20. August 2019
Fünf Millionen Wörter

Beitrag des Präsidenten des Goethe-Instituts Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann im Berliner "Tagesspiegel" mit dem Untertitel: Die deutsche Sprache in der Welt: Immer mehr Menschen erlernen sie

Die deutsche Sprache erlebt derzeit eine interessante globale Entwicklung. Seit einigen Jahren nimmt die Zahl derer, die Deutsch lernen, in der Welt zu. Immer dann, wenn der fachliche und berufliche Nutzen der Sprache erkennbar ist oder wenn sich kulturelles Interesse auf bestimmte Entwicklungen fokussieren lässt, wirkt sich das international aus. Hinzu kommt die Migration, bei der die deutsche Sprache der Schlüssel zur Integration ist und eine zusätzliche Aufmerksamkeit erhält.

Das bedeutet nun nicht, dass die deutsche Sprache dem Englischen den Rang als Nummer eins als Weltsprache streitig macht. Ohne Englisch als internationale Verkehrssprache wäre Verstehen und Verständigen weltweit kaum möglich. Das Deutsche ist aber ohne Zweifel eine der bedeutendsten Kultursprachen.

Unser Wortschatz ist so umfassend und differenziert wie in kaum einer anderen Sprache. Eine Untersuchung hat kürzlich gezeigt, dass in dem zugrunde gelegten Korpus der deutschen Gegenwartssprache mehr als fünf Millionen Wörter vorkommen. Das ist fast ein Drittel mehr als in einem vergleichbaren Korpus von vor 100 Jahren. Und es zeigt, wie dynamisch die deutsche Sprache ist. Deutsch ist also ein historisch gewachsenes, traditionsreiches und komplexes Gut, präzise in den Ausdrucksformen der exakten Wissenschaften und zugleich vieldeutig in der Literatur und Poesie, eine lebendige Sprache, die sprachschöpferisch Neues schaffen kann.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch war die Bedeutung des Deutschen überragend, besonders in den Wissenschaften. Aber nach dem Ersten Weltkrieg und durch die Gräueltaten der nationalsozialistischen Zeit erlebte die deutsche Sprache einen massiven Rückgang. Sie wurde zur Sprache der Unmenschen. Die Deutschen schämten sich ihrer Sprache. Es war ein langer Weg, bis Deutsch in der Welt wieder gleichgesetzt wurde mit Kultur, Zivilisation, Wissenschaft und Völkerverständigung.

Aber es ist ähnlich wie mit anderen Kulturgütern: Mangelnde Aufmerksamkeit macht sie weniger attraktiv, weniger ausdrucksstark. Der Status der Sprache sinkt, sie wird in der Bedeutung eher einem Dialekt ähnlich. Wenn wir in Deutschland die Verantwortung für die eigene Sprache ernst nehmen, dann erzeugt das auch im Ausland eine Bereitschaft, sich dafür zu engagieren. Mehr Leidenschaft für die deutsche Sprache ist angebracht - und eine aktive Sprachpolitik zu betreiben. Problematisch ist der Stellenwert der eigenen Sprache in der Schulpolitik. Derzeit wird bei uns der Deutschunterricht reduziert anstatt erweitert, die Sprache mit ihren kulturellen und literarischen Bezügen eher zum Werkzeug einer Verkehrssprache degradiert.

Derzeit sprechen etwa 100 Millionen Menschen Deutsch als Muttersprache und noch einmal so viele als Fremdsprache. Aktuell lernen 15,5 Millionen Menschen auf der Welt Deutsch. Allein bei den rund 160 Goethe-Instituten in der Welt gab es in den letzten fünf Jahren eine Steigerung von 20 Prozent, bei den Deutschprüfungen um 30 Prozent. Insgesamt lässt sich feststellen, dass in den meisten Ländern eine steigende oder konstante Tendenz besteht. Im Inland wird ein zusätzlicher Faktor zur Zunahme von Deutschlernenden durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ausgelöst werden. Viele Wissenschaftler sehen eine direkte Beziehung zwischen Denken und Sprechen. Wilhelm von Humboldt formulierte sinngemäß: Jede Sprache, die ich erlerne, öffnet mir eine neue Welt.

Für neue Zugänge zur deutschen Sprache im Ausland setzen sich das Goethe-Institut, die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen und der DAAD ein. Neben den deutschen Auslandsschulen besteht seit 2008 mit dem Programm "Schulen - Partner für die Zukunft" ein weltweites Erfolgsmodell. In den inzwischen 2000 PASCH-Schulen werden deutsche Sprachabteilungen aufgebaut, Lehrer fortgebildet und die Schulen mit Lehr- und Lernmaterial ausgestattet. Schwerpunkte sind China, Indien, Indonesien und Brasilien.

Die Globalisierung war aber nicht immer hilfreich für die deutsche Sprache. So kam es in den Ländern, in denen Deutsch erste Fremdsprache war, zur Ablösung durch Englisch. Das gilt beispielsweise für Russland. Ende 2015 sprach sich das russische Bildungsministerium dafür aus, dass jeder Schüler zwei Fremdsprachen lernen soll. Damit konnte der Trend umgekehrt werden. Auch die "Deutschlandjahre" der Bundesrepublik mit ihren Kulturprogrammen werden genutzt, um Sprachpolitik zu machen. So wird derzeit in USA an 60 Highschools und Universitäten sowie mit einem Schüleraustauschprogramm Werbung für die deutsche Sprache betrieben, besonders für Naturwissenschaft und Technik.

Bei allem Optimismus, der sich aus den Zahlen ableiten lässt: Sorgen muss man sich um die deutsche Sprache als Wissenschaftssprache machen. Wissenschaftliche Beschreibungen arbeiten häufig mit Bildern oder Metaphern aus dem Alltag. So kann sich Wissenschaft der Gesellschaft mitteilen und umgekehrt. Wird diese Verbindung gekappt, können die Wissensteilhabe und die gesellschaftliche Legitimation schnell schwinden. Je weniger in der Wissenschaft Deutsch gesprochen wird, desto weniger wird die Gesellschaft in Deutschland über Wissenschaft sprechen.

Gestärkt werden kann die Wissenschaftssprache Deutsch nur dann, wenn maßgebliche Forschungsergebnisse in ihr erarbeitet und publiziert werden. Derzeit sind es wenige. Mehr als 90 Prozent dieser Veröffentlichungen entfallen auf die englische Sprache, die Nachweis-Datenbanken sind rein englisch. Einsprachigkeit in der Wissenschaft ist ein Verlust und immer eine kognitive Einschränkung. Ein nachhaltiges Plädoyer für Mehrsprachigkeit, eine wesentlich bessere Kenntnis über das Sprachwahlverhalten internationaler Wissenschaftler in Bezug auf das Deutsche und eine Art von Kartierung der Bedeutung der deutschen Sprache für verschiedene Fachdisziplinen - all das müsste erarbeitet werden.
 

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