10 Wege, eine Pandemie zu durchleben
Vom ländlichen Raum zur Großstadt
Zehn Menschen, die in ländlichen und städtischen Gebieten leben, erklären, welche Nachteile das Leben in der Pandemie am jeweiligen Ort mit sich bringt. Die meisten weisen auf ein unzureichend ausgestattetes Gesundheitssystem hin und haben Zweifel, ob wir als Gesellschaft etwas dadurch hinzugelernt haben.
Von Ana Rosa Maza
Vor zwei Monaten ist Celia Blanco mit ihrer Familie nach Cabo de Gata gezogen. In den ersten Tagen der Ausgangssperre dachte sie, dass wenn sie die Pandemie in diesem Örtchen in Almeria erwischt hätte - der Entschluss, umzuziehen, war schon gefasst -, wäre ihr die Quarantäne leichter gefallen. Dabei half ihr der Umstand, dass sie in den Vormonaten aus ihrer Wohnung an der Plaza Mayor nicht heraus konnte, irgendwie dabei, sich von der Stadt zu verabschieden, die so lange +ihr Zuhause war . Die Szenerie, die sich ihr während des Alarmzustands bot, rief bei ihr gemischte Gefühle hervor. Einerseits half ihr der Anblick einer leeren Plaza Mayor dabei, sich mit der neuen Situation zu arrangieren. „Ich habe mein Büro auf den Balkon verlegt“, davor „habe ich immer in dem Raum gearbeitet, der am weitesten von dem Platz entfernt war“. Die wenigen Male, die sie auf die Straße hinausging, war sie von den leeren Straßen beeindruckt. Und ihr wurde klar, dass das traditionelle nachbarschaftliche Miteinander im Zentrum Madrids auch zu den zu beklagenden Verlusten dieser Zeit gehört, weil es inzwischen vollkommen dem Tourismus-Boom zum Opfer gefallen ist.
Nuria Cerolas, 45 Jahre, ist Viehzüchterin und lebt in Puértolas im Landkreis Sobrarbe (Huesca). Sie und ihr Ehemann verbringen die meiste Zeit im Jahr ohne Kontakt zur Außenwelt: „Allein zu sein, ohne Nachbarn, die einem helfen können, ist nicht leicht“. Mit ihren zwei Viehzuchtbetrieben konnte sie sich während der Ausgangssperre ein „normales Leben leben, als sei gar nichts passiert“ und sich um ihre Tiere kümmern. So konnte sie auch ihre Nachbar*innen unterstützen, die angesichts eines längeren Lockdowns bereits im März, früher als gewohnt, im Dorf angekommen waren. Von allen pandemiebedingten Veränderungen erwies sich die Bürokratie, zum Beispiel die An- und Abmeldung von Tieren, als am aufwendigsten: „Früher gingen wir zum Veterinäramt in Boltaña, wo das Verwaltungspersonal diese Arbeit erledigte“. Jetzt geschieht alles online, „und ich komme mit dem Computer nur schlecht zurecht, aber es muss ja gemacht werden“. Bei den Online-Behördengängen kämpft sie mit einer Internetverbindung, die zwar „normalerweise stabil ist, aber manchmal beschädigen Windstrürme oder Starkregen die Empfangstürme und wir sind einige Tage lang ohne Internet oder andere Kommunikationsmöglichkeiten“. Das größte Problem sieht sie in der medizinischen Versorgung. „Wir werden von der Landkreisverwaltung, den Krankenhäusern und im Hinblick auf die medizinische Grundversorgung sehr vernachlässigt“, erklärt sie und erinnert sich daran, dass eine medizinischen Untersuchung für ihren Ehemann schon zweimal verschoben wurde. Nuria denkt nicht daran, aus Puértolas wegzuziehen. „Nur wenn ich im Rollstuhl sitzen müsste, denn die Straßen hier sind sehr steil. Der Ort ist nicht für ein Leben im Rollstuhl gemacht.“
Pablo Parra sagt, dass er während der Ausgangssperre zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder mehr als 15 Tage hintereinander in seinem Bett geschlafen habe. Der aus Buenos Aires stammende Buchhändler lebt schon lange genug in Gurrea de Gállego, um den Ort als seine Heimat zu betrachten. Er ist der Inhaber der Online-Buchhandlung Prólogo, die sich auf den An- und Verkauf von antiken Büchern spezialisiert hat. Er betreibt keinen Geschäftsraum und arbeitet auf Messen, die wenigen jedoch, die diesen Sommer stattfanden, „liefen sehr schwach, wie ich gehört habe“. Was die Arbeit angeht, hat ihm die Ausgangssperre zu denken gegeben: „Durch sie habe ich mich Projekten gewidmet, die lange auf Eis lagen, wie zum Beispiel die Idee, einen kleinen Verlag zu gründen, der Werke von Autoren und Denkern aus dem 19. Jahrhundert neu verlegt. Angesichts der gegenwärtigenKrise und derjenigen von 2008 sowie dem unfairenWettbewerb, der kleine Buchhandlungen wie seine unter Druck setzt, meint er: „Unser Berufsstand geht unter und im Antiquariatsbereich fehlt der Nachwuchs“.
