Bicultural Urbanite Brianna
Kunst auf der Tanzfläche
Berlins Nachtleben und Kunstszene wurden dieses Jahr schwer gebeutelt. Die Clubs sind nach wie vor geschlossen und alle größeren Kunstveranstaltungen wurden abgesagt oder verschoben. Als Reaktion auf die anhaltende Krise hat sich der berühmteste Nachtclub der Stadt mit der Boros Foundation zusammengetan, um lokalen Künstler*innen eine neue, ungewöhnliche Bühne zu geben.
Von Brianna Summers
Der legendäre Nachtclub Berghain schloss seine Türen am 11. März 2020, als die Pandemie in Berlin um sich griff. Andere Clubs taten es ihm schon bald gleich, mit verheerenden Folgen für ihre Angestellten, Veranstalter*innen und DJs. Die Künstler*innen der Stadt waren von den Einschränkungen ebenfalls schwer betroffen. Geplante Ausstellungen und große Kunstmessen wurden abgesagt, kommerzielle Galerien schlossen einen Monat lang und eröffneten mit strikten Hygiene- und Abstandsmaßnahmen erst Ende April wieder.
Nach sechs Monaten Dornröschenschlaf begrüßt das Berghain nun ein etwas anderes Publikum. Das zum Clubbing-Giganten konvertierte stillgelegte Kraftwerk hat sich mithilfe der Boros Foundation, einer gemeinnützigen Organisation, die zeitgenössische Kunst fördert, in eine Galerie verwandelt. Die von den Kunstsammler*innen Karen und Christian Boros gegründete Stiftung ist für ihre Ausstellungen mit Werken aus der riesigen Privatsammlung des Paars in einem Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg in Berlin-Mitte bekannt. Die beiden sind also nicht ganz unbeschlagen, was das Ausrichten von Ausstellungen an ungewöhnlichen Orten betrifft.
Die Berghain/Boros-Kollaboration trägt den Titel STUDIO BERLIN. Sie zeigt eine eklektische Mischung aus Fotografie, Bildhauerei, Malerei, Video, Klang, Performance und Installationen von 117 zeitgenössischen Berliner Künstler*innen. Nach der Eröffnung am 9. September hatte ich das Glück, ein Ticket zu ergattern, bevor alle Führungen für September und Oktober ausverkauft waren. Als mein mir zugewiesenes 90-minütiges Zeitfenster herannahte, schlenderte ich gemütlich auf den Betonblock zu, in dem sicheren Wissen, dass mir nicht von den berüchtigten Türstehern des Berghain willkürlich der Eintritt verwehrt werden würde. Zwar gab es keine Abtastungen oder Taschenkontrollen, ich musste aber dennoch mein Handy vorzeigen, damit das Sicherheitspersonal Aufkleber über die Haupt- und Frontkameras kleben konnte (was in zahlreichen Berliner Clubs Standardvorgehen ist).
Es geht los
Zum Auftakt sprach unser Tourguide eine Warnung aus: „Normalerweise stehe ich hinter der Theke und schenke aus. Ich verfüge über keinerlei formelle kunsthistorische Ausbildung.“ Er rückte seine chirurgische Maske zurecht, nahm ein Bündel abgenutzter A4-Aufzeichnungen fester in die Hand und führte uns durch eine schwere Metalltür in die dunklen, höhlenartigen Eingeweide des Clubs. Auf dem Weg hinauf auf die Haupttanzfläche verspürte ich einen prickelnden Anflug von Adrenalin, als ich mich daran erinnerte, wie aufregend es war, mit Ende Zwanzig diese Treppen hinaufzusteigen – ein Akt, der den Anfang einer Nacht markierte, die unweigerlich sehr lang und schweißtreibend werden sollte.
Über uns schaukelte eine riesige Boje in der Luft auf und ab, die an Drähten aufgehängt war und die Bewegungen einer tatsächlich existierenden Boje nachahmte, die mit Sensoren bedeckt irgendwo im Atlantik schwamm. Die Zeiger einer großen Uhr bewegten sich rückwärts und ich fragte mich, ob es sich dabei um einen Teil der Ausstellung oder um perfekt passendes festes Inventar handelte. Ein Video, das die Monotonie des Lebens während der Pandemie zeigte, war auf die Wand über der Bar projiziert; es handelte sich um ein Werk von Sven Marquardt, dem berühmt-berüchtigten tätowierten Türsteher des Berghain.
Kunstliebhaber*innen mittleren Alters spazierten beiläufig durch die dunklen Räume und anderen Winkel des Clubs, die eigentlich für sexuelle Begegnungen gedacht sind. Ein strenges Aroma nach Urin und Schweiß drang ohne Schwierigkeiten durch meine Maske, als wir die Toilettenanlage betraten, um ein selbstspielendes Klavier zu bewundern. Ein druckkopfartiges Gerät glitt an einem Gerüst hin und her und ließ einzelne Tasten erklingen, die gespenstisch nachhallende Töne von sich gaben. Unser Tourguide warf uns ein oder zwei Brocken Information über das Werk hin und gab uns ein paar Sekunden Zeit, um seine Genialität zu bewundern, bevor er zum nächsten Kunstobjekt davondüste.
Kunst ohne Beschilderung
In der Panoramabar warf ungewohntes Tageslicht seine unbarmherzigen Strahlen auf zerfledderte schwarze Ledersitze. Über der Tanzfläche hing eine überdimensionale rosafarbene Blume herab und eine aus Handtaschen bestehende Frau kletterte über die Bar. Der Raucherbereich war mit menschlichen Zähnen übersät – klobigen Nachbildungen aus Salz. Die sieben Kilo schweren Beißer waren zweifellos eindrucksvoll, aber was wollte uns der Künstler oder die Künstlerin damit sagen? Die Ausstellung ist bewusst nicht beschildert, sodass wir auf die eher begrenzten Erklärungen des Barkeepers angewiesen waren.
Gerade, als ich dachte, ich hätte jetzt wirklich alles gesehen, betraten wir den Schrank und gelangten nach Narnia. Im gewaltigen ehemaligen Kesselhaus hingen Betonpyramiden kopfüber von der Decke und auf einer riesigen Leinwand brannte in Zeitlupe ein mit brennbarer Flüssigkeit gefüllter Zierbrunnen. Überlappende Audioinstallationen bildeten den verwaschenen Soundtrack für eine per 3D-Drucker erstellte klassische Skulptur, eine Ansammlung gesichtsloser vermummter Gestalten und andere Kuriositäten.
Wieder im Berghain zu sein, war aufregend. Die Ausstellung war visuell eindrucksvoll, aber ich hatte das Gefühl, dass vieles von der Konzeptkunst aufgrund der fehlenden Erklärungen verpuffte. Der Barkeeper tat sein Bestes, aber sein Mangel an Fachwissen, zusammen mit den Umgebungsgeräuschen und dem dämpfenden Effekt seiner Maske, bedeutete, dass ich nur Informationsfetzen aufschnappte. Diese Fetzen mussten zudem schnell verdaut werden, da die Uhr aufgrund der dicht getakteten Buchungen unablässig tickte.
Auch wenn ich wohl nie erfahren werde, was jemanden dazu motivierte, einen Dschungel aus Haushaltsreinigern zu erstellen oder echte menschliche Organe in Tonziegel einzuprägen, verließ ich das Berghain mit Optimismus über die Fähigkeit der Kunstszene, sich an ein ständig mutierendes Virus anzupassen.