Frühjahr '90
„Plötzlich sind wieder alle da“
Ein Jahr nachdem die Berliner*innen auf der Mauer tanzen, ist Deutschland wieder ein Land. Aber wie fühlte sich die Wiedervereinigung für einen ehemaligen Insassen Hohenschönhausens an? Von argentinischem Steak in der Stasizentrale, unerwarteten Wiedersehen und Berliner Clubs.
Von Regine Hader und Dr. Andreas Ludwig
Der Himmel ist wolkenverhangen. Wo sich sonst einsam die Pferde der Quadriga erheben, tanzen im Nebel der Freudenfeuerwerke – wie schon am 9. November – die Silhouetten ausgelassener Menschen aus Ost- und West-Berlin. Sie sind auf das Brandenburger Tor gestiegen, das seit dem 22. Dezember zwei zusätzliche Übergänge rahmen. Sie führen vom einen in den anderen deutschen Staat. Die Berliner*innen feiern so ausgelassen, dass die Quadriga danach aufwendig restauriert werden muss.
Weihnachten liegt in diesem Moment erst ein paar Tage zurück. Eigentlich ein Familienfest, wird es 1989 zum symbolträchtigen Datum, denn nun können Bürger*innen ohne Visum die Grenzen überqueren. Bis Mitte Februar werden allein in Berlin dreißig neue Grenzübergänge öffnen.
Mario Röllig feiert nach über einem Jahr der Trennung Weihnachten wieder mit seinen Eltern. Zwischen den Dampfwolken eines Thermalbads hatte er sich auf einer Ungarnreise 1985 verliebt – in einen Politiker aus West-Berlin. In Ostberlin treffen sie sich. Immer wieder. Über zwei Jahre hinweg, die Stasi als Statist*innen, als ewige Beobachter*innen ihrer Liebe. Schließlich fasst Mario Röllig all seinen Mut, versucht, über die grüne Grenze von Südungarn über Jugoslawien nach Westberlin zu fliehen und scheitet. Im Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen dehnen sich die Tage unter psychischer Folter ins Unendliche. 1988 kann er die DDR verlassen. Für ihn begleiten den Mauerfall und das besonders bunte und laute Silvester 1989/90 ambivalente Gefühle.
„Das interessante bei mir war: ich habe mich über den Fall der Mauer einige Tage überhaupt nicht gefreut, weil auf einmal alle Leute wieder da waren, die mir damals das Leben so schwer gemacht haben. In der Nacht des Mauerfalls habe ich mich eben überhaupt nicht gefreut. Mein Vater rief aus Ost-Berlin an und sagte ‚Junge, die Mauer ist gefallen.‘ Ich hatte ‘nen harten Arbeitstag hinter mir, gerade geschlafen. Da hab‘ ich erstmal gesagt, ‚Sag mal seid ihr betrunken? Damit macht man doch keinen Spaß!‘ und hab‘ aufgelegt.“ Mario Rölligs Vater ruft nochmal an: „Junge, die Mauer ist gefallen. Mach doch mal den Fernseher an!“ „Und dann hab ich den Fernseher angeschaltet und obwohl ich noch in derselben Nacht zum Grenzübergang in der Bornholmer Straße gefahren bin, nach knapp zwei Jahren meinen Eltern in den Armen gelegen habe, war es im ersten Moment eben kein so gutes Gefühl. Einfach weil die Mauer mich ja nicht nur getrennt hat von meiner Familie, sondern weil sie mich geschützt hat vor den Leuten, die mir in der DDR das Leben so schwer gemacht haben.“ An Silvester steht Röllig am Brandenburger Tor und feiert.
Fernsehsender aus DDR und BRD kooperieren an diesem Abend: Sie berichten abwechselnd von beiden Seiten des Brandenburger Tors. Schwarz-rot-goldene Fahnen flattern immer wieder durchs Bild. Historiker*innen sprechen deshalb von einer „Zweiten Wende“, in der sich der Wunsch nach einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten durchsetzt.
Währenddessen überlegt die DDR-Führung bereits, wie sie die Mauer kommerziell verwerten kann. Am 31. Januar beginnt sie, die Mauersegmente gegen Devisen zu verkaufen. Sie sind heute, nicht nur in Deutschland, in Museen zu sehen und wurden zerhackt als Mauerstückchen-Souvenirs verwertet, sondern verbinden als Baumaterial für Straßen und Autobahnen Orte, die sie früher trennten.
