29. Januar 2019
Die deutsche Sprache, ihr Wortschatz und internationale Spracharbeit
Rede des Präsidenten des Goethe-Instituts Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann
Die deutsche Sprache ist nicht d i e Weltsprache – hier werden wir der englischen Sprache den Rang als lingua franca nicht streitig machen – aber ohne Zweifel ist sie eine der bedeutendsten Kultursprachen in der Welt. Ohne das Englisch als internationaler Kongress- und Publikationssprache kommen wir mittlerweile nicht mehr aus. Sie ist eine internationale Verkehrssprache geworden. Das hat sicher auch zu einer Bereicherung des internationalen Wissensaustausches geführt. Aber die Beschränkung auf eine lingua franca bedeutet immer auch eine kognitive Einschränkung und vor allem den Ausschluss von Laien. Ich halte es bei der Sprache mit Wilhelm von Humboldt, der sinngemäß gesagt hat, jede Sprache, die ich erlerne, öffnet mir eine neue Welt.
Den Weg, den die deutsche Sprache gegangen ist, ist von einer hohen Wertschätzung der sprachlichen Vielfalt geprägt. In der langen Sprachgeschichte gab es keine zentrale Instanz, keine Akademie, keine Einzelperson, die die Regeln bestimmte. So wie etwa in Frankreich, wo die Französische Revolution die einheitliche Sprache postulierte und sie über die Akademie kontrollierte. Die Einsicht, dass Sprache und Denken eng miteinander verbunden sind, wurde als Grundsatz der Erziehungspolitik für die Vereinheitlichung und gegen abweichende Dialektformen durchgesetzt. Damit sollte ein Bekenntnis zur Republik erreicht werden.
Deutschland war den anderen Weg gegangen, den Weg, den Martin Luther einmal so beschrieben hat: dem Volk auf’s Maul schauen. Jürgen Trabant hat die sprachliche Entwicklung als Sprachliebe bezeichnet. Und in der Tat, Deutschlands bedeutendste Sprachdenker – Leibniz, Herder und Humboldt – hatten Respekt und Interesse für poetisches Denken und die Verschiedenheit der Sprachen gelehrt. Deutschland betrieb die Entwicklung der Hochsprache ohne die Sympathie für die Vielfalt der Dialekte zu opfern.
Zwar stand am Anfang Martin Luther als kraftvoller Sprachschöpfer, aber die neuhochdeutsche Schriftsprache wurde durch verschiedene Einflüsse mitgeprägt, so durch den deutschen Südwesten mit seinen Buchdruckern, der vielfach Sprachnormen setzte, aber auch andere Entwicklungen trugen dazu bei. Deutsch ist so etwas wie das Abbild unseres Föderalismus, eine ungemein lebendige und vielfältige Sprache mit einem reichhaltigen und differenzierten Wortschatz.
Nicht zuletzt deshalb wurde die rasante Entwicklung der Wissenschaften im 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch die Wissenschaftssprache Deutsch befördert. Sie ist ein historisch gewachsenes, traditionsreiches und komplexes Gut, präzise in den Ausdrucksformen der exakten Wissenschaften und zugleich vieldeutig in der Literatur und Poesie. Wissenschaftliche Theorien arbeiten häufig mit Wörtern, Bildern und Metaphern, die der Alltagssprache entstammen. Eine lebendige Sprache ist in der Lage, sprachschöpferisch Neues zu bezeichnen. So kann sich Wissenschaft der Gesellschaft mitteilen und umgekehrt. Wird diese Verbindung gekappt, können die Wissensteilhabe und die gesellschaftliche Legitimation schnell schwinden. Es wäre sicher von Interesse, die Wechselbeziehungen zwischen Sprache und wissenschaftlicher Erkenntnis näher zu untersuchen. Je weniger in der Wissenschaft deutsch gesprochen wird, desto weniger wird die Gesellschaft über Wissenschaft sprechen.
