Boylesque
Dieser bezaubernde Mann
Als Kunstform polarisiert Burlesque die westliche Gesellschaft seit Jahrhunderten. In seinem 1991 erschienenen Werk über Burlesque erkundet Robert C. Allen den transgressiven Charakter dieser Kunstform, der es ihr erlaubt hat, in einer Art Hegelscher Dialektik, eingebettet in Opposition zu konservativen Mainstream-Ideologien, ihren Weg durch die Geschichte zu finden. Von politischer Pantomime im viktorianischen England bis hin zur Zurschaustellung weiblicher Sexualität im Amerika des 20. und 21. Jahrhunderts erweitern und überschreiten Burlesque-Künstlerinnen und -Künstler Grenzen mit Eleganz und künstlerischem Flair.
Die jüngste Grenze, die Burlesque-Künstler innerhalb der urbanisierten Gesellschaft Australiens im Rahmen der Unterkategorie ‚Boylesque’ in Angriff genommen haben, ist die hegemoniale Männlichkeit. Die australische Sozialkommentatorin Annabel Crabb konstatierte 2015 als Problem, dass zum jetzigen historischen Zeitpunkt die Fortschritte des männlichen Geschlechts im Vergleich zu denen der weiblichen Identität stagnieren.
Dies bringt wiederum die Gesellschaft dort aus dem Gleichgewicht, wo männlich und weiblich zusammenarbeiten müssen, wie etwa in der heterosexuellen Kindererziehung. Als Konsequenz haben Begriffe wie ‚Frauen aus Plastik und Männer aus Pappe’ (aus Hanna Rosins Buch ‚Das Ende der Männer: und der Aufstieg der Frauen’, 2012) begonnen, in den feministischen Diskurs einzudringen, um den unausgewogenen Fortschritt zu beschreiben, der an den beiden Enden des Geschlechterspektrums erzielt wurde.
Alpha-Nouveau: Männlichkeit neu definieren
Boylesque (ein Wortspiel aus ‚Boy’ und ‚Burlesque’), auch unter dem Begriff ‚Bro-lesque’ oder einfach ‚Männliche Burlesque’ bekannt, ist als Performancekunst-Stil schwer zu definieren. Sie umfasst zu unterschiedlichen Anteilen die Grundstruktur der traditionellen weiblichen Burlesque sowie Neo-Burlesque und Performancekunst, insgesamt jedoch variiert die Interpretation von Künstler zu Künstler je nach individuellen Fähigkeiten und persönlichen Vorlieben.Adam Kassar, der unter dem Pseudonym ‚Dear Bobby’ auftritt, ist Boylesque-Künstler aus Sydney und war in Victoria Endrundenteilnehmer bei Mr Boylesque International 2014. Seine Leidenschaft für diese Kunstform entstand ganz spontan aus der Bewunderung für einen Boylesque-Kollegen, den Adam vor ein paar Jahren live erlebte, als er eine Freundin zu deren eigenem Burlesque-Debut begleitete. Seitdem ist es Dear Bobbys Raison d’Être, eine alternative Repräsentation des Alphamännchen-Konstrukts aufzuzeigen, die zu Unrecht im Schatten unserer Gesellschaft stand und steht. „Mir ging es [vor allem] darum, eine zeitgemäße Auffassung von männlicher sexueller Identität zu vermitteln; eine, die quer durch die Geschichte zwar dokumentiert ist, aber nie validiert oder als ‚gleichwertig’ mit den traditionellen braungebrannten und muskulösen Archetypen betrachtet wurde, die der griechischen Mythologie entstammen“, erklärt Adam.
Der gesamte Kunststil der Burlesque hat in jüngster Zeit in Form von Neo-Burlesque eine Renaissance erlebt, die sich dadurch auszeichnet, dass sie den Künstlern erlaubt, eine Botschaft zu vermitteln – mit dem Ziel, gesellschaftliche Normen infrage zu stellen, wie Burlesque-Fotograf Sean Scheidt erklärt. Dear Bobby agiert unter diesem Dachbegriff ‚Neo’, indem er einen eklektischen Pastiche des vergangenen Jahrhunderts präsentiert, die nach eigener Aussage darauf abzielt, das Verständnis seines Publikums von sozialem Geschlecht und Sexualität als auf einem Spektrum existierend statt als fixes Binärsystem zu erweitern. Dies gelingt ihm durch einen stilisierten Striptease, der maskuline und feminine Symbolik und Bewegungen vereint.
Angesichts einer Mode-Ausbildung und einer vielversprechenden Karriere als Künstler in den Bereichen digitales und praktisches Design versteht sich von selbst, dass Dear Bobby viel Zeit auf das Kuratieren einer Garderobe verwendet hat, die er spielerisch einsetzen und auf seinem Körper neu arrangieren kann, um neue Bedeutungen zu kreieren.
Alles, was er trägt – vom rohseidenen Abendmantel aus den 1920er-Jahren, den er von dessen ursprünglichem Besitzer erworben hat, bis hin zu dem eher ungewöhnlichen Ensemble, das vor allem aus seinem weiterverarbeiteten Neoprenanzug aus Kindertagen besteht –, hat eine Geschichte und einen Grund für seine Verwendung. Dear Bobby zu beobachten, wie er während unseres Fotoshootings von Kostüm zu Kostüm wechselt, ist, als sähe man einem Leierschwanz zu, der die Geräusche des umliegenden Waldes absorbiert und interpretiert. Jede Pose ist eine spezifische Bezugnahme auf eine bestimmte Zeit, was sich auch in dem Moodboard widerspiegelt, das er im Vorfeld unseres Treffens zusammenstellte und das emblematische Bilder aus einer Vanity-Fair-Unterwäschekampagne aus den 1950er-Jahren enthielt.
Sydneys kultureller Einfluss auf die Boylesque-Szene
Boylesque kann jedoch nicht in einem Vakuum existieren, das lediglich die Gesellschaft reflektiert, und tut dies auch nicht. Die Wechselwirkung zwischen der Boylesque-Gemeinde, Sydneys lebendiger Queer-Kultur und der breiteren Gesellschaft hat einen Synergieeffekt auf ihre interne Kultur. Australiens geografisch isolierte Lage hat die Tendenz, Kunstformen wie Burlesque zu beeinflussen, die es auch international gibt. Im Fall von Boylesque glaubt Dear Bobby, dass dies innerhalb der Branche zu einer enger verbundenen Gemeinschaft führt. „Es ist eine sehr stark inklusive, aus beiden Geschlechtern bestehende Branche. Ich bewundere dieses Konzept sexueller Einigkeit, da es anerkennt und bekräftigt, dass innerhalb der Branche keines der beiden Geschlechter überlegen ist, und das ist keine allgemein akzeptierte Ansicht“, erklärt er.Dear Bobby präsentiert seine Soloauftritte regelmäßig bei Events wie ‚Mr Falcon’s Burlesque’ im Inneren Westen von Sydney, bei denen sowohl männliche wie weibliche Burlesque-Künstler die Gelegenheit haben, in intimer Atmosphäre mit neuem Aufführungsmaterial zu experimentieren, egal, ob es sich dabei um traditionelle oder um Neo-Burlesque handelt. Mr Falcon’s Burlesque findet in einer historisch angehauchten Kneipe statt und wird von Burlesque-Kollegin Memphis Mae moderiert. Beim Besuch dieser Art von Show wird offensichtlich, dass Sydneys Burlesque-Gemeinde eine eingeschworene, solidarische Familie ist.