Der kamerunische Philosoph spricht im Interview über Ausländerfeindlichkeit, Nationalismus, die Position des Fremden, die Gefahr einer „Einheitskultur“ sowie über Artikulationsräume für Differenz.
Herr Mbembe, meine erste Bemerkung hat mit Unterschiedlichkeit zu tun.
Die Frage ist doch: Was meinen wir mit Unterschiedlichkeit? Warum ist sie uns so selbstverständlich? Und wie gehen wir mit Unterschiedlichkeit um? Die Grundannahme ist, dass Unterschiedlichkeit erkannt und akzeptiert werden muss, und zugleich überwunden. Also geht man - nicht nur heute, sondern genauso zu früheren Zeiten der Menschheitsgeschichte - davon aus, dass Unterschiedlichkeit ein Problem sei, mit dem man umgehen müsse. Der erste Schritt, der also zu tun wäre, ist diese Annahme zu hinterfragen. Woher kommt es, dass wir Unterschiedlichkeit für ein Problem halten? Warum ist sie nicht einfach nur eine Tatsache? Unterschiedlichkeit ist nur dann ein Problem, wenn wir glauben, dass Gleichheit Normalzustand sei. Unterschiedlichkeit wurde von dem Augenblick an zu einem politischen und gesellschaftlichen Problem, da der gewaltsame Kontakt zwischen Menschen durch Eroberung, Kolonialismus und Rassismus einige glauben ließ, sie seien besser als andere. In dem Moment, wo wir beginnen zu klassifizieren und Hierarchien im Namen des Unterschieds zu etablieren und so zu tun, als seien Unterschiede natürlich und nicht konstruiert, sie gleichzeitig für unabänderlich und daher legitim zu halten, haben wir ein Problem.
Und manche sehen sich vielleicht nicht nur als besser an, sondern als anders in dem Sinne dass alle so sein müssten wie sie selbst?
In der Tat heißt dies, alle müssten so sein „wie ich“. Und wer nicht wie ich ist, hat ein Problem, oder besser gesagt, ist ein Problem. Etwas stimmt nicht mit ihm oder ihr. Um eine gemeinsame Welt zu errichten, können wir aber nicht anfangen mit Fragen wir: „Warum sind sie nicht wie ich?“, „warum verhalten sie sich nicht wie ich?“, „warum verehren sie lächerliche Götter?“ Wir müssen zunächst einmal mit der Annahme von Einzigartigkeit und Originalität beginnen. Unterschiedlichkeit ist, was mir fehlt. Wir müssen uns lösen aus der Begrifflichkeit, nach der wir uns selbst als Norm etablieren, dergegenüber alles andere abnormal ist, abweichend und daher problematisch. Die Macht, zu etablieren, was als Norm gilt, muss gleichmäßig verteilt werden. Die Möglichkeit, der Norm nicht zu entsprechen, ebenfalls.
Andererseits tritt Unterschiedlichkeit meist unter den unterschiedlichsten Namen auf. Als „Tradition“, „Kultur“, „Religion“, „Gender“, „Rasse“, etc ... Unter bestimmten Umständen wird Unterschiedlichkeit von einigen so aufgefasst, dass sie ihre eigene Art zu sein, oder was sie als eigene Art zu leben bezeichnen, bewahren wollen und ihre eigene Art zu leben für bedroht halten. Die Bedrohung kommt von außerhalb oder von aufgenommenen Außenstehenden. Und um sich vor der Gefahr zu schützen, muss der Außenstehende ausgestoßen werden. Andere gehen mit Unterschiedlichkeit strategisch um, entweder als ein Weg zur Absicherung von Rechten, die man ansonsten nicht hätte, oder als Rechtfertigung für die Übertragung dieser Rechte auf ganze Gruppen oder Völker. Je nachdem, von wem und wozu sie eingesetzt wird, kann Unterschiedlichkeit mehr oder weniger ins Gewicht fallen.
Es heißt, es sollte universelle Menschenrechte geben, doch dann machen einige Kulturen deutlich, dass Frauen zum Beispiel weniger Rechte haben, weniger frei sind oder anders gesehen werden als Männer.