Die Bedeutung der deutschen Sprache ist durch die politischen Ereignisse im 20. Jahrhundert, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg und durch die Gräueltaten während der nationalsozialistischen Zeit sehr zurückgegangen. Aus Sprachliebe wurde Sprachscham und im Ausland war Deutsch die Sprache der Unmenschen. Es war ein langer Weg, bis Deutsch in der Welt wieder gleichgesetzt wurde mit Kultur, Wissenschaft, Zivilisation und Völkerverständigung. Die Deutschen selbst haben nach Überwindung ihrer Sprachscham dann zu einer Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Sprache gefunden. Aber es ist mit der Sprache ähnlich wie mit anderen Kulturgütern: Mangelnde Aufmerksamkeit macht sie weniger attraktiv, macht sie weniger reich und ausdrucksstark. Der Status der Sprache sinkt, und es reduziert sich das, was man den Ausbau der Sprache nennt. Deshalb muss uns beschäftigen, was die Gleichgültigkeit mit uns macht! Sie beschädigt die Glaubwürdigkeit unserer Sprachpolitik. Die Sprachpolitik in Deutschland hat ihre direkte Auswirkung auf die Sprachvermittlung im Ausland. Die deutsche Sprache ist kein Selbstläufer, man muss in sie investieren und eine aktive Sprachpolitik betreiben. Und man muss bei den jungen Menschen anfangen.
Es geht nicht darum, zum x-ten Mal mit großer Leidenschaft allgemeine Erklärungen zu formulieren oder Appelle zu veröffentlichen, die Leidenschaft für die deutsche Sprache muss sich in praktischen Maßnahmen und konkreten Initiativen zeigen.
Als Goethe-Institut ist es uns ein besonderes Anliegen, das Zusammenspiel von Innen und Außen zu verhandeln. Wenn wir in Deutschland die Verantwortung für die eigene Sprache ernst nehmen, dann erleichtern wir auch den Deutschlehrern, den Sprachdozenten an Universitäten und vielen, die sich im Ausland aus Enthusiasmus für die Fremdsprache Deutsch einsetzen, das Geschäft der Sprachvermittlung. So kann glaubwürdig gearbeitet werden.
Es lässt sich inzwischen feststellen, dass eine neue Aufmerksamkeit und Zuwendung der deutschen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit gegenüber der deutschen Sprache eingesetzt hat. In Deutschland hat man aufgrund der verstärkten Zuwanderung begriffen, dass der Schlüssel zur Integration die deutsche Sprache ist. Die entsprechenden Voraussetzungen dafür zu schaffen ist eine entscheidende Bedingung für eine offene und verantwortliche Gesellschaft. Das hat auch für die Deutschen den Wert ihrer Sprache verdeutlicht.
Im Ausland erleben wir weltweit eine Zunahme der Deutsch Lernenden. 100 Millionen Menschen sprechen Deutsch als Muttersprache und noch einmal so viele als Fremdsprache. Aktuell lernen derzeit 15,4 Millionen Menschen Deutsch. Allein bei den rund 160 Goethe-Instituten in der Welt hatten wir in den letzten fünf Jahren eine Steigerung von 20%, bei den Deutschprüfungen um 30%. Für neue Zugänge zur deutschen Sprache im Ausland setzen sich neben dem Goethe-Institut als Hauptvermittler auch die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen und der DAAD ein. Das Interesse an der deutschen Sprache ist immer besonders groß, wenn ihr fachlicher und beruflicher Nutzen erkennbar ist oder wenn sich kulturelle Interesse auf bestimmte Entwicklungen fokussieren lässt. Deutschland als Wissenschafts- und Bildungsstandort hat eine hohe Attraktivität.
Ein zusätzlicher Faktor zur Zunahme von Deutschlernenden wird sicher durch das künftige Fachkräftezuwanderungsgesetz ausgelöst werden. Schon jetzt bietet das Goethe-Institut in Südostasien und Südosteuropa Deutschkurse für Pflegepersonal an.
