Bicultural Urbanite Brianna
Flucht nach Brandenburg
Getrieben von dem dringenden Wunsch, meiner eingeschränkten Corona-Existenz in Berlin zu entfliehen, habe ich angefangen, die Regionen außerhalb der Stadtgrenzen zu erkunden. Brandenburg wird oft als langweilig und seelenlos verunglimpft, ist aber tatsächlich voller attraktiver Ziele für alle, die dringend einen Ausflug ins Grüne nötig haben.
Von Brianna Summers
Brandenburg ist in Berlin ein Running Gag. Deutschlands fünftgrößtes Bundesland wird häufig mit einem Mangel an Kultur und Chancen gleichgesetzt. Es gilt als hinterwäldlerische Provinz mit einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung. Dennoch leben dort 2,5 Millionen Deutsche, also hat Brandenburg doch sicher mehr zu bieten als erschwinglichen Wohnraum, Spargel und frische Luft?
Ein mitreißendes Lied des Kabarettisten Rainald Grebe über das verschmähte Bundesland machte mich zum ersten Mal mit Brandenburgs angeblichen Mängeln bekannt. Sein erhebender Songtext betont Brandenburgs materielle und kulturelle Trostlosigkeit und beinhaltet Sticheleien wie „Nimm dir Essen mit, wir fahren nach Brandenburg“ oder „Ich fühl mich heut so leer, ich fühle mich Brandenburg“. Nachdem meinem Umzug nach Berlin im Alter von 22 Jahren wurde dieses Klischee von den flapsigen Bemerkungen nur noch bekräftigt, die ich über unsere anscheinend stupiden Nachbar*innen zu hören bekam.
Der Donut unter den Bundesländern
Damals stellte ich mir Brandenburg etwas naiv als eine Art Donut vor, der das Land Berlin umringt. Ich nahm an, dass sich Berlins Außenbezirke als separat von der urbanen Innenstadt wahrnahmen und sich zu ihrem eigenen Bundesland zusammengetan hatten. Meine Donut-Theorie unterschätzte nicht nur Brandenburgs beachtliche Größe, sondern wurzelte auch in den Erfahrungen aus meiner Melbourner Kinderstube. Meine Heimatstadt folgt dem Modell „zersiedelte Vorstädte, die von einem zentralen Knotenpunkt ausgehen“, was mich lehrte, dass es umso besser war, je näher man am Knotenpunkt wohnte. Als Teenagerin, die etwa 12 km von der Innenstadt entfernt lebte, schienen mir die Außenbezirke von Greater Melbourne ebenso langweilig wie irrelevant und hätten genauso gut eine separate politische Einheit (oder gleich ein anderer Planet) sein können.
Heute weiß ich, dass Brandenburg kein Donut ist, sondern ein riesiges Plundergebäck mit einem kleinen Klecks Marmelade in der Mitte (Berlin). Während ich mich definitiv schon einige Male nach Brandenburg hinein- oder hindurchgewagt hatte, begann ich erst während der Coronakrise, meine Nähe zu diesen unendlichen grünen Weiten wirklich schätzen zu lernen.
Ich hatte im Prinzip drei Monate lang dieselben vier Wände angestarrt. Um das Auftreten eines Hüttenkollers zu vermeiden, drehte ich in meinem Viertel die Runden und unternahm sinnlose Fahrradausflüge ins Nirgendwo und zurück. So aufregend das auch klingen mag, irgendwann beschlossen mein Mann und ich, unser Hamsterrad auf die Wälder und Seen unseres benachbarten Bundeslands auszuweiten. Der Wanderweg am Ufer des Liepnitzsees | © Brianna Summers
Ziel: Die Pampa
Wie die meisten Berliner*innen haben auch wir kein Auto. Da wir die ausgeatmeten Tröpfchen an Bord des Regionalbahnnetzes gerne vermeiden wollten, machten wir mithilfe einer Carsharing-App einen in der Nähe befindlichen fahrbaren Untersatz ausfindig und gingen daran, die Türgriffe und die Bedienelemente im Inneren mit Alkoholtüchern zu desinfizieren. Kaum hatten wir das Reiseziel ins Navi eingegeben, ging es auch schon los, beflügelt von den berauschenden Dämpfen von Desinfektionsmittel in Industriequalität.
Wir fuhren zum Liepnitzsee, einem für seine Sauberkeit berühmten Badesee etwa eine Stunde Fahrt nördlich von Berlin. Da es für einen Sprung ins Wasser zu kalt war, umrundeten wir stattdessen den See auf seinem 9 km langen Wanderweg. Eine Handvoll Angler hatte sich in sehr verantwortungsvollen Abständen am Ufer entlang niedergelassen und kleine braune Mäuse flitzten durchs Unterholz, als wir vorbeimarschierten. Familien waren unterwegs, um die Sonne zu genießen, und ich musste an diejenigen auf der ganzen Welt denken, für die so ein Ausflug derzeit nicht in Frage kommt.
Mit dem Fahrrad ins nächste Bundesland
Die Woche darauf entschieden wir uns für Pedalkraft und radelten durch die Eingeweide Neuköllns Richtung Süden, bis wir die innerdeutsche Landesgrenze überquerten. Irgendwo in der Nähe von Rudow sahen wir hinter den Gebäuden zu unserer Linken Grün aufblitzen – irgendein Park? Plötzlich fanden wir uns inmitten einer Geländefahrt durch ein riesiges Feld wieder, das von Wohnblöcken aus dem Kalten Krieg flankiert wurde. Von dort stießen wir auf den Mauerradweg, der der Route des ehemaligen „antifaschistischen Schutzwalls“ folgt. Ich hatte gehört, dass dieser bekannte Weg seit Beginn der Pandemie von einem endlosen Peloton sich Bewegung verschaffender Familien verstopft sei, aber zum Glück hatten wir es irgendwie geschafft, die Hauptverkehrszeit zu vermeiden. Es mag zwar nicht Berlin sein, aber Brandenburg hat seinen eigenen Glanz | © Brianna Summers Wir zweigten vom Weg ab und radelten an Feldern mit weißem Spargel vorbei und durch Staubwolken hindurch, die von einer Gruppe Reiter*innen aufgewirbelt wurde. Ich konnte kaum glauben, dass sich dieses ländliche Idyll nur etwa eine Fahrradstunde von meiner Haustür entfernt befand. Ich dachte an Melbourne. Gab es irgendetwas Vergleichbares, das ein*e ambitionierte*r Radfahrer*in von den zentrumsnahen Stadtteilen in einer Stunde erreichen konnte?
Wir haben bis jetzt nur an der Oberfläche von dem gekratzt, was Brandenburg zu bieten hat. Das Land verfügt über 15 große Schutzgebiete, darunter das Biosphärenreservat Spreewald (über das ich letzten Sommer schrieb), den Naturpark Märkische Schweiz und den Nationalpark Unteres Odertal. Dazu kommen unzählige Radwege wie der Havelradweg, die Tour Brandenburg und der Radweg Berlin-Kopenhagen.
Nun, da Brandenburg vorsichtig seine Hotels, Pensionen und Zeltplätze wieder geöffnet hat, hoffen wir, etwas mehr Zeit mit der Erkundung dieses „langweiligen“ Teils der Welt verbringen zu können.