Berlin ist „arm, aber sexy“, sagte einst der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit. In keiner anderen deutschen Großstadt findet man so viele brach liegende Flächen mitten in der Stadt. Graffiti und Street-Art gehören zum Stadtbild einfach dazu.
Da, wo kein Geld ist, um Fassaden zu renovieren, finden sich bunte Schriftzüge und riesige Murals. Selten findet man mal eine Wand ohne Tags oder Stencils, und an Dachgiebeln strahlen vielerorts Roll-ups und Rooftop-Styles. Eigentlich braucht man nur mit einer der zentralen Bahnlinien zu fahren, um bei einem Blick aus dem Fenster die Werke von Crews wie Just, 1UP, CBS, Kripoe, Grab, NHS oder THC zu bewundern. Wer „ehrliche“ Bombings sucht, wird an der Spree fast überall fündig. Wer allerdings nur kurz Zeit hat und nicht davor zurückschreckt, einen sogenannten Hotspot aufzusuchen, der ist mit dem Graffiti-Spaziergang von der Schillingbrücke bis zum Görlitzer Park gut beraten.
Schillingbrücke
Schillingbrücke, Spree, 10243 Berlin
52° 30' 33"N, 11° 33' 39"O
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Foto: © Matthias Wahsner
Magda hört Musik aus der Unterwelt
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Foto: © Matthias Wahsner
Magda hört Musik aus der Unterwelt
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Foto: © Matthias Wahsner
Eisbären und Obszönitäten
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Foto: © Matthias Wahsner
Dieses Bild von Vhils entstand im Rahmen der „Go Forth“-Kampagne
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Foto: © Matthias Wahsner
Ein zombiehafter Character
Unser Grafittispaziergang beginnt auf der Schillingbrücke direkt über der Spree. Blickt man von hier aus in Richtung Eastside Gallery, so springt einem sofort das Lächeln eines jungen Mannes ins Auge: Gould – eine Hälfte des Street-Art-Duos Various & Gould. Fabriziert hat dieses Bild der portugiesische Künstler Vhils, der sich durch eine ganz besondere Arbeitsweise auszeichnet. Er betätigt sich fast bildhauerisch, indem er seine Porträts quasi aus den Fassaden sprengt. Vhils sieht darin auch eine Auseinandersetzung mit der öffentlichen Wahrnehmung von Vandalismus. Entstanden ist das Kunstwerk im Rahmen der „Go Forth“-Kampagne des Jeansherstellers Levis, doch der Markenname taucht in keinem der vier Porträts auf, in denen Vhils Berliner Kreative verewigt hat.
YAAM
Stralauer Platz 35, Straße der Pariser Kommune,
10243 Berlin
52° 30' 30"N, 13° 26' 3"O
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Foto: © Matthias Wahsner
Das YAAM von außen
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Foto: © Matthias Wahsner
„Carpe Noctem“ ist das Motto der großen Nachteule neben dem Eingang des YAAM
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Foto: © Matthias Wahsner
Tierische Begleiter im YAAM
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Foto: © Matthias Wahsner
Wo sind die Trips?
Das YAAM ist eine afro-karibische Oase im Zentrum der Hauptstadt. Gleich neben dem Eingang grüßt eine riesige Nachteule von CBS mit den Worten: „For all those sleeping. Every night I can’t sleep“. Auf dem Club-Gelände selbst fallen vor allem zwei Bilder direkt hinter einer Halfpipe auf. Drei wilde, aneinander gefesselte Tiere versuchen sich zu befreien, und nebenan schaut ein kopfüber hängender Kater nachdenklich drein. Das passt ganz gut zum YAAM: Hier bündeln Kreative ihre Kräfte, sind aber auch irgendwie räumlich eingeengt. An den Außenmauern sollen beschützende Character das Böse fernhalten. Das scheint besonders wichtig, denn: Die Zukunft des Kultur- und Partyzentrums steht mal wieder in den Sternen.
Eastside Gallery
Mühlenstraße, zwischen Oberbaumbrücke und Ostbahnhof,
10233 Berlin
52° 30' 18"N, 13° 26' 23"O
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Foto: © Matthias Wahsner
Touristen an der Gallery
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Foto: © Matthias Wahsner
Bruderkuss
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Foto: © Matthias Wahsner
Diagonale Lösung des Problems
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Foto: © Matthias Wahsner
„Leb’ nicht dazwischen, sondern leb’ es ganz“
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Foto: © Matthias Wahsner
Mauerstürmer
Die unter Denkmalschutz stehende, weltweit längste Open-Air-Galerie versteht sich als Mahnmal und Friedenssymbol. Immer wieder betonen die bunten Motive den Wunsch nach Einheit, Kosmopolitismus und Frieden. Touristenmagnet ist der detailgetreue, sozialistische Bruderkuss zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker. Diese „tödliche Liebe“ ist überwunden, doch die Kunstwerke lassen Ignoranz und Entfremdung nicht vergessen. Das 42 Meter lange Kunstwerk
Wir sind ein Volk von Schamil Gimajev fordert ein friedliches Zusammenleben aller Menschen. Bei den Bildern handelt es sich um Repliken von 1990, die als Mauergalerie 2009 von vielen Künstlern saniert wurden.
