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Im Hollywoodexil: Ein Koordinatensystem für das Günther Anders Experience

Hollywood Zeichen
In den 1930er und 40er Jahren, als Europa immer fester vom Naziterror ergriffen wurde, wurde Los Angeles zum Zufluchtsort für einige der berühmtesten deutschsprachigen Künstler und Intellektuellen. Schriftsteller wie Bertolt Brecht und Thomas Mann, sowie der Komponist Arnold Schoenberg, machten während dieser Jahre Südkalifornien zu ihrem neuen Zuhause. Aufgrund des sonnenreichen Klimas und der wirtschaftlichen Gelegenheiten mit der die Filmindustrie Hollywoods lockte, gesellten sich viele deutschsprachige Exilflüchtlinge dazu. So auch Günther Anders (geboren Günther Sigmund Stern, 1902-1992), der bemerkenswerte Philosoph und Denker, über den Sie hier auf dieser Webseite mehr erfahren können.  
 
Günther Anders mit Hund in Hollywood,1941

Günther Anders mit Hund in Hollywood,1941 | © Österreichische Nationalbibliothek and Gerhard Oberschlick

Bildunterschrift: Günther Anders, Hollywood 1941

TRÜBER SONNENSCHEIN: ANDERS AUFENTHALT IN KALIFORNIEN

Der Weg, der Anders nach Hollywood geführt hat, war von Schmerz, Frustration und Trennung gezeichnet und begann mit einer traumatischen Zugfahrt, die im Tagebuch wie folgt beschrieben wird. „März 33· Nachtfahrt, Flucht nach Paris. Von Bahnhof Zoo bis Köln, in der Abteilecke, hinter dem Regenmantel versteckt, Schlaf simulierend. Denn auf den anderen Plätzen sassen, fast pausenlos brüllend, sieben SA-Männer.“ (Tagebücher, p. 229) Anders verließ Berlin alleine, ohne seine Frau Hannah Arendt. Nach kurzem Wiedertreffen in Paris erfolgte die Scheidung in 1937 per Brief über den Atlantik—Anders war 1936 bereits nach New York weitergereist. [Hier finden Sie eine ausführliche Anders Biografie]
 
Günther Anders, Passfoto aus der Exilzeit

Günther Anders, Passfoto aus der Exilzeit | © Österreichische Nationalbibliothek and Gerhard Oberschlick

Bildunterschrift: Günther Anders, Passfoto aus der Exilzeit

Am 27 April 1938 wurde Anders vom Deutschen Reich ausgebürgert und war nun ein staatenloser Flüchtling, der unter schwierigen Bedingungen im amerikanischen Exil lebte.

“Jeder von uns (die Ausnahmen sind kaum der Rede wert) hatte ja erst einmal zu versuchen, sein Lebensminimum zu erjagen, als da sind: ein Bett, Arbeitserlaubnis, Geld, Essenskarten, Schwarzarbeit, vor allem aber seine („Aufenthaltserlaubnis“ genannte) Lebenserlaubnis. Und die Jagd auf diese Lebenserlaubnis (die zumeist in Warten auf Korridoren bestand) war … eigentlich aussichtslos“ (Der Emigrant, S. 182)
 
Der Aufbau. Eine Seite der im Zweiwochentakt erscheinenden Sonderbeilage: Die Westküste

Der Aufbau. Eine Seite der im Zweiwochentakt erscheinenden Sonderbeilage: Die Westküste | © Aufbau Archiv in der JM Jüdischen Median AG, Zürich.

Bildunterschrift: Der Aufbau. Eine Seite der im Zweiwochentakt erscheinenden Sonderbeilage: Die Westküste

Nach drei Jahren in New York zog es Anders nach Kalifornien. Deutschsprachige Emigrantenzeitungen wie Der Aufbau, die an der Ostküste verlegt wurden, berichteten in besonderen Beilagen von den angenehmen Bedingungen im meerblauen Westen. Das bequem anonyme Leben der kulturellen Größen Europas war hierbei von besonderem Interesse, denn es hatte sich in Kalifornien eine Enklave berühmter Kulturschaffender und Intellektueller gebildet:  

Die Häuser freilich, in denen Thomas Mann oder Lion Feuchtwanger, Emil Ludwig oder Vicky Baum leben, sind bisher noch auf keinem Stadtplan vermerkt, und keine Sightseeing Car fährt an ihnen vorbei. Sie und viele andere grosse europäische Schriftsteller könnten Abend für Abend ins Brown Derby oder zu Sardi essen gehen, kein Autogrammjäger würde sie behelligen. Es ist eine seltsame Sache mit dem Ruhm. (Der Aufbau, Aug 7, 1942/VOL8, No32)

