Nachtleben Sydney & Berlin
Nachtlandschaften: Zwei Welten

Beim Sonnenuntergang, ein Blick über Berlin von der Dachterrasse des Klunkerkranich.
Beim Sonnenuntergang, ein Blick über Berlin von der Dachterrasse des Klunkerkranich. | © Felix Dupuy

Bei einem Vergleich des Nachtlebens von Sydney und Berlin wird deutlich, dass die jeweiligen nächtlichen Geschäftswelten von zwei extrem unterschiedlichen philosophischen und politischen Umgangsweisen mit Jugend, Kreativität und Selbstausdruck geprägt werden.

Sehr zur Verwirrung seiner Staatsbürger und traditionellen Hüter wird Australien von Außenstehenden oft als ‚neues Land‘ bezeichnet. Die ‚Neuheit‘ speziell Sydneys bedeutet, dass die kulturelle und politische Positionierung des Nachtlebens der Stadt ein gewisses Maß an Labilität aufweist. Technologie und immer weiter zunehmende Bequemlichkeit hatten hier tiefgreifende Auswirkungen. Von Essens- und Alkohol-Lieferdiensten über Dating-Apps, die die Notwendigkeit von Anmachkultur und Flirt-Hilfestellungen durch Freunde hinfällig machen, bis hin zu Unterhaltungs-Streaming-Services: Die Gründe schwinden, nachts noch sein Haus oder seine Wohnung zu verlassen. In einem Artikel für den Daily Telegraph zeigte sich Michael Schreiber, FunLab-CEO und Inhaber von Newtowns neuester Minigolf-Bar ,Holey Moley‘, kürzlich überzeugt, dass der Schlüssel für die Wiederbelebung von Sydneys Nachtleben im Anbieten von Erlebnissen und Unterhaltung liegt, die über den bloßen Konsum von Alkohol hinausgehen.

Moyas Juniper Lounge hat hunderte Sorten von Gin im Angebot, sowohl von lokalen als auch internationalen Destillerien.
Moyas Juniper Lounge hat hunderte Sorten von Gin im Angebot, sowohl von lokalen als auch internationalen Destillerien. | © Gina Robilliard
Genau wie erst vor wenigen Jahren die Einführung von Online-Shopping stationäre Händler in Panik versetzte, ist auch die nächtliche Geschäftswelt derzeit im Umbruch begriffen. Beide Sektoren reagierten ähnlich: mit erlebnisbasiertem, persönlichem Service. Sydneys Nachtleben wird zunehmend von Fusions-, Kuriositäten- und Themen-Bars charakterisiert: von Wes Anderson inspirierte Alkoven, Kneipen mit Geheimeingängen wie zu Zeiten der Alkoholprohibition, Whisky-/Fahrradwerkstätten und nun eben auch ein Minigolf-Nachtclub.

Eine neue Generation von Rebellen

Sydneys Nachtlandschaft geht jedoch über die Ausbreitung von Technologie und Kuriositäten hinaus. Ihre Parameter werden in vielerlei Hinsicht durch das Untergrundnetzwerk der Stadt mit seinen Tunneln und Kellern definiert. Im vergangenen Jahrhundert und besonders im Zweiten Weltkrieg war die Errichtung eines Untergrundnetzwerks an Zugstrecken, Kriegsbunkern und – wie im Fall der Innenstadt-Kneipe The Hero of Waterloo –, Tunneln erforderlich, um „zwangsrekrutierte, betrunkene Seeleute von der Kneipe zum vor Anker liegenden Schiff abzutransportieren“. Sydneys Oberbürgermeisterin Clover Moore ist überzeugt, dass die Erschließung dieser unzureichend genutzten Räume der Schlüssel dazu ist, die nächtliche Geschäftswelt wiederzubeleben und Erlebnisse zu bieten, wie man sie nur in Sydney findet. Für eine Generation von Millennials, die ohnehin den Eindruck hat, diskriminiert zu werden, intensiviert die Aura der Heimlichkeit in diesen Bars das dezidierte Gefühl von Rebellion zusätzlich. Christopher McLaren-Isakka, ehemaliger Direktor des Event-Kollektivs A Series of Fortunate Events, organisierte von 2011 bis 2013 illegale Partys in leerstehenden Lagerhallen in der ganzen Stadt. Für ihn steigerte der Gedanke einer Jugendrebellion den Erlebniswert noch: „Je illegaler, desto denkwürdiger das Erlebnis [… ] es herrschte eine erstaunliche Nähe zwischen den Menschen, eine Kameradschaft, ein geteiltes Wissen, dass das, was wir machten, illegal war.“