Insgesamt lässt sich feststellen, die Tendenz ist in den meisten Ländern steigend, in einigen konstant. Es gibt auch ein paar Ausreißer nach unten, besonders deutlich war das bei Russland. Das war einem besonderen Umstand geschuldet. Bis vor einigen Jahren war Deutsch die erste Fremdsprache in den Schulen. Sie wurde durch Englisch per Dekret abgelöst. Das führte russlandweit zu einem dramatischen Einbruch. Ende 2015 sprach sich das russische Bildungsministerium dafür aus, dass jeder Schüler zukünftig zwei Fremdsprachen lernt. Das Goethe-Institut unterstützte dieses Ziel mit einer Kampagne „Deutsch: die erste Zweite“. Die eng miteinander verzahnten Module decken die gesamte Biografie von Deutschlernern im Alter von acht bis 17 Jahren ab und entsprechen den russischen Bildungsstandards. 2017 schlossen sich dieser Initiative 38 Regionen an und durch Kooperationsverträge mit den Bildungsverwaltungen und Lehrerfortbildungsinstituten verbindlich. Damit konnte der Trend umgekehrt werden. Wir schreiben wieder steigende Zahlen. Unterstützt wurden die Maßnahmen noch durch ein Jahr der deutschen Sprache. Solche Kampagnen werden auch in anderen Ländern durchgeführt, beispielsweise in den USA, ein Land, das wenig in Fremdsprachen investiert und in dem Deutsch als Fremdsprache keinen einfachen Stand hat. Die Germanistiklehrstühle an den Universitäten oder Lehrbeauftragte für Deutsch als Fremdsprache sind unter Druck geraten. Das Goethe-Institut hat im Oktober 2018 als Projektleiter gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesverband der Deutschen Industrie ein Deutschlandjahr gestartet, das mit 1000 Veranstaltungen in allen 50 US-Bundesstaaten präsent sein wird. Dabei spielt auch die deutsche Sprache eine wichtige Rolle. Als fahrbares Werbe-Vehikel für die deutsche Sprache tourt ein Wanderbus quer durch die USA. Er wird an 60 Highschools und Universitäten Station machen. An Bord sind Lern- und Bildungsprofis, die mit informativen Präsentationen Schülerinnen und Schüler dazu motivieren, erste Erfahrungen mit der deutschen Sprache zu sammeln. Es gibt zusätzlich ein erfolgreiches Schüleraustauschprogramm GAPP (German American Partnership Program) bei dem jährlich etwa 6000 Schülerinnen und Schüler in beide Richtungen gehen.
Interessant in der osteuropäischen Region ist ein Projekt, das trotz der politischen Spannungen ein großartiger Erfolg wurde. Es ist die Internationale Digitale Netzwerkuniversität, an der sich zehn Universitäten aus Georgien, Russland, der Ukraine, Österreich und Deutschland beteiligen. Das Auswärtige Amt unterstützt das Projekt im Rahmen des Programms „Östliche Partnerschaften“. Wissenschaft kann mit digitalen Anwendungen die physischen Ländergrenzen überwinden. Gegen den politischen Druck haben sich die Universitäten behauptet. Ein Zeichen für internationale Zusammenarbeit und Konfliktprävention und ein Loch in der Mauer. Begonnen hat dieses weltweit einmalige Projekt, das überwiegend in deutscher Sprache geschieht, im Wintersemester 2018/19. Die Einschreibungen sind beeindruckend. Es soll eine dauerhafte Zusammenarbeit sein, die möglichst noch erweitert werden soll. Die Prüfungen werden regulär angerechnet. Die Digitale Netzwerkuniversität will mit Weltoffenheit, Verantwortung und kultureller Vielfalt einen Gegenentwurf zu nationalistischen Tendenzen sowie wissenschaftliche Erkenntnisse gegen alternative Fakten setzen. Betreut wird das Projekt vom Goethe-Institut Moskau.