Anders versuchte nach eigener Aussage den „typisch amerikanischen Durchbruch“, aber auch der seltsame Ruhm der Anonymen, von dem im Aufbau so ausgiebig berichtet wurde, blieb ihm unerreichbar. Obwohl Lion Feuchtwanger Günther Stern (Anders) als einen „produktiven Drehbuchautor mit originellen Ideen“ an Motion Picture Companies empfahl, konnte sich Anders nicht etablieren. Und so blieb nur noch eine Realität übrig, und zwar die von schlechtbezahlter Arbeit an Fließbändern und als angestellte Hilfskraft.

Anders fand in Kalifornien nur trüben Sonnenschein.     

“Aus dem Regen [kamen wir] nicht etwa in Gutwetter, sondern wiederum in Regen…“ (Der Emigrant, S. 182)

Und so kommen wir zu den Seiten des „Leichenwäscher der Geschichte“, das Tagebuch auf dem ECHT IST NICHT ECHT GENUG basiert und in dem Anders die versteckte Wahrheit Hollywoods und des Exillebens auf (sur)realste Weise bloßlegt. [Klicken Sie hier für weitere Einblicke hinter die Kulissen unserer Übersetzungsreise]
 
Lion Feuchtwangers Empfehlungsschreiben für Günther Anders, datiert auf den 11. März 1941

Lion Feuchtwangers Empfehlungsschreiben für Günther Anders, datiert auf den 11. März 1941 | © Feuchtwanger Memorial Library, Special Collections, University of Southern California

Bildunterschrift: Lion Feuchtwangers Empfehlungsschreiben für Günther Anders, datiert auf den 11. März 1941
 
Werbeanzeige für die Western Costume Company, publiziert 1934 im Hollywood Filmograph, einer Los Angeles Fachzeitschrift

Werbeanzeige für die Western Costume Company, publiziert 1934 im Hollywood Filmograph, einer Los Angeles Fachzeitschrift | © The Filmograph

Bildunterschrift: Werbeanzeige für die Western Costume Company, publiziert 1934 im Hollywood Filmograph, einer Los Angeles Fachzeitschrift 

Das Tagebuch beschreibt einen der vielen „odd jobs“ aus Anders Exilzeit, seine Anstellung als Reinigungskraft in einem großen Kostümverleih in den Diensten der Hollywood Filmindustrie. Auf März und April 1941 datiert, führen uns die Einträge in den „zwölfstöckigen Kasten“ in dem Anders skurrile Putzarbeit betreibt. Ein Gebäude, welches uns allmählich als Hollywood Kostümpalast immer vertrauter wird. Im Palast findet sich eine Welt, die von Hollywood kreiert wurde, eine Welt bestehend aus unechten Attrappen, Kunstblut und Kostümen, mit denen im Film die Europäische Geschichte noch einmal ein bisschen schöner, besser, und dramatischer abgespielt werden kann. All dies geschieht, so erinnert uns das Tagebuch stets, während Hitler und der tobende Krieg in der Ferne daran sind in Europa die Originale zu zerstören und unter Trümmern zu begraben. Eine weltweite Katastrophe, die immer wieder durch die täglichen Sorgen und Erniedrigungen schlecht bezahlter Arbeit hindurch aufblitzt.

“Wer niemals mit Schrecken hat feststellen müssen, daß er in den Tagen einer Weltkatastrophe davon abgehalten wurde, dem was geschah, zugewendet zu bleiben, und daß er statt dessen dazu verurteilt war, sein privatestes Brot mit privatesten Tränen zu essen – der kennt nicht die höllischen Mächte von heute; der hat den Hauptskandal von heute versäumt. Denn dieser Skandal besteht darin, daß wir – und damit meine ich die Millionen unserer Erde – systematisch daran gehindert werden emotional an den Hauptmiseren unserer Welt teilzunehmen; daß wir dazu gezwungen werden, „falsche Tränen“ zu vergießen, Tränen, die Unbeträchtlichem gelten und Trivialem und daß wir dadurch der Zeit, der Kraft, und des Rechtes beraubt sind, dasjenige zu beweinen, was Recht, wenn nicht sogar das Alleinrecht, auf unsere Tränen hätte.“ (der Emigrant, S. 183-184)
 