Der Begriff „Kultur“ wird heutzutage gern eingesetzt für die Behauptung einer Unmöglichkeit von Veränderung. Oft wird der Begriff auch im Zuge biologistischer Überlegenheitspostulate verwendet. Dann haben wir es mit ideologischen Rechtfertigungen bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu tun, plumpen Versuchen der Rechtfertigung von Macht- oder Statusprivilegien. Kultur hat vor allem mit Werden zu tun. Es geht um Kreativität, Unbestimmtheit und Transformation. Und nicht um Rückwärtsgewandtheit, gefestigte Inhalte oder Gewohnheiten.
Oft wird Kultur als ein Weg der Verfestigung etablierter Trennungen in den Bereichen von Gender, Religion oder Rasse eingesetzt. Tatsache ist, dass viele, die so argumentieren, selbst nicht so behandelt werden möchten, wie Frauen in den konservativsten Teilen der Welt behandelt wurden und werden. Viele Weiße würden nicht gern behandelt werden wie Schwarze früher unter der Rassentrennung oder heute noch in dem gefängnisindustriellen Komplex in Amerika. Viele Bewohner der westlichen Hemisphäre würden nicht gern behandelt, wie Muslime in Euro-Amerika behandelt werden. Also jemand anderem wünschen, dass er oder sie behandelt wird, wie man selbst nicht behandelt werden möchte, und dies mit Kultur, Tradition oder Religion zu rechtfertigen, ist eine Form von Anmaßung. Wir sollten nicht anderen wünschen, was wir nicht auch für uns wünschen würden.
Würden Sie sagen, dass wenn Kulturen nicht stabilisiert oder fixiert werden können und Kultur sich durch Austausch und Einflüsse anderer Kulturen entwickeln kann, es schließlich gar keine Unterschiede mehr gibt? Würden wir dann schließlich eine einzige Kultur haben? Halten Sie dies für das Resultat der Globalisierung? Und da wir um die Wichtigkeit von Unterschieden wissen, wäre es dann nicht sehr wichtig, an Unterschieden festzuhalten und an einzelnen Kulturen im Sinne ihrer Erhaltung?
Die Idee einer einzigen Kultur ist schlecht und gefährlich. Menschen investieren sehr viel in Unterschiede. Selbst wenn wir alle an denselben Gott glaubten, dieselbe Sprache sprächen, dasselbe äßen, dieselben Lieder sängen, dieselben Instrumente spielten, bin ich sicher, dass dies nicht das Ende wäre, sondern man hingehen und noch den einen oder anderen verlorenen Akzent wieder ausgraben würde. Ich wiederhole: Eine Welt der Einzigartigkeiten ist nicht schlecht. Die Probleme fangen dann an, wenn wir beginnen, Unterschiedlichkeiten zu regeln, Positionen aufgrund solch arbiträrer Bezeichnungen zuzuweisen und auf der Grundlage dessen, was oft nichts als Vorurteil ist, zu diskriminieren. Aber ich fürchte, in unserem Zeitalter generalisierter Feindseligkeit wünschen sich viele, nur unter ihresgleichen zu leben. Der Wunsch nach Apartheid war niemals größer. Die Geschichte wird wieder zum Naturgesetz erhoben. Unterschiedlichkeit bedeutet nicht mehr Originalität und Einzigartigkeit, sondern Trennung, das Errichten von Mauern, Militarisierung von Grenzen, Immunisierung gegen äußere Bedrohungen, realer und konstruierter Art.
Es ist also ein Grundbedürfnis, anders zu sein?
