Interview mit Edith Kollath
Luft-Kunst: „Das Normalste, aber auch das Göttlichste“
Statt neue Objekte zu schaffen, interessiert sich Edith Kollath dafür, den Zustand vorhandener Materialien zu verändern. Die Multimedia-Künstlerin sprach mit Gabriele Urban darüber, was ihre Arbeit inspiriert und was sie sich von der Ausstellung in Melbourne erwartet.
Erzählen Sie uns doch ein bisschen über Ihre Arbeit im Allgemeinen. Welche Medien benutzen Sie bevorzugt? Wie sieht Ihr Schaffensprozess aus?
Als Konzeptkünstlerin führt mich in der Regel die Frage, an der ich arbeite, zum geeignetsten Medium oder Material. Ich verwende also ganz verschiedene Medien, darunter Video, Installationen, Performance, Objekte und Papier, jeweils in dem Bestreben, nach Transformationsprozessen zu suchen, nach Bewegungen – tatsächlichen wie potentiellen, und nach zerbrechlichen oder instabilen Zuständen. In meinen Recherchen kreise ich oft im Labyrinth der Möglichkeiten umher und erstelle intuitive experimentelle Umgebungen, die für mich wie Spinnennetze sind, von denen ich hoffe, dass sich irgendetwas Interessantes in ihnen verfängt.
Es ist die Unvorhersagbarkeit dieser Methode, die meine Arbeit zum Abenteuer macht: Fehlschläge, Enttäuschungen, Überraschungen, Hoffnung, Begegnungen und gewonnenes Wissen sind alle Teil des Prozesses. Dies war erst kürzlich der Fall, als ich in einer Glasbläserei nach einer bestimmten Art von Gefäß suchte. Ich fand zufällig etwas sehr Anderes und Faszinierendes – und musste darauf reagieren, weshalb ich momentan auch ein Video für die kommende Ausstellung entwickle.
Eigentlich wurde ich mir des Atems erst bewusst, als meiner aufhörte zu funktionieren. Er ist ein unsichtbares und ungreifbares Medium, das sich unserer Wahrnehmung entzieht, solange er gut funktioniert. Vor vielen Jahren erlitt ich durch Stress verursachte Atemnot und leichte Atemprobleme, was für mich eine existenzielle körperliche Erfahrung war. Dies führte mich zu körperlichen Atempraktiken und weiteren Recherchen.
Verflochtene Konzepte
Der Atem wurde in zahlreichen Kulturen, Religionen und spirituellen Praktiken auf ganz unterschiedliche Art konzeptualisiert. Von der altgriechischen Philosophie und Wissenschaft bis hin zu traditionellen indischen und chinesischen Praktiken lagen das Studium des Atems und der Art, wie er den Körper mit seiner Umgebung vereint, sowie der körperliche Aspekt des Gegenwärtigseins mit Geist und Seele im Zentrum des Interesses. Wenn man die Herkunft des Wortes betrachtet, zeigen sich bereits die Dimensionen dieses Themas: Sowohl im Griechischen als auch im Indischen sind die Konzepte von Atem, Luft, Geist und Seele miteinander verflochten und ihre Bedeutungen voneinander abhängig.Es ist für mich absolut faszinierend, dass Luft ein Element ist, das wir uns nie vollständig zu eigen machen können. Wir können einfach nur in ihm existieren, es nutzen, um Körper und Geist zu erhalten, und es mit anderen teilen. Einerseits verbindet uns Atmen mit anderen, andererseits betont es unsere Individualität. Es erzeugt gleichzeitig Nähe und Distanz: Wie erleben wir das innerhalb dieser zyklischen Prozesse? Mich in meiner künstlerischen Praxis mit dem Atem zu beschäftigen bedeutet, mich eher auf den Prozess als auf Objekte und auf die Erfahrung als auf das Erscheinungsbild zu konzentrieren.
