Interview
„Es gibt keine dummen Fragen“
In ihrem kecken und gründlichen Dokumentarfilm Oeconomia stellt Carmen Losmann einigen Hauptakteuren des kapitalistischen Systems vermeintlich einfache Fragen über Geld. Im Vorfeld der australischen Premiere sprachen wir mit ihr über die Motivation hinter dem Film.
Von Jochen Gutsch
In ihrem jüngsten Dokumentarfilm Oeconomia beschäftigt sich Carmen Losmann mit dem Finanzsektor und einigen seiner großen Geheimnisse. In dem anderthalbstündigen Film stellt die deutsche Regisseurin Experten aus verschiedenen Bereichen scheinbar einfache Fragen wie „Wie wird Geld gemacht?“ und „Wie werden Schulden erzeugt?“. Die Antworten, die sie bekommt, fördern sowohl die Arroganz als auch die Verwirrung zutage, die oft auf der höchsten Ebene der globalen Finanzindustrie herrschen.
Vor der Vorführung des Films bei Antenna Selects in Sydney sprach Jochen Gutsch vom Goethe-Institut mit der Regisseurin, die für ihren vorhergehenden Film Work Hard – Play Hard mit dem renommierten Grimme-Preis ausgezeichnet worden ist.
Es sind die scheinbar naiven Fragen, die Oeconomia so reizvoll machen. Halten Sie es für die Pflicht von Künstlern und Journalisten, solche Fragen im Interesse der breiten Öffentlichkeit aufzuwerfen?
Mit meinen naiven, grundlegenden Fragen möchte ich die Zuschauer ermutigen, unser kapitalistisches Wirtschaftssystem zu hinterfragen. Schließlich haben viele Menschen das Gefühl, dass da etwas außer Kontrolle gerät und dass eine destruktive Dynamik entstanden ist. Als Filmemacherin möchte ich zeigen, dass es keine dummen Fragen gibt und dass wir das Recht haben, diese Fragen zu stellen. Im Film wird auch klar, dass die maßgeblichen Entscheidungsträger in ihrem Denken ähnlich eingeschränkt sind wie wir und dass es keinen Sinn hat, sich darauf zu verlassen, dass „die da oben“ es für uns richten werden.
Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür, dass so viele von uns nicht wissen, wie die Wirtschaftssysteme funktionieren, in denen wir leben? Geht es uns zu gut, um Interesse zu zeigen, oder werden wir gezielt im Dunkeln gehalten?
Alle Hintergründe und Zusammenhänge, die im Film untersucht werden, sind öffentlich zugänglich. Das bedeutet, dass wir uns selbst im Dunkeln halten oder dass wir bestimmte Strukturen lieber nicht genauer hinterfragen. Und ich nehme an, dass momentan viele Leute so sehr mit der Bewätigung ihres alltäglichen Lebens beschäftigt sind, dass sie zu wenig Zeit oder keine ausreichende Motivation haben, um sich genauer mit der Funktionsweise unseres Wirtschaftssystems zu beschäftigen.
Gleichzeitig ist mir aufgefallen, dass bestimmte Fragen oder Probleme, die erhebliche Zweifel am Wirtschaftssystem wecken, in den Medien nur am Rande behandelt werden. Die täglichen Nachrichten und wöchentlichen Talkshows beschäftigen sich zumeist mit anderen Themen, weshalb grundlegende Fragen bezüglich der Dysfunktionalität des Kapitalismus im medialen Diskurs praktisch nicht zur Sprache kommen. Dadurch entsteht in der Öffentlichkeit jedoch der Eindruck, dass soweit eigentlich alles ganz gut funktioniert. Gleichzeitig sitzen wir in einer Maschine, die auf die Wand zurast, und es denken einfach nicht genug Leute über die Länge des Bremsweges nach.
Wie schwierig oder einfach war es, die Interviewpartner vor die Kamera zu bekommen? Konnte man in Interviews offen sprechen? Wurden Ihnen Beschränkungen auferlegt?
Die für den Film befragten Personen waren offen für Interviews. Es war leicht, mit ihnen zu sprechen, und es gab keinerlei Beschränkungen für den Inhalt der Interviews. Auf Schwierigkeiten stieß ich an anderen Stellen, wo es unmöglich war, Interviews zu führen. Beispielsweise erlaubte uns das deutsche Finanzministerium nicht, in der Finanzagentur zu filmen, die für das Management der Schulden der Bundesrepublik zuständig ist. Wir konnten kein Interview mit dem Leiter der Behörde führen.