„Diejenigen von uns, die an vorderster Front standen (und stehen), waren sich bewusst, nicht wirklich zu wissen, was gerade geschah.“ Alba Soilán ist Krankenschwester am Hospital Clínico in Madrid. Anfang September sah sie, wie sich die Hauptstadt bereits wieder auf die aktuelle Situation zubewegte. Sie warnt vor der psychischen Erschöpfung, an dem ihr Berufsstand leidet und bemerkt: „Wir brauchen ausgeruhtes Personal, eines, das nicht psychisch am Ende ist“, denn „der Arbeitsalltag laugt uns aus, das Pensum ist zu hoch“ in den Berufszweigen, die aufgrund der Pandemie besonders gefordert sind. Andererseits „kann man sich auf eine solche Pandemie gar nicht vorbereiten, auf Tage, an denen zehn Patienten sterben, während man Dienst hat. Niemand ist darauf vorbereitet“.
Sesa gehört zum Landkreis La Hoya, in Huesca. 147 Bewohner*innen verbrachten dort die Ausgangssperre. Es gibt weder ein Lebensmittelgeschäft noch eine Bäckerei. Die meisten Bewohner*innen sind über 65 Jahre alt. Nachdem die Grundversorgung über Nacht unterbrochen worden war, bestand die dringendste Aufgabe zu Beginn der Ausgangssperre darin, den Grundbedarf an Lebensmitteln zu sichern. „Es gab ältere Menschen, die alleine leben und deren Kinder sie nicht besuchen konnten. Einige haben nicht mal ein Telefon zu Hause“, erklärt Sonia Blanco, die Bürgermeisterin. ie Lebensmittelversorgung wurde von dem Bäckers übernommen, dem zu der Zeit einzigen Händler, der das Dort belieferte. Die Dorftierärztin fungierte als Botin, die „die Pakete, die in ihrer Klinik in Huesca ankamen“, verteilte. Und um die Einsamkeit zu durchbrechen, wurde Musik über Lautsprecher abgespielt und es wurden Spiele angeboten, bei denen jede*r von zu Hause aus mitmachen konnte. Nach Blancos Ansicht sind die Gesundheitsdienste, vor allem die Grundversorgung, „etwas, das nicht wieder vernachlässigt werden darf“, erklärt sie und weist auf Krankheiten hin, die nicht mehr oder nur telefonisch weiter behandelt wurden, da der Gesundheitsnotstand bewältigt werden musste. Sie ist auch besorgt darüber „wie die Situation uns verändern wird. Den Kindern brachte man immer bei, alles zu teilen, aber heute heißt es: ‚teile nichts‘. Ob uns die Pandemie zu besseren Menschen macht? Ich weiß ja nicht“. Blanco, 48, entschied sich, in ihrer Geburtsstadt zu bleiben und dort zu leben. Sie sagt, sie bekämen in der Gemeindeverwaltung mittlerweile Anrufe, in denen sie gefragt werde, ob Häuser zum Verkauf stünden. „Ich glaube, einige Leute werden das noch einmal überdenken.“