Es ist vermutlich, wenn nicht ein Grundbedürfnis, dann zumindest ein starker Instinkt oder Trieb, für Individuen wie für Gemeinschaften. Ich glaube nicht, dass der Wunsch nach Unterschiedlichkeit je ausgerottet werden kann. Er ist vermutlich tief in dem verwurzelt, was Menschsein ausmacht. Aber nach Einzigartigkeit zu streben ist nicht dasselbe wie den Unterschied zu kultivieren. Es ist nicht dasselbe wie den Unterschied zum Absoluten zu erheben, zu etwas, wofür man sterben oder töten würde. In der Welt, in der wir heute leben, findet man viele, die im Namen des Unterschieds lieber bereit sind zu sterben oder zu töten, als ihre Existenz oder ihr Leben für Gemeinsamkeit einzusetzen. Wir laufen Gefahr, völlig aus dem Blick zu verlieren, was uns gemeinsam ist. Nicht einmal die gegenwärtige Gefahr einer ökologischen Ausrottung ist bisher in der Lage, uns aus unserem dogmatischen Schlaf der Unterschiedlichkeit zu wecken. Das ist aus meiner Sicht sehr besorgniserregend.
Wer entscheidet über die Balance zwischen Gleichheit und dem Wunsch nach Unterscheidung? Und welche Werkzeuge haben wir zur Verfügung, um diese Balance, insbesondere im Umgang mit Kulturen, aufrechtzuerhalten?
Die offensichtlichen wie auch die unterschwelligen Kräfte, die uns in die Homogenisierung treiben, sind sehr stark. Marktmechanismen und die Art von Kapitalismus, wie wir ihn in der derzeitigen Phase der Menschheit erproben, sind diesbezüglich mächtige Vektoren. Sie beschleunigen die neue Dialektik von Homogenisierung und Unterschied. Eine Reihe von universalistischen Religionen - bestimmte Formen des Islam und der Pfingstkirchen - werden von stark homogenisierenden Kräften getrieben. Die größte Religion - die Warenwelt - ist definitiv eine solche Kraft. Wir dürfen diese Prozesse also nicht unterschätzen. Unterschiedlichkeit ist das Äquivalent zum heutigen Unbewussten.
Und es gilt einen weiteren Punkt zu beachten, und der hat mit dem Gedanken der Menschenrechte zu tun. Ich halte diesen für ein Konzept in der Krise. Nicht nur, weil die Ideologie der Menschenrechte heutzutage von allen möglichen Menschen manipuliert wird, sondern, weil sie Teil eines globalen Strebens nach Hegemonie ist. So kann ich meinen Gegnern leicht vorwerfen, Menschenrechte zu missachten und dabei geflissentlich übersehen, wie ich selbst dabei bin, sie nicht ernst zu nehmen. Der selektive Gebrauch der Ideologie der Menschenrechte, um geopolitische Ziele zu erreichen, ist etwas, das wir alle nur allzu gut kennen. Doch die Krise, die ich meine, ist schwerwiegender, weil es heutzutage keinen Konsens darüber gibt, was Menschlichkeit überhaupt ausmacht. Ist das Menschliche eine Art Unfall, oder mehr als nur ein Zufall der Natur?
Welche Rolle, glauben Sie, spielt Kultur darin?
Es müssen kulturelle Handlungen und Praktiken erfunden werden, die einer allumfassenden Sichtweise der Rechte entsprechen. Wir müssen wohl von der Annahme ausgehen, dass unser Planet von etwas mehr als nur Menschen bevölkert ist. Menschen allein dürfen nicht Rechtemonopol über den Planeten besitzen. Selbst die Demokratie, zumindest in ihrer westlichen Spielart, war bisher nicht mehr als eine Demokratie derer, die sich jeweils ähnlich sehen. Wenn kulturelle Kreativität eine Rolle in der derzeit sehr nötigen Neuausrichtung spielen soll, müssen wir über das Menschliche an sich hinausdenken.
Wir müssen grundsätzlicher über das Leben nachdenken. Diese Sichtweise verlangt nach einem Bündel an neuen kulturellen Praktiken, dessen Ziel demzufolge sein muss, diese Art von Offenheit gegenüber der Gesamtheit der Welt zu fördern, der Welt, die wir bewohnen; und es würde weniger um die Erhaltung dessen gehen, was wir für unsere Ursprünge halten oder für unsere Besonderheit, sondern von etwas, das mehr mit Fürsorglichkeit, einer Ethik der Fürsorglichkeit, einer Ethik der Offenheit gegenüber dem Unbekannten zu tun hat. Denn derzeit stellen wir uns Traditionen oder Kulturen nicht als etwas vor, das wir kennen. Wir wissen, was sie sind und wollen sie schützen, verteidigen und bewahren.
