Kindheit als Superheld
Um zu Hause nicht noch mehr Probleme zu verursachen, bringen sie lauter Einsen aus der Schule, gewinnen die Chemie-Olympiade und pflegen dann auch noch einen kranken oder behinderten Elternteil. Die Superkinder, wie Psychologen sie nennen, haben selbst gar keine Vorstellung davon, welche Last sie tragen. Anspannung und andauernder Druck werden sich allerdings irgendwann bemerkbar machen.
„Sie geben Vollgas, aber wie aus dem Nichts taucht plötzlich ein Stoppschild auf. Erst dann beginnen sie sich bewusst zu machen, dass die gegenwärtigen Probleme ihre Wurzel vielleicht in der Kindheit haben“, sagt Radka Vepřková. Vor zwei Jahren hat sie das Projekt Superděti (Superkinder) begonnen. Ihr Ziel: Kinder sollen genügend Raum zum Spielen und zum Entspannen haben. Sie sollen ihre Kindheit zurück bekommen.
Radka, Ihr Projekt ist in Tschechien das einzige seiner Art. Was hat Sie dazu veranlasst?
Die Idee entstand, als ich für Cerebra gearbeitet habe, eine Organisation für Menschen mit Gehirnverletzungen. Ich habe da eine Frau kennengelernt, die so ein „Superkind“ war. Als sie klein war, hatte ihr Vater einen Autounfall, sie hat sich um ihn gekümmert, und so wurde aus ihr ein Superkind. Erst als sie nach Jahren eine Psychotherapie begann, wurde ihr das bewusst. An ihr habe ich zum ersten Mal gesehen, was es für Probleme nach sich ziehen kann, wenn kleine Kinder ihre Eltern pflegen. Es ist natürlich normal, sich um Familienmitglieder zu kümmern, aber nicht in einem solchen Ausmaß. „Superkinder“ nennt man sie deshalb, weil sie schier übermenschliche Fähigkeiten haben. Sie sind zum Beispiel in der Lage einen Überweisungsträger auszufüllen, einen Braten zuzubereiten oder einen Bettlägrigen so zu pflegen, dass er sich nicht wundliegt.
Kann man also sagen, dass ein Kind sich nicht darüber im Klaren ist, dass seine Last größer ist, als es tragen kann?
Superkinder haben ein Problem damit, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen. Deshalb können sie nicht genau äußern, ob sie etwas einschränkt. Wenn sie ihre Bedürfnisse aber nicht befriedigen, kann das zu Schlafstörungen, Beklemmung, Depressionen und sogar Selbstmordgedanken führen. Sie finden auch nur schwer Freunde, nicht etwa aus Zeitgründen, sondern vielmehr, weil sie nichts haben, das sie mit Gleichaltrigen teilen könnten. Es ist ein Unterschied, ob man am Wochenende mit dem Papa zum Eishockey geht oder dessen Dekubitus verarztet. Gleichzeitig muss man aber auch sagen, dass viele Familien gut damit fertig werden. Es kommt darauf an, bestimmte Regeln und ein erträgliches Maß festzulegen. Ein Kind muss Zeit zum Spielen und Toben haben. Und darauf beruht die Philosophie unserer Organisation: den Superkindern ermöglichen, ihre Kindheit so auszuleben wie andere Kinder auch.
Wie viele Kinder müssen sich in der Freizeit um kranke Eltern kümmern und wie viele suchen bei Ihnen Hilfe?
Soziologen schätzen, dass tschechienweit etwa 27.000 Personen betroffen sind. Derzeit helfen wir 20 von ihnen, wobei sie sich oft lange nicht und dann wiederum sehr plötzlich bei uns melden. Wir machen uns ständig Gedanken über den richtigen Umgang mit dem Thema, damit die Kinder sich von selbst entschließen, zu uns zu kommen. Manchmal schaltet uns jemand aus dem Umfeld der Kinder ein, aber nur selten meldet sich die betroffene Familie selbst bei uns. Wenn sie ihre Kinder selbst zu uns schicken, halten die Familien das oft für das Eingeständnis eines Fehlers, auch wenn das tatsächlich gar nicht der Fall sein muss. Unser Ziel ist nicht, die Ursachen zu bekämpfen, sondern eine Lösung für die Symptome zu finden. Wir räumen auch der Beratung mit den Eltern ihren Platz ein, aber die Arbeit in der Familie ist in der Regel eine langwierige Angelegenheit, so dass wir uns eher auf die Hilfe für die Kinder konzentrieren.
Zu Ihren Klienten zählen aber auch Erwachsene, deren Erfahrungen als „Superkinder“ ihr Leben auch heute noch entscheidend beeinflussen. Warum wenden die sich nach einer solch langen Zeit an Sie?
