Street Art Melbourne
Die Stadt als Galerie
Überlebensgroße Wandbilder, kunstvoll verzierte Plakate, besprühte Mülltonnen – Melbourne ist international bekannt für seine vielfältige Street Art. Aus aller Welt kommen Menschen in die zweitgrößte Stadt Australiens, um die Kunstwerke in den Straßen zu bewundern. Die vielen kleinen Gassen und Seitenstraßen sind seit jeher eine optimale Spielwiese für Sprayer und Maler. Was lange als Schmiererei galt, hat sich mittlerweile zur populären Kunstform entwickelt; selbst die Behörden fördern die Street Art.
Christopher Hancock, Straßenkünstler und Mitglied der Blender Studios, zeigt bei einem Rundgang durch die Stadt einige der bedeutendsten Kunstwerke und seine persönlichen Favoriten.
Erster Anlaufpunkt für viele Touristen: Die Hosier Lane, nur wenige Meter entfernt vom zentralen Federation Square. Sie gilt als die berühmteste Street Art-Straße Melbournes. „Früher war das die Hall of Fame der Street Art; hier konnte man das Beste vom Besten sehen“, sagt Christopher Hancock. „Aber mittlerweile ist es offiziell erlaubt, hier zu sprayen. Und das hat zur Folge, dass einfach jeder hier Farbe an die Wand bringen kann – und dabei womöglich großartige Kunstwerke zerstört.“
Ein guter Weg, um trotz des Übermalens ein bleibendes Kunstwerk zu schaffen, ist die Installation Street Art. Hierbei beschränken Künstler sich nicht darauf, ein Bild auf eine flache Fläche zu malen; sie befestigen Objekte, die sich von den Flächen abheben. Berühmt ist Will Coles, der etwa diese Sturmhaube in der Hosier Lane installierte. „Sie wurde wieder und wieder übermalt – aber sie ist immer noch da“, sagt Christopher Hancock. „Das ist eine meiner Favoriten.“
Einfacher zu realisieren und entsprechend verbreitet sind Stencils – wie diese Schreibmaschine. Sie entstehen, indem man aus einem Stück Pappe eine Schablone fertigt, diese an die Wand hält und mit Farbe übersprüht. „Das ist ein einfacher Weg, um dasselbe Kunstwerk an vielen verschiedenen Stellen anzubringen und so in den Köpfen der Menschen zu bleiben“, sagt Christopher Hancock. „Im Prinzip ist diese Idee in Australien zehntausende von Jahren alt. Die Aborigines haben ihren Handabdruck mit roter Farbe nachgezogen – und mit diesem Stencil gezeigt, dass sie dort waren.“
Das Blatt in der Schreibmaschine ist ein Paste-up, ein mit Kleister befestigtes Plakat. „Der Vorteil ist, dass man das Kunstwerk zuhause vorbereiten kann“, sagt Christopher Hancock. Und: „Wenn man beim Ankleben erwischt wird, kriegt man nur eine Strafe für Verschmutzung, nicht für das wesentlich härter bestrafte Graffiti-Sprühen.“
Die Strafen für unerlaubte Graffitis sind im Bundesstaat Victoria sehr hoch: Wer ein „öffentlich sichtbares oder anstößiges Graffiti ohne Genehmigung auf Privatbesitz macht, muss mit bis zu zwei Jahren Gefängnis und einer Maximalstrafe von 37.310 australischen Dollar rechnen“, heißt es von Seiten der Regierung. Viele Künstler entwickeln deshalb Wege, die Strafen zu umgehen. Besonders raffiniert: Sogenannte Reverse Graffitis wie dieses Augenbildnis des Briten Moose. Sie entstehen, indem Wände partiell gereinigt – also zum Beispiel mit einem Reinigungsmittel angesprüht – werden. „Das ist sehr clever. Im Gesetz steht schließlich nirgendwo, dass Säubern verboten ist“, sagt Christopher Hancock. „Für viele ist das eine Art der Rebellion. Sie wollen die Behörden ärgern.“
Eine andere Möglichkeit, um Strafen zu umgehen: Gebäude oder Flächen, die man ansprühen will, kaufen. Gemacht hat das Straker aus Perth in der ACDC Lane. „Immer, wenn er nach Melbourne kommt, gestaltet er diese Flächen neu“, sagt Christopher Hancock. „Dieser Neon Glow Style ist faszinierend.“
In derselben Straße ist ein Werk von Christopher Hancock selbst: Eine Frau mit dem Kopf einer Kuh, die ihrem Baby die Brust gibt. „Stillen in der Öffentlichkeit war ein großes Thema in den Medien. Besonders aufgeregt hat mich ein Video, in dem ein Anzugträger in der Bahn eine Frau anmacht, dass sie aufhören soll, ihr Kind dort zu stillen“, erzählt er. „Es ist also okay, Milch aus einem Becher zu trinken, die aus der Zitze einer Kuh stammt. Aber es soll verboten sein, ein kleines Kind auf natürliche Weise zu stillen? Das ist so rückständig. Diese Kritik an der Gesellschaft wollte ich transportieren.“
Andere Künstler fokussieren sich auf die Arbeit mit Größen. Fintan Magee aus Brisbane kreierte unter anderem ein überlebensgroße Bild eines Mannes, der einen Baum trägt (Bild unten rechts).