Und sie sind Eigentum.
Es muss dringend ein Ausweg gefunden werden aus einem Kulturverständnis als Eigentum. Dies muss einhergehen mit einer bewussten Annahme des Entfernten und Unbekannten, und daher erscheint mir die Entwicklung unterschiedlicher Haltungen und Empfindsamkeiten als absolut notwendig.
Dies muss von der eigenen Kultursphäre ausgehen, denn wenn es von einer anderen Kultur kommt, die etwas Neues anstößt, wird es zum Zusammenprall kommen oder zumindest wird keine Akzeptanz erreicht.
Beispiele aus Afrika legen das Gegenteil nahe. Bemerkenswert hier ist die Fähigkeit von Menschen, indigene kulturelle Ressourcen zur Aufnahme von Neuem zu mobilisieren, ganz gleich, ob es von außen kommt oder nicht. Nehmen Sie zum Beispiel Religion, Regierungssysteme, Marktökonomien. Afrika ist ein außerordentliches Laboratorium. Die Leute hier haben eine erstaunliche Fähigkeit an den Tag gelegt, eine ganze Reihe von Dingen zu verinnerlichen, die nicht von ihnen stammen. Sie haben sie zu Dingen umgewandelt, die ihnen nützlich sind, und es wäre ein Stück weit fahrlässig, daraus zu schließen, es würde lediglich den Grad ihrer Entfremdung zeigen. Eine ganz andere Logik war in diesem Labor im Einsatz - die Logik der Komposition anstatt der von Grenzen.
Insofern müssen wir in einer Welt, in der sich Rassismus mehr und mehr auf Kultur fokussiert, während gleichzeitig wieder biologische Rechtfertigungen für Rassismus auftauchen, besonders vorsichtig vorgehen. Wir dürfen im Namen von, sagen wir, „Emanzipation der Frauen“, „Gender development“ oder „Recht auf Reproduktion“ nicht die Augen verschließen gegenüber der Grauzone zwischen der Betonung von Menschenrechten und Ausübung kultureller Dominanz oder Perpetuierung globaler Hierarchien.
Lassen Sie uns noch einmal auf Unterschiedlichkeit schauen. Bestimmte Kulturen oder Traditionen infrage zu stellen ist für kulturelle Entwicklung natürlich entscheidend. Aber kann es nicht auch zu Zusammenstößen führen? Es geschehen entsetzliche Dinge im Namen der Kultur.
In der Tat kommt es zu entsetzlichen Dingen im Namen von Kultur. Es kommt zu Zusammenstößen, wenn jemand Mächtiges beginnt, etwas als „Kultur“ oder „Zivilisation“ zu definieren, das in Wirklichkeit nichts weiter ist als ein partieller Ausdruck menschlicher Erfahrung. Zusammenstöße beginnen da, wo wir uns aufschwingen, anderen aufzuerlegen, was in Wirklichkeit eine lokale Sprache ist. Genau das geschah bei der Kolonisierung.
Aber wie kann es von innen heraus angestoßen werden?
Es kann von innen kommen, weil solchen Dingen immer schon widersprochen wurde. Den Diskurs großer, mächtiger Männer, der das was sie tun mit Kultur rechtfertigt, hat es schon immer gegeben, aber es gibt, wenn man in die Archäologie dieser Formationen schaut, Gegendiskurse. Man stößt auf alle Arten und Formen von Gegendiskursen und -narrativen in Fabeln, Liedern, Skulpturen. Es gab immer schon eine Kultur der Dissidenz, deren Geschichte wir zu vergessen neigen. Also würde ich sagen, dass eine Wiederentdeckung dieser Sedimente der Dissidenz der erste Schritt ist für den Beginn einer Transformation von innen.