In gewissem Sinn ist es unfair, dass in diesem Film – oder in Dokumentationen im Allgemeinen – die Personen, die bereit sind, vor der Kamera zu sprechen, sogar in Augenblicken der Sprachlosigkeit auf dem Bildschirm zu sehen sind, während jene, die ihre Tür nicht öffnen, nicht in den Blickpunkt geraten und nicht mit weiterführenden Fragen konfrontiert werden können.
Jedenfalls bin ich den interviewten Personen sehr dankbar dafür, dass sie sich Zeit für mich genommen haben, und ich weiß ihre demokratische Denkweise, dass die Öffentlichkeit ein Recht auf Information hat, sowie ihre Offenheit für kritische Nachfragen zu schätzen.
Die visuelle Ästhetik des Films ist von der Architektur der Gebäude von Finanzinstitutionen geprägt. Wir sehen eine strahlende, gläserne Welt mit klaren Linien und rechten Winkeln. Welche Wirkung beabsichtigen Sie mit dieser Bildsprache? Und ist das Finanzsystem so transparent wie seine Gebäude?
Im Grunde betrachte ich die Architektur als Ausdruck unserer Lebenswirklichkeit und der uns umgebenden Handlungsräume. Ich versuche herauszuarbeiten und sichtbar zu machen, welche programmatische Ideologie in die Architektur gemeißelt ist. Schließlich ist jedes Gebäude auch eine Art von Glaubensgebäude. In Oeconomia haben der Kameramann Dirk Lütter und ich versucht, eine von horizontalen und vertikalen Linien definierte Welt darzustellen. Es kommt eine Gittermatrix zum Vorschein, ein Mathematikbuch, ein Maß, das alles in einzelne Kästen unterteilt, die nur durch Berechnung miteinander in Beziehung stehen. So zumindest sehe ich es. Das Urteil darüber, ob das Finanzsystem so transparent wie seine Gebäude ist, überlasse ich den Zuschauern.
In Ihrem Film vermeiden Sie übermäßig dramatische Effekte, und in Interviews wählen Sie einen sachlichen Ton. Aber Sie beleuchten Zustände, die offensichtlich unhaltbar sind. Besteht Ihr vorrangiges Ziel darin, Ihr Publikum zu erziehen, oder möchten Sie einen Schritt weitergehen und zum Aktivismus aufrufen?
Ich möchte mit meinem Film zu einem Diskurs beitragen, in dem der Kapitalismus in Frage gestellt wird. Das vorrangige Ziel von Oeconomia ist, dem Publikum die Möglichkeit zu geben, meinen Fragen und meinem Denkprozess zu folgen. Der Film hat also zweifellos einen pädagogischen Zweck. In meinen Augen ist das Verständnis der bestehenden wirtschaftlichen Strukturen ein erster Schritt zu gezielten Versuchen, sie zu verändern und einen anderen Weg einzuschlagen. Insofern ist der Film natürlich auch ein Aufruf zum Aktivismus.
Seit Sie diesen Film gemacht haben, hat sich die Welt grundlegend verändert. Manche hoffen, dass aus der globalen Pandemie eine gerechtere Welt hervorgehen wird. Welche Aspekte der im Film beschriebenen Mechanismen könnten Ihrer Meinung nach tatsächlich verändert werden?
Zunächst muss man leider sagen, dass die weltweiten Maßnahmen gegen COVID-19 die Ungleichheiten erheblich vergrößert haben. Wir sehen wie unter einer Lupe die Zusammenhänge, den ich in meinem Film untersucht habe. Schulden im globalen System sind seit März 2020 deutlich gestiegen. Gleichzeitig wurde im Lauf des letzten Jahres auch deutlich mehr Reichtum angehäuft.
Unmittelbares Verbesserungspotential sehe ich in den Vorschlägen der „Modernen Geldtheorie“. Der Staat als demokratisch legitimierter Akteur könnte seine Fähigkeit zur Aufnahme von Schulden und zur Ausgabenpolitik nutzen, um sozial und ökologisch sinnvolle Infrastrukturen zu errichten, indem er beispielsweise Krankenhäuser baut und wieder der öffentlichen Hand anvertraut. Stattdessen geschieht in Deutschland genau das Gegenteil: Trotz COVID-19 werden mehr und mehr Krankenhäuser privatisiert, und das Gewinnstreben rückt in den Mittelpunkt der medizinischen Versorgung.
Oeconomia wird mit Unterstützung des Goethe-Instituts am Samstag, dem 1. Mai 2021 im Rahmen von Antenna Selects im Chauvel Cinema in Sydney gezeigt. Für Eintrittskarten und weitere Informationen klicken Sie bitte hier.