Fleischkoloss am Magnet Club
Oberbaumbrücke, Falckensteinstraße, 10997 Berlin
52° 30' 3"N, 13° 26' 41"O
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Foto: © Matthias Wahsner
Beim Einverleibungsprozess
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Foto: © Matthias Wahsner
Ungetüm kurz vor der Nahrungsaufnahme
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Foto: © Matthias Wahsner
Die Pranke des Monstrums
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Foto: © Matthias Wahsner
Blick in den Schlund
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Foto: © Matthias Wahsner
Aus Menschen gemacht
An einer Fassade am westlichen Ende der Oberbaumbrücke hat der italienische Künstler BLU ein gigantisches Mural geschaffen. Der gewaltige Dämon besteht aus zahllosen nackten, rosa Körpern, die sich verbissen aneinander klammern. Auf dem Zeigefinger kauert eine einzige weiße Figur, die sich der Koloss noch nicht einverleibt hat. Eine groteske Metapher für ein totalitäres System, das Menschen vereinnahmt und Individualität nicht zulässt. Oder vielleicht doch eine Kritik am Hedonismus in der Party-Hauptstadt? Das würde zum Hipster-Einheitsbrei passen, der hier oft zu finden ist.
Representing Hip Hop
Oberbaumstraße, Falckensteinstraße, 10997 Berlin
52° 30' 2"N, 13° 26' 40"O
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Foto: © Matthias Wahsner
Blick in Richtung Falckensteinstraße
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Foto: © Matthias Wahsner
Ein Writer setzt sich mit seiner Dose zur Wehr
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Foto: © Matthias Wahsner
Eingang Comet Club
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Foto: © Matthias Wahsner
Farbenfrohes Piece im Durchgang des Comet Clubs
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Foto: © Matthias Wahsner
Piece mit Oldschool Character
Im Eingangsbereich des Comet Clubs gibt der bubble-stylige Schriftzug „Graffiti Rock“ schon einen Vorgeschmack darauf, was den Betrachter im Inneren der Location erwartet: bunte Pieces im Oldschool-Charakter. Hier wird Hip Hop mit quirligen B-Boy-Characters und einem abgezockten Writer präsentiert. Letzterer schaltet gleich mal direkt per Aerosol den Wachmann aus, der ihn auf frischer Tat ertappt hat. Im Hinterhof prangt der Schriftzug „Life One“ vertikal an der Fassade, und auf Augenhöhe runden etliche kleinere Bombings die Sache ab.
Riesen-Murals
Schlesische Straße, Cuvrystraße, 10997 Berlin
52° 29' 59"N, 13° 26' 48''O
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Foto: © Matthias Wahsner
BLUs Figuren demaskieren sich gegenseitig
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Foto: © Matthias Wahsner
Chef GRAB war hier
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Foto: © Matthias Wahsner
Das Zeit-Geld Kontinuum
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Foto: © Matthias Wahsner
Ein Police Character Paste Up
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Foto: © Matthias Wahsner
Typisch Deutsch … typisch Kreuzberg …
Hier hat sich erneut der Italiener BLU verewigt. Charakteristisch für ihn sind seine symbolträchtigen und systemkritischen Murals. Auf der rechten Fassade ziehen zwei Figuren mit jeweils der linken Hand einander die Masken vom Gesicht. Mit den freien Händen zeigen sie ein „E“ und ein „W“ für „East“ und „West“. Sich annähern, einander Gesicht zeigen und die Maske der Ideologie ablegen – für die Begegnung ist der Ort im Bereich des ehemaligen Grenzübergangs ideal gewählt. Auf der Fassade links daneben sind die Hände eines Krawattenträgers an Uhren zusammengekettet. Reglementierung der Zeit und Diktatur des Geldes – Kapitalismuskritik vom Feinsten.
