Áile Aikio
Ein Paradox namens europäisches indigenes Volk
Die saamischen Kinder tragen einen Fahrradhelm, wenn sie radeln. In diesem Punkt sind wir Eltern unnachgiebig, ohne Helm wird nicht gefahren. Ebenso genau achten wir darauf, dass der Helm abgesetzt wird, wenn die Kinder vom Rad steigen, damit der Gurt sie nicht erdrosselt. Wir selben saamischen Eltern fahren im Winter mit unseren Kindern im Motorschlitten. Dann setzen wir allen eine Pelzmütze auf, zum Schutz vor der Kälte. Beim Aufbruch bringen wir sie zum Lachen, indem wir erzählen, dass alle anderen beim Schlittenfahren einen Helm tragen müssen, die Rentierleute aber nicht, denn sie stecken die Fangschlinge in den Schulterriemen. Wir setzen Dreijährige vor uns in den Motorschlitten und lassen Zehnjährige selbst fahren, in einem Skidoo Summit der Klasse unter 800, vom Preis und den Pferdestärken her einem kleinen Pkw vergleichbar. Ein Saame muss ein Schneemobil lenken können und ‚ii guhtege riegát ákšu gieđas‘, niemand kommt mit der Axt in der Hand zur Welt, es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, man braucht von klein auf Übung. Beginnt man erst mit 15 zu lernen, wenn man dem Gesetz nach alt genug ist, Kraftfahrzeuge zu lenken, ist man nach Ansicht der Saamen zu spät dran, denn in diesem Alter sollte man es bereits können. ‚ležas dat ferte gámadit‘, man muss sich selbst die Schuhe anziehen können, denkt der Saame und legt größten Wert darauf, die Kinder zu selbständigen Menschen zu erziehen. Ich als Saame beteilige mich daran, doch als Kulturwissenschaftlerin mache ich mir gleichzeitig mentale Notizen darüber, wie die Saamen, die generell das Gesetz und die Obrigkeit respektieren, die Vorschriften ohne Skrupel flexibel auslegen, wenn die eigenen Erziehungsprinzipien es erfordern.
Im internationalen Kontext werden als Gegenpol zum Begriff indigenes Volk und dem dazugehörigen Adjektiv (indigenous) die Ausdrücke weiß (white/caucasian), westlich (western), kolonial (colonial) oder europäisch (european) verwendet. Für die meisten indigenen Völker repräsentiert der Europäer eine fremde, von außerhalb gekommene kolonialistische Herrschaft. Aber auch in Europa gibt es indigene Völker. Wenn man gleichzeitig ein moderner, westlicher Europäer und Angehöriger eines indigenen Volkes ist, gerät man in Situationen, in denen die unterschiedlichen Werte, Denkmuster und Handlungsweisen kollidieren. In diesem Artikel erörtere ich, ob es möglich ist, gleichzeitig Europäer und Saame zu sein.
Die Saamen, ein europäisches indigenes Volk
Die Saamen sind das einzige offiziell anerkannte indigene Volk im Gebiet der Europäischen Union. In Finnland wurde die Stellung der Saamen als indigenes Volk 1995 in der Verfassung anerkannt, und die Saamen haben als indigenes Volk das Recht, ihre Sprache und Kultur sowie die dazugehörigen traditionellen Erwerbszweige aufrechtzuerhalten und zu entwickeln. Die Heimat der Saamen ist Sápmi, Saamenland. Sápmi ist ein ausgedehntes Gebiet, das sich von Mittelschweden und Mittelnorwegen nördlich bis nach Finnland und östlich bis zur Kola-Halbinsel erstreckt. Sápmi wird durchschnitten von den Staatsgrenzen zwischen Norwegen, Schweden, Finnland und Russland, die den Machtverhältnissen und Interessen der Nationalstaaten entsprechend gezogen wurden. Trotz der Staatsgrenzen sind die Saamen ein Volk, wie 1986 in der Deklaration der Saamenkonferenz in Åre festgestellt wurde: „mii Sámit leat okta álbmot eaige riikarájit galgga rihkkut min oktavuođa“, „wir Saamen sind ein einziges Volk, und die Grenzen zwischen den Staaten dürfen die Einheit unseres Volkes nicht zerstören“.Sápmi, die Heimat der Saamen, gehört geografisch zu Europa, und demnach sind die Saamen Europäer. In Skandinavien sind die Saamen in den skandinavischen Wohlfahrtsstaat und dadurch in die westliche Hemisphäre integriert. Daher können die Saamen als europäisch, westlich und als Bürger der Ersten Welt gelten. Trotz der Sicherheit des skandinavischen Wohlfahrtsstaates haben die unterworfenen Saamen eine schlechtere sozio-ökonomische Stellung als die restliche Bevölkerung. Die schwächere Stellung und die lange anhaltende kolonialistische Assimilationspolitik manifestieren sich u. a. in niedrigerem Einkommensniveau, in der geringeren Verfügbarkeit von Dienstleistungen, in sprachlicher Ungleichwertigkeit, Marginalisierung und einer Selbstmordrate, die deutlich höher ist als in der restlichen Bevölkerung.