Viele von Berlins Eingängen zu Bars und Nachtclubs sind versteckt und schäbig.
Viele von Berlins Eingängen zu Bars und Nachtclubs sind versteckt und schäbig. | © Felix Dupuy
Diese Idee der Rebellion in der Nachtleben-Kultur der Jugend weist Parallelen mit Berlin in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf. Nach dem Fall der Berliner Mauer standen zahlreiche Lagerhallen und Fabriken leer und wurden baufällig. Dies eröffnete Bohemiens die Möglichkeit, in diesen Gebäuden als illegale Hausbesetzer zu leben, und bestimmt heute Berlins facettenreiches und einzigartiges Nachtleben. Diese Bohemiens und Künstler bildeten kreative Kollektive und organisierten Events, die sich zu den erfolgreichsten Nightlife- und Livemusik-Managementgruppen der heutigen Zeit entwickeln sollten. Suol Music GmbH organisiert nicht nur eine Reihe von Events in der ganzen Stadt, sondern produziert auch Musik und managt lokale DJs. Interessanterweise lässt sich dieses beneidenswerte Modell unter Rahmenbedingungen wie in Australien nicht nachahmen. Dies wird an McLaren-Isakkas kreativem Kollektiv offensichtlich, das 2013 pleiteging, weil seine Vision nicht mit der der Kommunalverwaltung in Einklang zu bringen war. „Klar, ich habe eine Menge Fehler gemacht, aber ich hatte keinerlei Spielraum, keine Möglichkeit für Innovationen oder um Risiken einzugehen, während die Projekte, an denen ich mit ganzer Seele arbeitete, durch [...] exorbitante Miet- und andere Gebühren ruiniert wurden“, erklärt er.
 
  • Klunkerkranich: Wandbild aus Schallplattenlabels. © Felix Dupuy

    Klunkerkranich: Wandbild aus Schallplattenlabels.

  • Ein Kanal in Friedrichshain wo zahlreiche nächtliche Open Air Veranstaltungen stattfinden. © Felix Dupuy

    Ein Kanal in Friedrichshain wo zahlreiche nächtliche Open Air Veranstaltungen stattfinden.

  • Street Art in Ost-Berlin. © Felix Dupuy

    Street Art in Ost-Berlin.

  • Bar in Berlin. © Felix Dupuy

    Bar in Berlin.

 
Dennoch erweisen sich die Faktoren, die Sydneys Nachtleben einzigartig machen, als erfolgreich. So haben Gastgewerbe-Imperien wie Merivale und Applejack Hospitality die Bar-Szene in Sydney revolutioniert. Davor wurde Sydney von Kneipen und Live-Bands dominiert. Trotz des Erfolgs von Pub-Rock waren die Veranstaltungsorte selbst jedoch bis zu einem gewissen Grad gleichförmig und das Menü fantasielos, wie Merivale CEO Justin Hemmes erklärt. Heute findet man Nachtclubs, die von jedem Kontinent und jeder historisch signifikanten Epoche inspiriert sind. Moyas Juniper Lounge legt den Fokus auf die Wiederbelebung klassischer Gin-Cocktails aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, samt passendem Dekor und Musik. Inhaber und Manager Charles Casben lässt seine Stärken als klassisch ausgebildeter Barkeeper spielen und hat das Alkoholangebot der Bar bewusst auf eine breite Auswahl an einheimischem und internationalem Gin ausgerichtet.
 