Ein weltweites Erfolgsmodell sind die sogenannten PASCH-Schulen, Schulen Partner für die Zukunft, vor zehn Jahren durch das Auswärtige Amt initiiert. Das Goethe-Institut unterstützt von den rund 2000 PASCH-Schulen etwa ein Drittel, die anderen werden von der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen betreut. Es werden in den Schulen der Gastländer deutsche Sprachabteilungen aufgebaut, Lehrer fortgebildet und die Schulen mit Lehr- und Lernmaterial ausgestattet. Es gibt für die besten Schüler Sommercamps in Deutschland und über eine Online-Community bleiben sie in Kontakt. Es ist mehr als nur Deutsch lernen, es ist begeistern und Perspektiven schaffen. Für die Lehrkräfte und für die Schulleiter/innen gibt es Fortbildung und PASCH-Konferenzen. Schwerpunkte sind unter anderem China, Indien, Indonesien und Brasilien. Damit werden richtig große Zahlen gemacht! Wie hoch die Lernmotivation ist, kann man an der Internationalen Deutscholympiade erleben, weltweit der größte Wettbewerb der deutschen Sprache. Sie findet alle zwei Jahre statt, zuletzt im Juli 2018 in Freiburg, organisiert vom Goethe-Institut und dem Internationalen Deutschlehrerverband. Ausgezeichnet werden Lehrer für besonders innovativen Unterricht und Schüler für ihre überzeugenden Präsentationen in drei Sprachniveaus.
Deutsch lernen kann man auch in Deutschland. Hier sind die 12 Goethe-Institute Marktführer für Sprachreisen für Erwachsene und für Prüfungen.
Der Erfolg muss jedoch immer wieder neu errungen werden. Es gibt gerade in dem Anwendungsgebiet der Sprachvermittlung erhebliche Veränderungen. Dazu zählen der gestiegene Bedarf an Lehrkräften, das Lehren und Lernen mit digitalen Medien und nicht zuletzt die gestiegenen Qualitätsanforderungen.
Das Goethe-Institut verfügt mit dem Grünen Diplom und dem Grünen Fortbildungsportfolio über ein eigenes Aus- und Fortbildungsprogramm, das weltweit einheitlich und standardisiert für Lehrkräfte im Ausland durchgeführt wird. Auf diese Weise sind unsere Lehrkräfte in der Lage, Deutsch auf medial und methodisch modernste Weise zu unterrichten. Digitale Medien werden konsequent eingesetzt. Zwischen 2006 und 2018 haben insgesamt ein Drittel der Lehrkräfte das Grüne Diplom an Goethe-Instituten im Ausland absolviert. 2018 kamen 1600 Lehrerinnen und Lehrer aus der ganzen Welt nach Deutschland, um ihre Lehrkompetenz zu erweitern. Die Programme zur Lehrerfortbildung müssen deutlich ausgeweitet werden. Dabei spielt das Fortbildungsprogramm „Deutsch Lehren Lernen“ eine große Rolle. Hier sind insbesondere die Online-Fortbildungsprogramme zu betonen.
Digitale Plattformen sind für das Goethe-Institut immer stärker im Fokus. In über 10 000 Kursen auf der Lernplattform sind aktuell 120 000 Deutschlerner in Sprachkursen aktiv. Aber auch Spiele und Games zählen zu Lernpfaden, die wir mit Erfolg und mit Freude am Lernen einsetzen. Die erste Lernspielapp „Das Geheimnis der Himmelsscheibe“, die 2011 erschien, wurde mehr als eine Million Mal heruntergeladen. Lernerinnen und Lerner werden zu Netzagenten und lernen spielerisch die Lebenswirklichkeit von deutschen Jugendlichen kennen – und lernen Deutsch. Es gibt auch berufsorientierte Bausteine für Mediziner, Altenpflege usw. Diese Bausteine werden durch das künftige Fachkräftezuwanderungsgesetz schrittweise erweitert. Als Erstes soll 2019 ein innovatives Anwerbe- und Fortbildungsprogramm dazu beitragen, weltweit neue Lehrkräfte zu gewinnen. Schnelle Qualifizierung ohne Qualitätsverlust bei der Ausbildung – das ist hier die Herausforderung. Ein zweiter Schwerpunkt betrifft die Intensivierung von Programmen für Hochqualifizierte wie zum Beispiel die „Studienbrücke“, die gemeinsam mit dem DAAD Studieninteressierte in der Schule im Herkunftsland auf ihr Studium in Deutschland vorbereitet und den erfolgreichen Absolventinnen und Absolventen Kontingentplätze an Partneruniversitäten in Deutschland garantiert. Zusätzlich wird zur Zeit am Aufbau eines digitalen Studienkollegs gearbeitet, das nach Schulabschluss im Herkunftsland auf ein Studium in Deutschland vorbereitet. Um ein breit aufgestelltes, weltweit abrufbares Potenzial deutschsprechender Fachkräfte mittel- und langfristig aufzubauen, ist auch eine Verstärkung der Förderung von Deutschunterricht an öffentlichen Schulen erforderlich, hier insbesondere an Berufsschulen.