Die meisten unserer Klienten sind Erwachsene, die eine entsprechende Biographie haben und bereit sind sich darüber auszutauschen. Sie wissen, was das Dasein als Superkind mit sich bringt und wollen helfen, damit es anderen nicht genauso ergeht. Meist sind das überaus empathische und aktive Persönlichkeiten. Oft arbeiten sie in hohen Funktionen und in gemeinnützigen Gesellschaften. Unter ihnen sind Psychologen, Sozialarbeiter, aber auch Künstler. Fachleute würden bei ihnen vermutlich von einem Messiaskomplex sprechen, also dass sie das Gefühl hätten, sie müssten die Welt erlösen. Aber sie wollen einfach nur anderen Menschen helfen. Dass sie ein Trauma erlitten haben und darüber nicht reden konnten, äußern sie jetzt in verschiedenen expressiven Aktivitäten wie etwa Zeichnen, Tanzen oder dem Schreiben von Gedichten. Für sie persönlich ist das eine Art Selbsttherapie, was von außen aber nicht erkennbar ist.
Die Erfahrungen der Superkinder werden sich also in jedem Fall irgendwann in deren Leben bemerkbar machen – ob positiv oder negativ?
Das muss nicht sein. Viele Leute mit einer solchen Biographie haben das hervorragend gemeistert. Mir ist es vor allem wichtig, dass die Gesellschaft die Superkinder nicht bemitleidet als arme Teufel. Denn das sind sie bestimmt nicht. Sie sind fabelhafte Persönlichkeiten, die etwas Negatives erlebt haben und jetzt jeder für sich nach einem Weg suchen, damit fertig zu werden. Es beginnt damit, dass sie sich überhaupt erst bewusst machen, was sie durchgemacht haben.
Der entscheidende Punkt, der das ganze Problem auslöst, ist also, dass in der Familie eine professionelle Pflegekraft fehlt und das Kind sie ersetzt? Fürchten sich die Familien das auszusprechen oder gestehen sie sich gar nicht erst ein, dass sie ein Problem haben?
Beides spielt eine Rolle. Was die akute Erstversorgung angeht, gehört Tschechien zur Weltspitze. Dank dieses hohen Standards kann man zum Beispiel nach einem Unfall auch Gehirnverletzungen überleben, die früher zum Tod geführt hätten. Das Problem besteht darin, dass es bei uns keine anknüpfende langfristige Versorgung gibt, die dem Patienten hilft, ins Leben zurückzukehren. Es ist möglich Pflegekräfte anzuheuern, deren Kosten zum Teil auch vom Staat übernommen werden, aber das deckt nicht alles ab. Die Familie muss beginnen auch mit einem behinderten Mitglied zu funktionieren und sollte genau informiert werden, was sie erwartet und wie die Krankheit sich etwa innerhalb der kommenden fünf Jahre entwickelt. Diese Aufgabe müssten die behandelnden Ärzte und das Sozialamt übernehmen. Das geschieht aber nicht und so kommt es zur Phase des elterlichen Scheiterns. Natürlich will niemand sich damit brüsten, dass er von seinem eigenen Kind gepflegt wird. Es ist ein Teufelskreis: Unsere Gesellschaft toleriert diese Situation, und wenn wir beginnen darüber zu sprechen, zeigen wir mit dem Finger auf die Falschen, die doch selbst eher Opfer des Systems sind.
Wie gehen andere Länder mit der Problematik der Superkinder um? Kann man sich bei der Lösung im Ausland inspirieren lassen?
In manchen Ländern beobachtet ein ganzes Team von Leuten die Situation ab dem Moment, an dem es zum Beispiel zu einer Verletzung des Gehirns gekommen ist. In der ersten Phase sind das natürlich Ärzte, später aber auch Behördenvertreter und Sozialarbeiter. Diese Leute verfolgen die Entwicklung des Patienten und seiner Rückkehr in die häusliche Umgebung. In der Superkinder-Problematik gibt es das Paradox, dass je früher der Patient nach Hause zurück kann, desto besser für ihn. Dieses System ist in den skandinavischen Ländern und in Deutschland sehr effektiv. In der Phase der Heimkehr ist es meistens sehr wichtig, dass in dem Team, das den Menschen durch sein Trauma begleitet, auch jemand aus der Familie ist. Ein Kind kann dann Schuld empfinden, dass das seinen Eltern und nicht ihm selbst passiert ist, es macht sich unbewusst Vorwürfe, die sich anhäufen und irgendwann ausbrechen. Und das kann zum Beispiel auch erst im Erwachsenenalter passieren.
Welche Vision haben Sie momentan für ihr Projekt?
Traumhaft wäre es natürlich im ganzen Land Zweigstellen zu haben, wie etwa die Tschechische Alzheimer Gesellschaft (České alzheimerovské společnosti), für die ich auch arbeite. Aber wenn ich mit beiden Beinen auf der Erde bleiben soll, wünsche ich mir vor allem ein Bewusstsein in der Gesellschaft, was diese „Superkinder“ leisten. Wir wollen immer wieder betonen, dass das System nur in einer Zusammenarbeit aller Beteiligten funktionieren kann. Das mag naiv klingen, pathetisch und vielleicht auch sozialistisch, aber wenn sich alle daran beteiligen, dann wird es nie mehr passieren, dass ein Einzelner mit seinem Trauma allein bleibt.