Die Vierte Welt der indigenen Völker
Die Welt der indigenen Völker wird mitunter als Vierte Welt bezeichnet. Die Vierte Welt ergänzt die während des Kalten Krieges gebräuchliche Gliederung, bei der die westlichen Länder die Erste, die kommunistischen Länder die Zweite und die Entwicklungsländer die Dritte Welt bilden. Im Kontext der indigenen Völker wurde der Begriff von George Manuel eingeführt, dem ersten Vorsitzenden des Weltrats der Indigenen Völker. Im Gegensatz zu den drei anderen ist die Vierte Welt kein geografisch oder anhand von Staatsgrenzen zu definierendes Gebiet, sondern umfasst die Völker und Gruppen, die keinen eigenen Staat haben. Manuels Vierte Welt gehört den staatenlosen, im Vergleich zur Mehrheit sozio-ökonomisch benachteiligten, marginalen Völkern und Volksgruppen, wie den indigenen Völkern (Manuel 1974).Zwar sind die Saamen geografisch Europäer, doch ihre mentale Heimat liegt in der Vierten Welt der indigenen Völker. Dort, im Bereich der politischen Bestrebungen der indigenen Völker, sind die Saamen ein aktiver und anerkannter Teil einer weltweiten Gemeinschaft. In der Vierten Welt leben die indigenen Schwestern und Brüder der Saamen, wie Nils-Aslak Valkeapää, der Nationaldichter der Saamen, sein Gefühl anlässlich der ersten Weltkonferenz der indigenen Völker 1975 zum Ausdruck bringt:
Sániid dajatkeahttá
váibmu dovdá oahpisvuođa
ilu suotnjarat
miela čuvgejit
Lea ihtán oabbá
lea gávdnon viellja
Mii iluid
mii iluid
Viimmatge
(Valkeapää 1976:3)
(Ohne Worte zu sprechen / spürt das Herz die Vertrautheit / die Strahlen der Freude / erhellen das Gemüt / Eine Schwester ist erschienen / ein Bruder gefunden / Welche Freude / welche Freude / Endlich).
Obwohl die indigenen Völker in sehr unterschiedlichen Regionen leben, von feuchtheißen Regenwäldern bis zu hohen Gebirgen, und wir uns aus sprachlichen Gründen nicht immer verstehen können, empfinden wir Zusammengehörigkeit. Teils aufgrund ähnlicher Erfahrungen und Handlungsmuster, teils aufgrund eines gemeinsamen geistigen Wertsystems. Die Erfahrungen mit dem Kolonialismus verbinden uns Saamen mit der Welt der anderen indigenen Völker. Schulheime, die Enteignung des Bodens, Zwangsbekehrung, der Verlust der Sprache und die Verelendung der traditionellen Erwerbszweige unter dem Druck konkurrierender Wirtschaftsformen bilden die gemeinsame dunkle Geschichte der indigenen Völker. Die gemeinsamen Erfahrungen ermöglichen die Zusammenarbeit und das Auffinden neuer Lösungen. Für die Saamen ist die globale Tätigkeit der indigenen Völker einerseits eine Möglichkeit, den schlechter gestellten indigenen Völkern Solidarität und Unterstützung zu geben, andererseits ist sie ein Faktor, der das saamische Volk und die saamische Identität als indigenes Volk stärkt.
Literatur
- Manuel, G. & Posluns, M. (1978). The Fourth World: An Indian Reality.
- Valkeapää, N. & Nuorgam-Poutasuo, H. (1976). Lávlo vizar biello-cizaš.