Die Qualität der Sprachvermittlung ist einerseits abhängig von methodischen, didaktischen und technischen Bedingungen, andrerseits ist der Ausdrucksreichtum einer Sprache durch ihren Wortschatz gegeben, der im Deutschen so umfassend und differenziert ist wie in kaum einer anderen Sprache. So hat eine hier an der BBAW vor einigen Jahren entstandene Untersuchung gezeigt, dass in dem zu Grunde gelegten umfangreichen Corpus der deutschen Gegenwartssprache mehr als fünf Millionen verschiedener Wörter vorkommen. Das ist fast ein Drittel mehr, als in einem vergleichbaren Corpus von vor hundert Jahren belegt sind. Das zeigt, wie dynamisch sich der deutsche Wortschatz in den letzten hundert Jahren entwickelt hat und sicherlich weiter entwickeln wird. Da die deutsche Sprache – wie wir gehört haben – über keine Zentralinstanz verfügt, die über die Reinheit der Sprache wacht, ist es umso wichtiger verlässliche Informationen über Schreibweise, Aussprache, Bedeutungen, grammatische Eigenschaften, regionale wie stilistische Variationen zu haben. Sie gibt den Lehrenden und den Lernenden erst die Sicherheit über eine korrekte Qualität. Haben wir doch, werden vielleicht einige von Ihnen wissen: der Duden, der Wahrig, das Grimmsche Wörterbuch. Das war einmal. Die Verlage können diese großartige Tradition aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr fortsetzen, die Lexikaabteilungen sind großenteils geschlossen. Und das Grimmsche Wörterbuch mit seinen 32 Foliobänden und den rund 350 000 Wörtern, deren Bedeutung es beschreibt und mit Belegen versieht, war bereits überholt, bevor die jeweiligen Bände erschienen sind. Ohne eine angemessene Darstellung des Wortschatzes wird die Sprache verwildern und keine standardisierten Bezugspunkte mehr bieten.
Das zu leisten, ist nicht mehr in Fom eines klassischen gedruckten Wörterbuchs möglich, und sei es auch noch so umfangreich. Der Grimm hat zu seiner Bearbeitung über hundert Jahre erfordert. Das Ergebnis ist ein wissenschaftliches Meisterwerk. Aber so beeindruckend der Grimm auch ist - er umfasst nicht einmal ein Zehntel der Wörter, die im Gegenwartsdeutschen vorkommen. Und er beschränkt sich auf knappe Bedeutungsangaben und zahlreiche Belege; viele andere Eigenschaften der Wörter, beispielsweise die Aussprache, die Flexionsweise oder die grammatischen Merkmale, werden gar nicht behandelt. Sie zu kennen, ist aber beispielsweise für einen Deutschlerner nicht weniger wichtig als die Bedeutung. Hier muss man methodisch anders vorgehen, nicht dadurch, dass man die Sorgfalt und die Expertise des Lexikographen preisgibt, sondern indem man sie durch die Mittel ergänzt, die uns die die digitalen Techniken an die Hand geben. So wird es auch möglich, rasch auf Veränderungen der Sprache zu reagieren, und ebenso wird es möglich, sich dem Bedarf und den Wünschen der unterschiedlichen Nutzer zu anzupassen. Ziel muss es daher sein, ein digitales Informationssystem zu entwickeln und zu betreiben, das den deutschen Wortschatz umfassend und verlässlich beschreibt und nutzerfreundlich anbietet, dabei auf die laufende Aktualisierung der Sprachveränderungen achtet und auch die bereits vorhandenen Wörterbücher einarbeitet. Dieses digital verfügbare lexikalische System muss über das Internet jedermann zugänglich sein. Sinnvoll ist es, durch modularen Aufbau verschiedene Forschungsstätten zu beteiligen und auch Nutzer selbst in die Entwicklung einzubinden. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften hat bereits mit dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache entscheidende Vorarbeiten geleistet. Es muss jedoch erheblich ausgebaut werden. Dazu eignet sich für die Aufbauphase eines Zentrums für digitale Lexikographie der deutschen Sprache die Schirmherrschaft der Union der deutschen Akademien. In der Aufbauphase sollten bereits feste Kooperationen mit einer Reihe von Einrichtungen eingegangen werden, die auf dem Gebiet tätig sind, sei es, weil sie selbst lexikographisch arbeiten oder weil sie für die Nutzung der lexikalischen Ressourcen von Bedeutung sind. Das könnten sein: Das Institut für Deutsche Sprache in Mannheim, die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und das Goethe-Institut in München. Aus meinen Ausführungen zur Sprachvermittlung im Ausland ist sicher deutlich geworden, wie entscheidend die Vermittlungsqualität von einem gesicherten Wortschatz abhängt. Wir haben diese Entwicklung eines solchen Zentrums in denen Instrumentarien des Goethe-Instituts bereits berücksichtigt, wir haben auch bereits bei einigen Programmen Schnittstellen zum Zentrum für digitale Lexikographie vorgesehen, etwa bei der digitalen Lernplattform oder bei der Digitalen Netzwerkuniversität. Damit können bessere Wortschatzhilfen für die Onlinekurse bereitgestellt werden. Für das Zentrum seinerseits eröffnet sich mit dieser Kooperation der Zugang zu einer der wichtigsten Nutzergruppen von Wörterbüchern – den Deutschlernern aus aller Welt. Lassen Sie mich die Vorteile diese Kooperation für den Deutschunterricht im In- und Ausland, aber auch für die Wörterbuchmacher selbst an drei kurzen Beispielen erläutern:
- In dem digitalen Wörterbuch sind die Informationen zu einem Wort und die Belege, auf denen diese Informationen beruhen, direkt miteinander verbunden; jeder kann sich über das Internet beides nach Belieben ansehen. Auch wenn daher ein Wort noch nicht umfassend, ja, vielleicht sogar überhaupt noch nicht beschrieben ist, kann sich jeder ein gutes Bild von seiner Verwendung und damit seiner Bedeutung, seiner üblichen Schreibweise und seinen grammatischen Eigenschaften machen. Das ist für Deutschlerner ebenso wichtig wie beispielsweise für Übersetzer.
- Im digitalen Wörterbuch wird die Aussprache nicht durch eine Lautschrift umschrieben, die in der Praxis immer nur eine Annäherung bieten kann, sondern durch professionelle Sprecher eingesprochen. Das gibt den Deutschlernenden in aller Welt nicht nur eine weitaus besser Vorstellung, wie ein Wort tatsächlich klingt, sondern macht es auch möglich, es überprüfbar nachzusprechen und die eigene Aussprache mit dem Original zu vergleichen.
- Nutzer in aller Welt können jederzeit Lücken, Fehler und Unstimmigkeiten melden sowie eigene Korrekturvorschläge machen und so wesentlich zur Verbesserung des Wörterbuchsystems beitragen. Anders als beim klassischen Wörterbuch können diese Anregungen nämlich sofort zur Korrektur und zur Ergänzung berücksichtigt werden.
Johann Wolfgang von Goethe soll bei diesem Thema das letzte Wort haben. Er schreibt in seinen Maximen und Reflexionen: „Die Muttersprache zugleich reinigen und bereichern ist das Geschäft der besten Köpfe. Reinigung ohne Bereicherung erweist sich oft als geistlos; denn es ist nichts bequemer als von dem Inhalt abzusehen und auf den Ausdruck zu passen. Der geistreiche Mensch knetet seinen Wortstoff, ohne sich zu bekümmern, aus was für Elementen er bestehe; der geistlose hat gut rein sprechen, da er nichts zu sagen hat.“
Es gilt das gesprochene Wort!