Brandwand Spielplatz
Görlitzerstraße, Falckensteinstraße, 10997 Berlin
52° 29' 48"N, 13° 26' 24"O
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Foto: © Matthias Wahsner
Totale, wie in einem Bilderbuch mit Bombings
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Foto: © Matthias Wahsner
Der Hund mit Federhut
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Foto: © Matthias Wahsner
Drei Freunde
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Foto: © Matthias Wahsner
Leicht argwöhnischer Blick
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Foto: © Matthias Wahsner
Sommersprossengesicht
In den letzten Jahren häufen sich die schicken Auftragsarbeiten an den sogenannten Brandwänden Berlins – an Häusern, deren Nachbarhäuser im Krieg zerstört wurden, und die nun als Solitär frei stehen. Diese Form der Graffiti-Kunst ist für Writer eine besondere Herausforderung, da die Bilder über mehrere Jahre auf den Wänden bleiben und somit das Erscheinungsbild des jeweiligen Kiezes prägen. Gerade für die Kleinen auf dem Spielplatz an der Ecke ist es unterhaltsam, wenn die beliebten Figuren mit großen Augen aus ihrer drolligen Bilderbuchlandschaft herausschauen.
Görlitzer Park
Görlitzer Straße, Eingang „Das Edelweiss“, 10997 Berlin
52° 29' 54"N, 13° 26' 2.37"O
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Foto: © Matthias Wahsner
Bombing an der Außenmauer
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Foto: © Matthias Wahsner
Spike Lee Character von MTO mit roten Outlines
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Foto: © Matthias Wahsner
Görlitzer Park
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Foto: © Matthias Wahsner
Görlitzer Park
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Foto: © Matthias Wahsner
Görlitzer Park
An den Außenmauern des Görlitzer Parks und den umliegenden Häuserfassaden finden sich viele Malereien, die auf die Schnelle entstehen mussten – sogenannte Throw-Ups. Hier sind oft erst auf den zweiten Blick verblasste Outlines ohne Fill-ins zu erkennen. Deutlich ausgefeilteren Werken begegnet man dann im „Görli“, wie der Berliner den Görlitzer Park liebevoll nennt, wo es unter anderem einen Spike-Lee-Character von MTO zu bestaunen gibt. Der Franzose verschönert graue Wände bevorzugt mit den Helden seiner Jugend, die er als besonderes Markenzeichen immer wieder mit roten Outlines einrahmt. Ansonsten gibt es hier häufig NHS, UFO, 1973 und ein langsam dahinblätterndes Oldschool-Mural an der Jugendhilfe Kreuzer.
Erlegte Tiere
Oranienstraße, Manteuffelstraße, 10997 Berlin
52° 29' 58"N, 13° 25' 33"O
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Foto: © Matthias Wahsner
Die toten Tiere hängen vom Dach herab
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Foto: © Matthias Wahsner
Die toten Tiere hängen vom Dach herab
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Foto: © Matthias Wahsner
Die toten Tiere hängen vom Dach herab
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Foto: © Matthias Wahsner
Ein sogenanntes Streichbombing der 1UP Crew
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Foto: © Matthias Wahsner
In der Brache herrscht ein rauer Ton
Läuft man vom Görlitzer Park in Richtung Oranienstraße, stößt man auf eine weitere großflächig bemalte Brandwand. Zu sehen sind drei tote Tiere, die an Strippen vom Dach herabhängen. Falls der Künstler mit diesem Motiv ein Statement gegen Fleischkonsum setzen wollte, hat er zwischen Köfte- und Hähnchenläden den richtigen Ort für sein Werk gewählt. Allerdings isst man hier ja auch gern Falafel und Humus. Wem sich vom Mural der Magen umdrehen sollte, der kann sich stattdessen an den Bombings in der Brache ergötzen oder über das Roll-up (oder auch „Streichbombing“) „Love Art, Hate Cops“ der 1UPs nachdenken.
Lonely Astronaut
Mariannenstraße, Skalitzer Straße, 10999 Berlin
52° 29' 58"N, 13° 25' 22"O
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Foto: © Matthias Wahsner
Victor Ashs Astronaut droht uns zu entschweben
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Foto: © Matthias Wahsner
Victor Ashs Astronaut droht uns zu entschweben
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Foto: © Matthias Wahsner
No Future 1973
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Foto: © Matthias Wahsner
Eine klecksige Angelegenheit
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Foto: © Matthias Wahsner
No Future 1973
Wenn man in der U-Bahn der Linie U1 in Richtung Kottbusser Tor mal wieder sinnierend aus dem Fenster geschaut hat, schwebt einem Victor Ashs einsamer Astronaut wahrscheinlich noch Minuten später vor dem inneren Auge herum. Mit seiner triefenden schwarzen Farbe wirkt das Mural wie ein Stencil. Es kann aber auch als Kommentar auf diese allgegenwärtige Form der Street Art verstanden werden. Im Dunkeln wirkt es so, als würde der Raumfahrer nach dem Schatten der Fahne des naheliegenden Autohauses greifen. Bei Tageslicht betrachtet wirkt die Figur vor allem isoliert und hilflos. Will sie etwa, dass wir ihr die Hand reichen, bevor sie unserer Welt wieder entgleitet?