Eine Transformation, die nicht sofort als etwas Fremdes verworfen werden kann. Das beste Beispiel ist die Behauptung, Homosexualität sei etwas Unafrikanisches - was nicht im Geringsten stimmt. Sie kommt nicht von außen. Aber genau hier kommt der Arbeit von Wissen und kritischem Wissen so große Bedeutung zu in der Befeuerung neuer Bewegungen und vor allem der Öffnung neuer Territorien Vorstellungskraft, des Gedankens, dass etwas, obwohl es schon immer so war, nicht unbedingt so bleiben muss, sondern, dass wir uns vorstellen können, dass etwas ganz Neues und radikal Neues daraus entsteht. Und es ist diese Art von Erwartung, etwas ganz radikal Neues zu schaffen, die gepflegt werden muss, anstatt sich immer nur an kleine Unterschiede zu klammern. Doch dafür braucht es natürlich soziale Bewegungen, es braucht Leute, die organisiert sind. Es braucht Institutionen.
Falls es tatsächlich eine Kulturleistung ist, Transzendenz und Unterschiedlichkeit zu akzeptieren und nicht im Gegenteil Unterschied nicht akzeptieren und transzendieren zu wollen und Kultur nur ein Weg ist, Unterschiedlichkeit zu bewahren.
Das Anerkenntnis von Unterschiedlichkeit erfordert kulturelle Anstrengung, aber auch politische Arbeit, institutionelle Arbeit, vor allem in Kontexten wie Südafrika. Aber ich denke auch an andere Zusammenhänge, in denen Unterschiedlichkeit als Hebel zur Etablierung von Ungleichheits- und Ungerechtigkeitsverhältnissen eingesetzt wird und Kultur, wie andere Instrumente der politischen Transformation auch, eingesetzt wird für Gleichheit auf wirtschaftlicher Ebene, in der Frage der Ungleichverteilung oder institutionell für einen gleichberechtigten Zugang zu Bürgerrechten für Männer, Frauen, Schwarze, Weiße und so weiter.
Kultureller Ausdruck braucht Unterschiedlichkeit, da er aus Unterschieden entsteht und anderenfalls nicht entstanden wäre. Aber wir haben auch gesagt, dass kultureller Ausdruck ein Mittel zur Lösung von Krisen sein kann, der Beginn eines Dialogs, weil Unterschiedlichkeit interessant ist. So könnten wir einerseits sagen, dass Kulturen der Grund für Zusammenstöße sind, zum anderen können sie ein Weg in Richtung einer gemeinsamen Ebene, eines gemeinsamen Raums sein. Mich würde interessieren, auf welchen Wegen, in welchen Formaten, mit welchen Ideen diese Art von positiver Herangehensweise an einen Dialog unternommen werden könnte?
Zum einen könnte dies über Wissen geschehen – Wissen über die hinterfragte Eigenschaft und Bedeutung der unterschiedlichen Formen kulturellen Ausdrucks. Was üblicherweise als „Zusammenprall der Kulturen“ oder „Clash of Civilizations“ beschrieben wird, ist nichts weiter als der Zusammenstoß von Ignoranz. Profunde Kenntnis ist nötig, weil Verstehen nur aus Kenntnis kommen kann. Aber Kenntnis an sich und aus sich selbst heraus reicht nicht. Dass wir etwas erkennen, heißt nicht, dass wir notwendigerweise übereinstimmen. Und ich glaube auch nicht, dass Übereinstimmung um jeden Preis das letzte Ziel sein sollte. Das letzte Ziel sollte das Zulassen so vieler Äußerungen des Menschlichen wie möglich sein. Daher ist es Aufgabe der demokratischen Gesellschaft, Raum zur Verfügung zu stellen, in dem Pluralismus ausgedrückt und gelebt wird. Das Problem entsteht, wenn wir einen Wertekonflikt haben und wenn insbesondere der Staat zwischen unterschiedlichen Wertbegriffen entscheiden muss.
Wie also kann Ihrer Ansicht nach dieses Wissen über die Akzeptanz des Anderen erreicht werden?