Sturm auf die Stasizentrale
In Erfurt steigen schon im Dezember schwarze Rauchwolken in den Himmel. Es sind keine Freudenfeierwerke. Sie strömen aus dem Schornstein der Stasizentale. Jahrelang verliefen die Leben vieler DDR-Bürger*innen hier wie in einer verzerrten Wiederholung: Ihre Gewohnheiten, ihre politischen Gedanken, Gefühle, Beziehungen, ihre intimsten Details schrieben Mitarbeiter*innen der Stasi nieder. Zugeflüstert oder zugesteckt, vielleicht auch von den eigenen Nachbar*innen, Freund*innen, Verwandten oder von zufälligen Begegnungen abgetippt. Die Stasi nutze ihr Wissen als Druckmittel gegen die eigene Bevölkerung.Wut und Verzweiflung über Täter*innen, die ihre Spuren verwischen, treiben die Bürger*innen -und Frauenrechtlerin*innen Gabriele Stötzer, Claudia Bogenhardt, Sabine Fabian, Tely Büchner und Kerstin Schön an. Sie führen die Besetzung auf die Stasizentrale in Erfurt an – Rostock und Leipzig folgen.
Sechs Wochen später, am 15.1.1990, sperren vermutlich Sicherheitskräfte des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin, das jetzt Amt für Sicherheit heißt, die Tore auf. Stiefel trippeln die Treppen hinauf, ein paar Minuten später wirbeln schließlich die Akten im Treppenhaus von Etage zu Etage, segeln vor den Augen regimekritischer Bürger*innen, mit der Angst vor gewaltsamen Übergriffen der Stasi und dem Gefühl der Ohnmacht, zu Boden. Dieser Umschwung von Ohnmacht zu ist vor allem den jungen Frauen aus Erfurt zu verdanken, die das Ende der Stasimacht über die geheimen Polizeiakten einläuteten.
Dank ihnen und den Besetzer*innen in Rostock, Leipzig und jetzt auch in Berlin, enden die Akten, die Belege der Gewalt und Überwachung, gleichzeitig aber auch selbst Unterdrückungsinstrument der Stasi sind, in diesen Wintertagen nicht vollständig im Schredder oder im Feuer, wie Stasi-Chef Erich Mielke es schon am 6. November anordnete. Der Moment, in dem diese Dokumente in Buchstaben und Streifen aufgelöst worden wären, hätte nicht nur die Systematik und Methodik des SED-Staates verschleiert, sondern auch die Täter*innen entlastet.
In der Stasizentrale öffnen die Besetzer*innen vollgestopfte Säcke und finden massenhaft Papier. Nachdem sie über Jahre immer wieder Schlange standen, um Fleisch, Früchte, Zucker und alltäglichste Produkte zu bekommen, entdecken Sie hier Luxuswaren wie argentinisches Rindfleisch und einen hauseigenen Frisiersalon der Stasi. Zwischen den gebunkerten Delikatessen und der Fassungslosigkeit erwächst das Gefühl einer neuen Zeit.
Die Besetzung des Ministeriums in Berlin ist der Schlusspunkt dieser großen Entwicklung, die in Erfurt anfing. Wie grundlegend sich die Welt in diesem Momenten umkehrt – und wie schnell die Situation kippen könnte – zeigt das einzige Todesopfer des Sturms: Ein verzweifelter Stasi-Offizier im Suhl erschießt sich während der Besetzung.
Auch die Bürgerkomitees, die jetzt die der Stasi-Zentralen kontrollieren, wissen nicht genau, was mit den Akten passieren soll. Weiterhin werden Unterlagen vernichtet. Mit dem Stasi-Unterlagengesetz Ende 1991 steht endlich fest, dass sie in einem Archiv zugänglich sein sollten. Opfer der Stasi können die Akten einsehen, Wissenschaftler*innen an ihnen forschen.
Die Öffnung der Akten schafft Klarheit. Die Zweifel, wem man trauen kann und wem nicht, lösen sich in Erleichterung oder Enttäuschung auf. 190.000 „inoffizielle Mitarbeiter*innen“ hatte die Stasi kurz vor der Wende: Menschen, die persönliche Informationen über ihre Freund*innen, Nachbar*innen oder Schüler*innen an die Stasi weitergaben.
Nachdem das überschwängliche Wiedersehen im Oktober große Freiheitsgefühle beflügelte, reiben nun einige Begegnungen alte Wunden wieder auf. „Leute, die hundert Prozent SED-treu waren, waren die ersten, die sich an den Schaltern der Banken die hundert Mark Begrüßungsgeld holten", erinnert sich Mario Röllig.