Tamara Berbés, Schauspielerin, Theaterregisseurin, Dozentin und Leiterin der Theaterschule La Íntegra, hat begonnen durch die Pandemieerfahrung ihre Arbeitsweise in Frage zu stellen. „Ich lebe von der Arbeit mit Menschen, sowohl als Schauspielerin als auch als Pädagogin“. Als sie ihre Tätigkeit ins Internet verlegte, sah sie sich gezwungen, all das Wissen , das sie in ihrer gesamten Laufbahn erworben hatte, auf den Prüfstand zu stellen . Dadurch konnte sie ihren Schülern Angebote machen, die sie in einer normalen Unterrichtssituation nie in Betracht gezogen hätte. Sie schätzt all die gemeinsam von Menschen aus ganz unterschiedlichen Gegenden organisierten Initiativen, die ohne die Ausgangssperre vielleicht so nicht entstanden wären. „Das Problem ist, dass es nicht nachhaltig ist.“ Die Ausgangssperre hinterlässt ein Gefühl von Freiheitsverlust und Angst davor, auf die Straße zu gehen, „nicht so sehr weil man sich anstecken könnte, sondern weil man etwas falsch machen könnte oder Einkaufen geht und etwas vergessen hat und nochmal zurück muss“. In Städten wie Madrid beobachtete sie einmangelndes „Vermögen, etwas mit sich alleine anzufangen “, es schien notwendig, auch online ständig in Kontakt miteinander zu sein. „Ich kann das Bedürfnis nach Gesellschaft nachvollziehen, aber es scheint mir, als hätten wir kaum innegehalten um darüber zu reflektieren, was eigentlich gerade mit uns geschieht. Bereits Anfang September befürchtete Berbés den Lockdown, den Madrid jetzt erfährt. Sie fordert, dass die Kultur als ein Grundbedürfnis anerkannt wird. Und sie hat sich dazu entschieden, ihren Arbeitsereich im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu unterstützen: „Ich habe bereits einen Bühnenraum angemietet, für Freunde, die nicht wissen, wo sie ihre Stücke aufführen sollen“.
Während der Ausgangssperre hat Pilar Pinto versucht, alles Emotionale aufmerksam im Auge zu behalten. Nicht nur im Hinblick auf ihre Studierenden (sie ist Dozentin an der Abteilung für Französische und Englische Philologie an der Universität Cádiz), sondern auch auf sich selbst. Sie hat keine Kinder, sodass es eher einfach war, sich auf die neue Situation einzulassen: „Ich habe Kolleginnen, für die es viel komplizierter war“. Sie arbeitet an ihrer Doktorarbeit, weshalb sie vorher schon viel Zeit im Home Office verbrachte. „Ich habe mich von Anfang an von den Medien abgekoppelt“. Es gab ein mediales Dauerfeuer, das viel Angst verbreitete: „Ich habe den Fernseher irgendwann nicht mehr eingeschaltet, es hat mich emotional zu sehr mitgenommen.“ Sie dachte häufig an die schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die große Mehrheit der Bevölkerung, „das war etwas, das mir persönlich sehr zu schaffen machte“. Sie glaubt, dass diese Krise dazu führt, dass wir einander sehr kritisch begegnen, „und wir irren uns aber dabei, gegen wen wir diese Kritik richten“.