In Sydneys aktuellem Klima müssen sich diese Clubs jedoch strategisch verhalten, um sich dauerhaft behaupten zu können. Casben betont die Notwendigkeit der Diversifizierung von Kuriositäten-Bars, um im aktuellen Klima wirtschaftlich bestehen zu können. Hinter seinem beliebtesten Event, Sunday Night Jazz and Negronis, steht als Grundidee die Fusion aus Vorlieben für die Kultur des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, und in Bezug auf den Erfolg anderer Kombinationen wie beispielsweise The Barber Shop’s erstklassige Gin- und Körperpflege-Angebote weist er darauf hin, dass diese ebenfalls an der Fachkompetenz ihrer jeweiligen Inhaber ausgerichtet sind.

Deep-House-Rhythmen und Gärtnerei in Ostberlin

Eine Wertschätzung des Sommerwetters und der jeweiligen Umgebung ziehen sich als roter Faden durch eine Reihe Berliner Freiluft-Clubs und schlagen sich massiv im Dekor nieder. Antike Kronleuchter aus der Mitte des Jahrhunderts schweben prekär über umgenutzten Räumlichkeiten, die in provisorische Strände mit importierten Sandkästen inklusive Eimer und Schaufel umgewandelt wurden. Ein metallener Balloon Dog von Jeff Koons sitzt geduldig da und reflektiert neben einem Wandbild aus alten Vinyl-Plattencovern den Sonnenuntergang. Berlins aktuelle Ästhetik als ‚exzentrisch‘ zu beschreiben, wäre ein Understatement. Klunkerkranich, ein kreatives Kollektiv in Ostberlin, hat über einem Einkaufszentrum in Neukölln einen Dachgarten und Kulturort errichtet. Das Projekt verbindet Livemusik und Gastgewerbe mit Biogärtnerei und führt von Bienenhaltung über Blütenfärbung bis hin zu Gärtnerei-Grundkenntnissen Kurse zu einer Reihe von Themen durch. Das Projekt erstreckt sich in den wärmeren Monaten vom Tag bis in die Nacht und sorgt so für eine Präsenz, die sich nicht durch Tag und Nacht, „sondern durch das Leben [...] zwischen unten und oben“ auszeichnet, wie die Mitarbeiter erläutern.

Eingang zum Zuckerzauber, Friedrichshain.
Eingang zum Zuckerzauber, Friedrichshain. | © Felix Dupuy
Die Aufmachung alteingesessener Nachtclubs in Berlin dagegen zielt eher darauf ab, spezifische Formen des Selbstausdrucks zu ermöglichen. Roses Bar in Kreuzberg ist ein legendäres Schwulenlokal mit einem Dekor, das sich nur als fantastischer, flauschiger, rosafarbener Angriff auf die Sinne beschreiben lässt. Fotografieren im Inneren ist Gästen wie Medien gleichermaßen untersagt. Fragen nach dem Grund für diese Regelung ziehen das Misstrauen der Bar-Mitarbeiter auf sich, die erklären, es gehe darum, die Privatsphäre ihrer Klienten zu schützen, damit diese sich frei verwirklichen und mit Identitäten experimentieren können, die sie im wirklichen Leben möglicherweise nicht ausleben können. Dieses Konzept ist jedoch beileibe nicht auf das Roses beschränkt und in vielen von Berlins notorischeren Nachtclubs akzeptierte Norm. Eine Aversion, die gewissermaßen den noch vorhandenen Kater der massiven autoritären Überwachung durch frühere kommunistische Regimes darstellt.
 
Es ist schwer, das Nachtleben von Sydney und Berlin zu vergleichen, auch wenn es jeweils einige ausgesuchte historische Nahtstellen gibt, die den aktuellen Ruf beider Städte bestimmen. Offensichtlich ist jedoch, dass die jeweiligen nächtlichen Geschäftswelten von zwei äußerst unterschiedlichen philosophischen und politischen Ansätzen geprägt wurden. Diese Unterströmungen, die das vergangene Jahrhundert überspannen, sind untrennbar mit der Geschichte der beiden Städte verflochten und haben so subtile Nuancen in Bezug auf Infrastruktur, Wirtschaftsmodell und sogar die Haltung der Städter zu verschiedenen Formen des Selbstausdrucks hervorgebracht. Das Ergebnis ist ein individueller Ausdruck der Jugend und Kreativität jeder der beiden Städte – und dies, obwohl die Globalisierung in zahlreichen anderen wirtschaftlichen Zweigen für weitgehende Homogenität sorgt.

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