Abwanderungen und Erkundungen
Die Mauer ist weithin offen. Über die winterliche Stadtlandschaft legt sich eine Mischung aus Abschied und Neuanfang. Bis kurz vor Weihnachten ziehen mehr als 200.000 DDR-Bürger*innen in den Westen. Sie sitzen zum Beispiel im Berliner Notaufnahmelager Marienfelde eng aneinander. Allen Anwesenden ist klar, dass das Lager hoffnungslos überfüllt ist – und wahrscheinlich auch, dass die Lage in der DDR immer schwieriger wird. 250.000 Arbeitskräfte fehlen. Krankenpfleger*innen und Ärzt*innen können ihre Patient*innen in den Krankenhäusern nur noch notdürftig versorgen.
Als die Sonne mitten im Februar für ein paar Tage Sommer spielt, fahren viele Westdeutsche an Orte, die sie nur noch aus Theodor Fontanes Romanen kennen. Sie unternehmen Wanderungen durch die Mark Brandenburg, in geistiger Begleitung Herrn Ribbecks zu Ribbeck im Havelland. Die Beifahrer*innen suchen auf der Straßenkarten nach fast magisch anmutende Städtenamen: Stralsund und Wismar für die Störtebeker-Fans, Quedlinburg und Görlitz für die Geschichtsfreund*innen, natürlich auch Leipzig und Dresden. Das Land erinnerte viele an die 1950er-Jahre, wie im Wartestand auf eine neue Zeit, die schon längst angebrochen ist. Die Tore der Kaserne der Nationalen Volksarmee stehen längst offen, die Soldat*innen angelten – keine Spur mehr von der sonst üblichen Strenge der „bewaffneten Organe“. Die Tourist*innen aus dem Westen fuhren mit knurrendem Magen nach Hause, denn die wenigen Cafés, Restaurants und Gasthöfe waren dem Ansturm der Wochenendgäste hilflos ausgeliefert, falls sie im Winter überhaupt aufhatten.
„Die Insel Westberlin fand ich zu diesem Moment ganz gut. Im ersten Moment kamen mir schwierige und melancholische Gefühle – jetzt kommt ‘ne neue Zeit. Aber gleichzeitig hat sich in ganz kurzer Zeit ohne großartige Beschlüsse ganz viel verändert.“ In den verfallenen Häusern mitten in Ostberlin entstanden die ersten Clubs. „Vieles war möglich ohne große Genehmigungen. Es ging nach 28 Jahren des Stillstands – auch in Westberlin – darum, die Freiheit zu feiern. Man schmorte in Westberlin so im eigenen Saft. Im Osten war es ja noch viel schlimmer. Auf einmal brach das alles auf! Es ging darum, das Leben selbst in die Hände zu nehmen.“
Während die Menschen zuvor im einen Staat Monopoly und im anderen Bürokratopoly spielten, fanden für kurze Zeit in Clubs wie dem Tresor Partys ohne Aktenberge und Kommerz statt. Ad-hoc Kneipen entstanden in Wohnungen, die Bewohner*innen verkauften Bierflaschen aus den Fenstern im Erdgeschoss. Das neue Jahrzehnt belebt die verfallenen Häuser in der Mitte Ostberlins wieder. Nur ein paar Schritte von der ehemaligen Grenze entfernt, verwandeln sich die Ruinen und heruntergekommenen Gebäude von Symbolen für den Stillstand zu Orten, an denen man sich ausprobieren kann. „Bei der Clubkultur ging es damals nicht um Wirtschaft oder Konsum oder schnell Geld zu machen, sondern darum, einfach neue Dinge auszuprobieren und die Freiheit zu feiern.“
Mario Röllig war für die Wiedervereinigung: „Durch die misslungene Flucht aus der DDR und die Haft bei der Staatssicherheit in Hohenschönhausen habe ich gedacht: «Endlich geht das System unter.«“. Dennoch erzählt er, dass es das Gemeinschaftsgefühl aus Ost-Berlin in diesem Frühling nicht mehr gab – und es auch erstmal nicht mehr wieder kommen würde. Trotz der gemischten Gefühle ist Mario Röllig immer noch froh über seinen Neuanfang in West-Berlin, er hat sich auch nach dem Mauerfall auf sein privates Leben und Fortkommen konzentriert. „Jeder musste sich erstmal um sich kümmern und darum, wie er weiter kommt.“ Erst die späteren Begegnungen mit alten Schulfreund*innen sowie den Menschen, die Mitte der 80er-Jahre in Ostberlin sein Coming-out als schwuler Mann miterlebten, lassen das Gefühl wieder auferstehen. „Wir treffen uns und erzählen wieder bei Veranstaltungen, Lesungen, Podiumsdiskussionen und Filmen, wie es damals war. Durch die Abwicklungen der Firmen brach für viele meiner Freunde und ihrer Familien die Struktur weg. Sie mussten sich erstmal um ihr Leben kümmern. Das war für Viele ein sehr anstrengender und trauriger Prozess, weil sie eben auch die kalten Seiten der neuen Gesellschaft spürten.“ Mario Röllig beschreibt, wie sich diese Gefühle bei einigen Menschen in Ausländerhass drehten. „Sie hatten Angst, dass Menschen aus Vietnam, die in Deutschland Fuß fassen und bleiben wollten, plötzlich bessergestellt sein könnten als Deutsche.“ Ein paar Jahre danach werden die traurigsten Bilder des vereinten Deutschlands durch die Presse gehen: Asylheime brennen auf den Titelseiten der Zeitungen.