Wissen an sich ist natürlich angreifbar. Aber zumindest können sich Menschen auf ein Minimum an Tatsachen einigen, selbst wenn deren Interpretation etwas ganz anderes ist. Zum Beispiel wird niemand die Tatsache leugnen, dass einige muslimische Frauen sich verschleiern, der Bedeutung, die diesem Akt der Verschleierung beigemessen wird, kann aber durchaus widersprochen werden. Es ist auch Fakt, dass nicht jede und jeder mit einer Entscheidung, wie einem Verbot der Verschleierung im öffentlichen Raum, einverstanden ist. Doch ich glaube, der Konflikt zwischen Interpretationen ist vollkommen in Ordnung. Kulturelle Unterschiede werden in dem Moment zum Problem, wo eine Bewertung im Sinne von Klassifizierung und Hierarchisierung stattfindet, also der Versuch zu sagen: Was du machst, ist nicht normal, deswegen solltest du es ändern, beziehungsweise so machen wie ich. Darin lässt sich die koloniale Definition von Kultur subsumieren. Sie lässt sich zusammenfassen zu der Tatsache, dass ich komme und denke, so wie du etwas tust, ist es nicht modern, sondern primitiv und irrational und muss anders werden. Du musst aufhören, etwas zu tun, wie du es tust und es stattdessen so tun, wie ich es dir sage. In diesem Moment haben wir Zusammenstöße. Kultur kann nicht eine Frage von Determinismus sein.
Wie würden Sie jemanden dazu bringen, zu akzeptieren - beispielsweise in Frankreich - dass Frauen ihr Haar nicht bedecken dürfen, ohne Vorurteile, ohne zu denken, dass es etwas ist, das die Freiheit beschneidet? Als Verbot funktioniert es ja offensichtlich nicht.
Es gibt überhaupt keinen Grund, warum Frauen, die ihr Haar bedecken wollen, dies nicht tun dürfen sollten. Was ich mit meinem Haar tue oder nicht, geht streng genommen niemanden etwas an. Das Gesetz ist in solchen Dingen natürlich wichtig. Doch das Gesetz stößt an seine Grenzen, wenn es um Kultur, oder besser gesagt, Werte geht. Es ist sehr schwer, Wertvorstellungen, Interpretationen oder Bedeutung zu reglementieren. Was das Gesetz üblicherweise tut, ist zu versuchen, den Interpretationsspielraum zu begrenzen, und wir wissen nur zu genau, dass das Gesetz in dem Versuch der Begrenzung des Interpretationsspielraums vor allem Veränderungen der Bedingungen der Auseinandersetzung vornimmt. Daher ist es vor allem wichtig, den Interpretationsspielraum offen zu halten. Alles andere ist angesichts dessen zweitrangig. Anderer Leute Ansichten durch Film, Literatur, Musik, Kunst zu verändern ist wichtig, aber noch wichtiger ist, den Raum für die Artikulation anderer Möglichkeiten des Seins offen zu halten.
Es geht also um eine Art Multikulturalismus und das Recht, ihn zu leben, ohne sich gegenseitig zu behindern? Gibt es einen Ort auf dieser Erde, wo dies geschieht?
Es gibt genaugenommen nur sehr wenige geschlossene Gesellschaften, einschließlich solcher, die versuchen, sich selbst als homogen zu definieren. So etwas wie eine geschlossene Gesellschaft hat es so gut wie niemals gegeben. Wir haben also in der Geschichte der Menschheit ein riesiges Archiv der Koexistenz, der Verschränkung und der Vermischung. Darum ging es in Imperien, das gestatten einige Religionen. Ich möchte behaupten, die Menschheit besitzt gewissermaßen eine lange Tradition der Ökumene, die wir noch nicht so erschlossen haben, wie wir es tun könnten.
Natürlich gibt es auch eine lange Geschichte entsetzlicher Konflikte, einige davon tödlich und blutig, doch da wir von innerhalb des kontextuellen Horizonts einer demokratischen Gesellschaft, von Menschenrechten, sprechen, verweist es auf zweierlei: Zum einen auf das Projekt Demokratie - denn es gibt keine von Menschenrechten losgelöste Demokratie. Auf der anderen Seite auf das Projekt einer erweiterten menschlichen Gemeinschaft, ein kosmopolitisches Projekt. Demokratie ist grundsätzlich zutiefst kosmopolitisch.