Wesentlich unauffälliger, aber mindestens ebenso berühmt ist dieses Mosaik des Franzosen Invader. „Er hat die letzten zwei Jahrzehnte damit verbracht, diese Form der Street Art auf der ganzen Welt zu hinterlassen. Er war in mehr Städten und Ländern als jeder andere Künstler“, sagt Christopher Hancock. Die den Charakteren aus dem Videospiel Space Invaders nachempfundenen Mosaike sind in allen großen Städten an unauffälligen Stellen angebracht. „Mittlerweile kann man sich sogar die App FlashInvaders herunterladen. Immer, wenn man eins dieser Mosaike sieht, kann man mit der App ein Foto machen und bekommt Punkte dafür. Es ist wie eine Schnitzeljagd um die Welt: Es geht darum, möglichst viele zu finden.“
Noch bekannter ist der Brite Banksy, von dem dieses Stencil stammt. „Banksy ist der berühmteste Street Artist der Welt. Er hat die Street Art zu dem gemacht, was sie heute ist.“
Die heutige Street Art zeichnet sich durch viel Variation aus. Viele Künstler arbeiten mit Perspektiven: „Anamorphotische Kunstwerke befinden sich auf einer zweidimensionalen Oberfläche in einem dreidimensionalen Umfeld, und sie berücksichtigen die Perspektive, von der aus man sie betrachtet“, erklärt Christopher Hancock. „Von einem bestimmten Standpunkt sieht es wirklich so aus, als würde diese Frau schweben.“
Täuschend echt sieht auch dieses Fenster von Straker aus.
Und noch ein Fenster: Dieses Paste-up (Bild unten links) stammt von der Künstlerin Baby Guerilla. „Sie sticht wegen ihres technischen Könnens heraus. Sie hat sich nicht alles nur selbst beigebracht, sondern an einer Universität studiert.“
Immer wieder sind in den Straßen von Melbourne auch Portraits zu finden. Dieses Gesicht einer Frau (Bild oben rechts) wurde unweit der kultigen Containerbar Section 8 an die Wand gemalt – illegal. „Aber der Besitzer des Gebäudes fand es schön, deshalb durfte es bleiben. Das ist auch ein Grund, warum Street Art in Melbourne so erfolgreich ist: Der Großteil der Menschen hier akzeptiert sie. Viele denken: ‚Das ist zwar illegal, aber es macht die Stadt schöner, also ist es in Ordnung.‘“
Ein weiteres bekanntes Portrait: Der Aborigine-Junge des Melbourner Künstlers Adnate. „Die Augen des Jungen sind wunderschön, sie sehen so realistisch aus“, sagt Christopher Hancock. „Adnate hat die Eigenschaften eines Auges perfekt aufgefangen: Es sieht nass und schimmernd aus, und es reflektiert.“
Zu den bekanntesten Melbourner Straßenkünstlern gehört neben Adnate auch Rone. „Sein Ziel ist es, Wände schön zu machen, die vorher nicht schön waren. Die Werke sind technisch hervorragend gemacht, er ist ein Meister seines Handwerks.“
„Quasi das Gegenteil von Rone ist Tom Civil“, meint Christopher Hancock. „Mit seinen simplen Strichmännchen transportiert er eine positive Botschaft: Egal, welches Geschlecht wir haben, welche Religion, welche Kultur: Wir sind alle Menschen. Hinter seinen Werken steckt ein wirkliches Konzept. Er ist einer meiner Lieblingskünstler.“