Neue Karrieren und alte Lasten
Ehemalige Nachbar*innen von Rölligs Eltern, Mitarbeiter*innen der SED-Behörden, wurden plötzlich zu Vorgesetzen und Abteilungsleiter*innen. „Eine Frau, die in der Abteilung Inneres die Ausreiseanträge abgelehnt hat, war auf einmal Chefin des Arbeitsamtes in Treptow-Köpenick. Und Gott sei Dank, wurde sie von ganz vielen Menschen wiedererkannt und von dieser Stelle entfernt. Aber viele andere hatten eben durch Seilschaften, durch Kontakte, einen Einstieg ins neue Land und wurden dann Stadtrat oder sogar Abgeordnete im deutschen Bundestag – als Stasispitzel!“
Er konzentriert sich zu Beginn der 90er-Jahre auf sich selbst, Mitte der 90er absolviert er eine neue Ausbildung als Kaufmann in der Zigarrenabteilung des Kaufhauses des Westens in Berlin. „Eigentlich war die Welt in Ordnung. Ich war damals in der Berliner Aidshilfe sozial engagiert, Betriebsrat war ich noch aber sonst habe ich mich politisch nicht betätigt. Ich habe mich auch nach 1989/90 viele Jahre nicht darum gekümmert, welcher dieser Musterkommunisten im vereinten Deutschland dann doch Karriere macht.“ Das sollte ihm noch schmerzlich bewusst werden.
Die Zeit, bevor er für die Liebe und wegen der Enge und Spießigkeit aus der DDR flüchtet, hat er dennoch in guter Erinnerung. Viele Erinnerungen an die Haft, die noch da sind, hat er zu diesem Zeitpunkt verdrängt. „Am 17. Januar 1999, kann ich mich noch gut erinnern, kam ich morgens zur Arbeit: sechste Etage, KaDeWe, hab meinen Zigarrenstand aufgebaut. Auf einmal steht ein Mann von Mitte Vierzig vor mir, im dunklen Anzug, braun gebrannt und erst habe ich gedacht, es ist ein Prominenter. Es war so ein Aha-Erlebnis: Den kenn‘ ich. Und mit einem Mal fiel es mir wie Schuppe von den Augen: Es ist der Stasioffizier, der mich zwölf Jahre vorher, 1987, monatelang im Stasigefängnis in Hohenschönhausen schikaniert, verhört, psychisch gefoltert hat! Als ich ihn erkannte, wurde ich kreidebleich, fing an zu zittern.“ Der ehemalige Stasioffizier erkennt Mario Röllig nicht. „Das war für mich, als ob man dem Teufel in die Augen schaut. Vorher hatte ich mir ganz oft überlegt: Wo setze ich die Pistole an, wenn ich so jemanden wie den wiedersehe? Das kann man zwar träumen oder denken, aber natürlich nicht tun.“ Als es dann wirklich passiert, blitzen Mario Röllig andere Gedanken durch den Kopf: Schlag ich dem jetzt eins ins Gesicht, weil verdient hätte er’s ja. Andererseits habe ich dann gedacht «Nee, dann bin ich meine Arbeitsstelle los und ein Schlag ins Gesicht bringt ja nur im Moment Genugtuung und hilft mir nicht, mit der Vergangenheit klarzukommen.«“ Trotzdem möchte Röllig wissen, „wie der Offizier jetzt tickt. Bis dahin hatte ich mich mit dem Thema gar nicht mehr auseinander gesetzt und ich kannte niemanden, der sich bei seinen Opfern entschuldigt hat.“
Als er gehen will, zieht Mario Röllig seinen Peiniger kurz am Ärmel „Entschuldigen Sie, wir kennen uns!“ er sagte „Ja, woher denn?“ „Sie waren Stasioffizier im Gefängnis in Berlin Schönhausen.“ Röllig erinnert sich: „Auf einmal wurde sein freundliches Gesicht ganz kalt und er sagt „ja und, was wollen Sie jetzt hier von mir?“ Mir hat niemand geholfen, die Leute im Kaufhaus waren wahrscheinlich selber total schockiert. Ich hab ihm erzählt, wer ich bin, dass ich 1978 wegen eines Fluchtversuchs in Haft kam und er mich verhört hat. Er wollte zwei bis acht Jahre Gefängnis für mich, weil ich angeblich mit dem Fluchtversuch mein Vaterland verraten habe. Und auf einmal fing er an, laut zu werden und zu schreien, ob ich nicht begriffen habe, dass ich zurecht im Gefängnis war. Wofür sollte er sich entschuldigen? Reue ist was für kleine Kinder.“ Er drehte sich um und ging.