Angestellter beim Begutachten von Stiefeln, Western Costume Company, Bronson Building, Los Angeles, 1935

Angestellter beim Begutachten von Stiefeln, Western Costume Company, Bronson Building, Los Angeles, 1935 | © Western Costume Company Research Library and Archive

​​​​​​​ Bildunterschrift: Angestellter beim Begutachten von Stiefeln, Western Costume Company, Bronson Building, Los Angeles, 1935

Die wahre Identität des Hollywood Kostümpalasts ist bis heute ein Rätsel, eines das vielleicht nie aufgeklärt werden kann. Nach Angabe von Leighton Bowers, Director of Research and Archives bei der Western Costume Company, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Western Costume Company (WCC) in der Tat Anders Anstellungsort war. Die WCC war zu der Zeit die einzige Firma mit der die Angaben, die im Tagebuch gemacht werden, übereinstimmen würden (so zum Beispiel die Größe der Firma und des Sortiments, oder auch die breite Kundschaft unter den damaligen Hollywoodstudios). Die relevanten Unterlagen zu den Anstellungsverhältnissen haben jedoch die Zeit nicht überlebt und viele Aspekte des Palastportraits im Tagebuch würden allerdings auch nicht der Realität entsprechen. Es ist schon eine seltsame Sache mit der historischen Wahrheitstreue.

Nach seiner Rückkehr nach Europa im Jahr 1950 publizierte Anders nahezu 30 Bücher und produzierte einige der einschlägigsten und vorausblickendsten Kritiken der technologischen Welt, welche auch wiederholt auf die Erfahrungen aus der Exilzeit zurückgreifen. In Anders Büchern scheint nämlich Kalifornien nicht vornehmlich ein echter Ort zu sein, sondern ein Sinnbild für unser Dasein in der konsumgetriebenen westlichen Welt, die viele von uns nun „unser Zuhause“ nennen.     

Weitere Information zur Western Costume Company finden Sie hier über die Finding Lost Angeles Projektseite.

Besuchen sie die Western Costume Research Library hier, oder klicken Sie hier für einen Artikel zum WWC im The Hollywood Reporter.
 

Explore Anders’ ideas further (auf Englisch)

The Life of a Rescuer: Eva Michaelis-Stern in Dark Times (Jason Dawsey on the extraordinary life of Eva Michaelis-Stern, Günther Anders’ sister, World War Two Museum, New Orleans) 

Ruins Today: Günther Anders’s Delayed Contribution to the Heidegger Debate in Les Temps Modernes (by Anna Pollmann, Journal of the History of Ideas Blog) 

Beyond the World War II We Know: The Hiroshima Pilot Who Became a Symbol of Antinuclear Protest (by Anne Harrington, The New York Times Magazine) 

Utopia Inverted: Günther Anders, Technology and the Social (Special Edition of Thesis Eleven)  

Auf Deutsch

Der Emigrant, 2021 Ausgabe (C.H Beck)  

“USA for Good?” Zum Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Günther Anders (Kerstin Putz, Forschungsblog Östereichische Nationalbiliothek) 

Günther Anders aktuell (Sonderausgabe des Behemouth)  

“Bild als Beute“ (Kerstin Putz über die Logik der Anderstagebücher als ‘Warnbilder’ in der Wiener digitale Revue)  

Über und von Anders

Günther Anders Bücher beim C.H Beck Verlag

Anders in Video, Text, und Audio auf der Website der Internationalen Günther Anders Gesellschaft 

Günther Anders bei FORVM (Herausgegeben von Gerhard Oberschlick) 

Homeless Sculpture (ein Rede in den Vigovino Galleries, Brentwood, California, am 13 März 1943) 

Quellen

Günther Anders, Tagebücher und Gedichte (München: C.H. Beck, 1985) 
 
Günther Anders, “The Émigré” [1962], trans. Otmar Binder, The Life and Work of Günther Anders: Iconoclast, Philosopher, Man of Letters, ed. Günter Bischof, Jason Dawsey, and Bernhard Fetz (Innsbruck: Studien Verlag, 2014), 171-186 

Der Aufbau/Reconstruction, “Refugee-Dichter am Stillen Ozean“, 7 August, 1942, Vol8(32), Aufbau Archiv in der JM Jüdischen Medien AG, Zürich, Courtesy of Leo Baeck Institute New York 

The Hollywood FilmographWestern Costume Corporation Advertisement, 9 April, 1932, Vol12(12), Los Angeles 

 
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