Atem. Wir alle müssen atmen, daher ist es für die meisten von uns das Normalste auf der Welt. In Ihren Arbeiten spielen Sie mit dem Element des Atems, zum Beispiel in Ihrem Werk Atmende Bücher. Was ist es, was Sie am Atem so fasziniert?
Ja, es ist das Normalste und gleichzeitig das ‚Göttlichste‘. Die Serie thinking I’d last forever besteht aus antiquarischen Büchern, die in individuellen Rhythmen zu atmen scheinen. Die Buchdeckel heben und senken sich und öffnen so die Seiten. Die atmenden Bücher zeigen eine zerbrechliche und intime Seite des Daseins. Das geht so weit, dass sie im Betrachter ein Gefühl der Empathie auslösen. Indem die allgegenwärtige Anwesenheit der Luft zu einer Abwesenheit wird und sie uns so leicht vergessen lässt, dienen die atmenden Bücher als Erinnerungshilfe und lösen den Sehsinn in eine Bewusstmachung unseres Körpers auf.
Zwischen Widerwillen und Zuneigung
Das ‚Duett‘ zwischen antiquarischen Ausgaben einer Bibel und eines Korans bildet eine besondere kommunikative Struktur innerhalb dieser Serie: Die heiligen Bücher liegen sich mit ihren verletzlichen Seiten gegenüber und dennoch in ihrer korrekten Leserichtung Seite an Seite. Sie öffnen und schließen sich sanft in individuellen Rhythmen, die mal synchron, dann wieder asynchron sind und so eine bewegende Intimität untereinander offenlegen.In meiner künstlerischen Praxis fiel mir auf, dass alle Arbeiten, die sich auf die eine oder andere Art mit dem Atem beschäftigen, das Publikum polarisieren: Fast niemand bleibt gleichgültig, die Reaktionen gehen von absolutem Widerwillen bis hin zu starker emotionaler Zuneigung.
Gibt es eine Idee oder ein Motiv, das Sie über Ihre künstlerische Karriere hinweg begleitet und sich in allen Ihren Kunstwerken findet, oder wurde jedes Werk individuell entwickelt? Gibt es etwas, das Sie fortlaufend inspiriert und fasziniert?
Ich bin ein sehr neugieriger Mensch. Als Kind pflegte ich mit einer Freundin im Dorf herumzuspazieren und zufällig an Türen zu klingeln, um herauszufinden, wer dort lebte und wie es hinter dem jeweiligen Zaun aussah. In der Regel bescherte uns das eine Einladung zu einer Tasse Kakao. Ich genieße neue Begegnungen und den Reiz, neue Dinge zu entdecken, immer noch sehr: durch Reisen und interdisziplinäre Austausche zum Beispiel.
Momentan recherchiere ich das breit gefächerte Phänomen der Kontingenz, das ich sehr inspirierend finde. Wir nennen etwas kontingent, wenn es auch anders möglich wäre, und beschreiben damit die Unsicherheit zukünftiger Ereignisse und Taten, die beispielsweise in Momenten des Freischwebens und des Zögerns erlebt werden können – auf individueller wie kollektiver Ebene. Insbesondere wenn man – in der Wissenschaft oder bei künstlerischen Recherchen – etwas Neues herausfinden möchte, stellt sich die Frage, wie wir uns im Unbekannten verhalten. Gibt es künstlerische Strategien, die auch in anderen Zusammenhängen nützlich sein können? Um mit Risiken umzugehen, hat die Gesellschaft Bewältigungsstrategien wie zum Beispiel Wahrscheinlichkeitsberechnungen hervorgebracht. Diese haben sich jetzt in den digitalen Raum der algorithmischen Weissagung verschoben. Was bedeutet das für uns? Diese Fragen sind für eine Reihe von Disziplinen interessant: von der Soziologie bis hin zur Philosophie, von der Politik bis zur Zukunftsforschung und vielen mehr. Ich glaube, ich habe auf Jahre hinaus noch eine Menge Arbeit und Raum für interessante Austausche, und ich bin sehr neugierig darauf, was ich in Melbourne erleben werde.
EDITH KOLLATH