Judith Prat ist Fotojournalistin und lebt in Saragossa. Bis sie als systemrelevant betrachtet wurden, begann sie zusammen mit anderen Fotojournalist*innen auf dem eigens eingerichteten Instagram-Profil @FotoCovidDiaries über die Pandemie zu berichten. Dabei war ihr sehr bewusst, wie ländlich die Region ist, in der sie lebt. Und das verliert sie bei den Geschichten über die Pandemie in den Dörfern nie aus dem Blick. „Es war dasselbe wie in der Stadt. Ich begegnete derselben Angst vor der Krankheit. Die Menschen eingeschlossen in ihren Häusern, mit Ausnahme der Landwirte und Viehzüchter*innen. Viele ältere Menschen dort waren einsam, da ihre Kinder - in den Städten - sie nicht besuchen konnten. Die Mitarbeiter*innen des häuslichen Pflegediensts das Landkreises waren über Monate ihr einziger menschlicher Kontakt, wie Prat erklärt. Prat stellt Fragen, auf die wir ihrer Ansicht nach Antworten verlangen sollten. Was ist mit den älteren Menschen? Wo verbringt jemand die Ausgangssperre, der kein Zuhause hat? Welche Verantwortung trägt die Gesellschaft ? Ist unser Pflegesystem der Situation gewachsen? „Was in den Altersheimen geschehen ist, macht es erforderlich, gründlich über die Mängel des Systems nachzudenken und entsprechend zu handeln.“ Sie weist auch auf andere Bereiche hin, die deren Schwachstellen offen gelegt wurden , wie etwa die Arbeitsbedingungen der Saisonarbeiter oder der fehlende Zugnang zu Information; „in Aragonien durften wir die Krankenhäuser nicht betreten". In ihrem Beruf hatte sie bis zu dieser Pandemie nie das Gefühl gehabt, dass eine Gefahr von ihr als Fotografin ausgehen könnte, die auf die Straße geht: „Das hat mich beunruhigt, als ich noch keine Maske hatte. Anfangs habe ich nur leere Straßen fotografiert und habe Abstand von allen gehalten. Meine erste Maske wurde mir von einem Mädchen geschenkt, das die Maske selbst genäht hatte.
In Muel, einem 1.300-Seelen-Dorf in der Nähe von Saragossa, in dem Félix A. Rivas lebt, gründeten sich während der Quarantäne verschiedene Initiativen, mit denen man kollektiv Verantwortung übernehmen und die Herausforderungen des neuen Alltags zu meistern versuchte, zum Beispiel der Tatsache, dass keine Bestattungen stattfinden durften. „Denjenigen nicht beistehen zu können, die einen ihrer Nächsten verloren haben, war für uns besonders schlimm“. Über eine Telegram-Gruppe „haben wir die Menschen, die mit solch einer Situation konfrontiert waren, begleitet und die betroffenen Familien waren sehr dankbar dafür.“ Dies sei ein Beispiel dafür, wie man sich kollektiv selbst organisieren und einen Weg finden kann, mit den bestehenden Einschränkungen umzugehen. Er glaubt, dass aus dem Leben mit der Pandemie unterschiedliche Lehren gezogen werden können und dass die im Zuge der Ausgangssperre entstandenen Initiativen, die zuverlässig sind und einem ernsthaften Zweck dienen, eher Bestand haben werden.
„Im Dorf sind die Menschen daran gewöhnt, für alles Mögliche aus dem Haus zu gehen, und sei es nur, um frische Luft zu schnappen“, sagt Florencio Blázquez über Navamorcuende. Blazquez arbeitet als Feuerwehrmann in der Waldbrandbekämpfung. Einige Tage, nachdem seine Firma ihn zu Beginn der Ausgangssperre nach Hause geschickt hatte, begann er, für einen neuen Dienst des Gesundheitsministeriums zu arbeiten, der dafür zuständig war, Medikamente, Pflegeausrüstung und Tests in Krankenhäusern und Wohnheimen zu verteilen. Manche „desinfizierten auch Wohnheime und Gesundheitszentren, Innen- und Außenbereiche und es gab auch einen Dienst für den Krankentransport.“ „Was ich gesehen habe, als ich dort gearbeitet habe, wird mir für immer in Erinnerung bleiben“, sagt er über die überlasteten Krankenhäuser, Gesundheitszentren und Altersheime auf dem Höhepunkt der ersten Pandemiewelle. Ausgehend von dem, was er persönlich gesehen hat und was ihm nahestehende Personen aus dem Gesundheitsbereich erzählen, hält er es für unerlässlich, „das Gesundheitswesen zu verbessern, mehr Personal und Kapazitäten für mehr Patienten zu schaffen - auch wenn das eine abgegriffene Forderung ist . Es war sehr bedrückend zu sehen, wie sich die Menschen in den Gängen ansammelten, weil niemand sie behandeln konnte.“ Er betont, dass die Bedrohung zwar unsichtbar, aber doch unübersehbar ist: „Das Gesundheitspersonal bis an seine Grenzen zu belasten, wie es derzeit geschieht, wird langfristig dazu führen, dass diese Menschen psychologische Betreuung benötigen, weil sie nicht darauf vorbereitet waren, was sie gesehen haben und weiterhin sehen werden.“