Das Problem kommt also von dem Widerspruch zwischen Demokratie und Nationalismus. Wenn Nationalismus Demokratie überflügelt in ihrer doppelten Eigenschaft als universelles Projekt, werden das kosmopolitische Projekt sowie kulturelle Unterschiede zum Problem. Die Frage ist also, wie man Demokratie vertieft. Das Problem der Menschenrechte als kulturelles Problem ist untrennbar von Demokratie, und der Weg, Unterschiede zu überwinden, ist zunächst, sie anzuerkennen, und erst dann Demokratie und einen kosmopolitischen Ethos in Opposition zu Nationalismen und zahlreichen Spielarten des Indigenismus zu vertiefen.
Nationalismus kommt oft nicht vom Staat - wird nicht von der Staatsform ausgelöst, sondern entsteht aus der ursprünglichen Kultur, aus dem Gefühl der Identität, dem Gefühl, einer gemeinsamen Kultur anzugehören, derselben Sprache, derselben Erziehung, demselben Geburtsort, gemeinsamer Vorfahren. Er führt zu einer Art von Chauvinismus, der normalerweise keine gute Basis für Demokratie darstellt.
Die Schlussfolgerung daraus als einem Gemeinschaftsgefühl ist stets, einen Staat haben zu müssen; die Kombination des Gebildes Nation mit dem Gebilde Staat ist der Art von kosmopolitischer Version von Demokratie, von der wir sprechen, nicht gerade förderlich. Im Gegenteil, sie begrenzt den Gedanken der Menschenrechte an sich, denn ein Nationalstaat denkt Menschenrechte grundsätzlich zunächst als das Recht seiner Bürger in Abgrenzung zu denen derer, die nicht seine Bürger sind. Damit wird kulturelle Unterschiedlichkeit manipuliert im Sinne einer Trennung zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern, Angehörigen und Nicht-Angehörigen einer Nation, Männern und Frauen.
Das ist der Grund für Xenophobie oder zum Beispiel den unklaren Status von Flüchtlingen. Wäre Bewegung eine Alternative zur kulturellen Erstarrung einer Nation? Und wenn ja, lässt sich Bewegung anstoßen? Ich meine, überall auf der Welt wandern die Menschen, es wird immer alltäglicher, hin und her zu ziehen. Kann dies zu einer Art Akzeptanz von Unterschieden führen?
Mobilität ist das Andere. Mobilität, Bewegung und das Andere, was nicht bedeutet, dass wer herumzieht, notwendigerweise ein kosmopolitisches Subjekt wird, doch man wird Unterschiede eher annehmen, wenn man anderen Welten und anderen Arten zu Leben ausgesetzt war. Daher glaube ich, ja. Denn das, was Nationalstaaten noch tun, ist versuchen, sich nach außen abzugrenzen. Die Frage ist also, inwiefern das Anerkennen von Unterschiedlichkeit und ihre Überwindung eine grenzenlose Welt voraussetzen - eine Welt ohne Grenzen.
Achille Mbembe ist Philosoph, Historiker und Intellektueller mit Wohnsitz in Johannesburg. Der gebürtige Kameruner forscht am Witwatersrand’s Institute for Social and Economic Research (WISER) und leitet gemeinsam mit Felwine Sarr die Ateliers de la pensée in Dakar und Saint-Luis). Er graduierte als PHD an der Sorbonne, lehrte an der Columbia University New York, dem Brookings Institution, Washington D.C., an der Yale University, New Haven, und derzeit an der Duke University. Er veröffentlichte eine Reihe von Monographien auf dem Gebiet postkolonialer Forschung.
Dieses Interview ist eine bearbeitete Version des im Band „Menschenrechte und Kultur“ (Steidl Verlag) veröffentlichten Gesprächs mit Achille Mbembe.