
  • Evens Foundation (Sponsor BOZAR)
  • euobserver (Medienpartner)
Die Konferenz – und damit die Diskussion – ist eröffnet!

Vielen Dank.

Es gilt das gesprochene Wort.

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