In dem Moment kommt alles Erlebte, von dem Mario Röllig dachte, er hätte es verarbeitet, hoch: „Es war nur ganz tief in der Seele zurückgelegt“. Er geht in den Hausflur und schreit. Die Betriebskrankenschwester gibt ihm ein Beruhigungsmittel und schickt ihn nach Hause. „Zu Hause wurde ich richtig krank. Ich nahm eine Überdosis Schlafmittel. Ein Freund, mit dem ich an dem Abend verabredet war, hat mich gefunden zwischen den leeren Tablettenröhrchen. Ich wurde im Krankenhaus ins Leben zurückgeholt, aber ich hatte gar keinen Lebensmut mehr, weil ich mich gefragt habe, wozu, wenn solche Leute wie dieser Stasioffizier so ein gutes Leben in unserem vereinten Deutschland haben?“
Röllig möchte nicht mit den Ärzt*innn sprechen. Sie wissen nicht, was sie für ihn tun können, denn privat und beruflich scheint alles in Ordnung. Im Gespräch mit den Eltern erfährt der Chefarzt, dass Mario Röllig als junger Mann als „Flüchtling“ im Gefängnis in Hohenschönhausen bei der Staatssicherheit inhaftiert war. „Er wusste, dass ich ein Trauma habe und kam mit einem Flyer dieser Gedenkstätte an mein Bett. «Junge, wenn du jetzt nicht mehr leben willst, dann haben die doch erreicht, was die damals wollten. Nicht für Jeden, aber für dich ist das Beste, du gehst dort hin und erzählst, was du erlebt hast und dann wird es dir besser gehen.« Und das mache ich nun seit über zwanzig Jahren“, sagt Röllig.
Westprodukte
Während langsam die Bäume austreiben und der Frühling sich über die grauen Städte legt, ist die Zukunft der DDR noch unklar. Soll und kann die DDR den „dritten Weg“ gehen– also einen besseren Sozialismus schaffen?
Da an den Grenzen nicht mehr kontrolliert wird, kaufen viele Westdeutsche im Osten billig und gefahrlos ein. Offiziell tauschen die Besucher*innen West- zu Ost-Mark weiterhin 1:1 um, später 1:3. Auf dem Schwarzmarkt liegt der Kurs jedoch bei 1:10, Tendenz fallend. Auch Ostdeutschen decken sich mit teuren Konsumgütern ein, obwohl sie kostspielig sind als im Westen. Sie haben Angst, ihre Ersparnisse aus jahrelanger harter Arbeit könnten ihren kompletten Wert verlieren. Die westliche Warenwelt kommt an, tausend Varianten desselben Objekts, von unterschiedlichen Firmen. Unnötig, aber die antithetische Antwort auf Jahre der Sehnsucht und des Schlangestehens. Die Sehnsucht nach westlichen Konsumgütern ist so stark, dass DDR-Produkte als unterlegen und unattraktiv gelten. Die DDR-Wirtschaft droht in diesen Tagen zu kollabieren.
Der Übergang drückt sich auch in den Räumen des Konsums und des Geldes aus: In provisorischen Containern richten westdeutsche Banken neue Filialen ein. Die ersten Händler*innen bieten bunte Südfrüchte gegen Westgeld an, sie konkurrieren mit gebrauchten Autos, deren Lack in der Frühlingssonne glänzt und deren Kratzer von Abenteuern und Freiheit zu erzählen scheinen: Plötzlich tragen die Sehnsüchte Preisschilder.
Mario Röllig liest das Konsumverhalten in den ersten Monaten nach dem Mauerfall auch als politischen Ausdruck. Sie wollen das System des Westens. Sehnsucht und Schmerz wird, wie in Konsumgesellschaften - beispielsweise der Bundesrepublik seit den 50er-Jahren - üblich, durch den Kaufrausch betäubt.
Die Bevölkerung in Ost und West versuchte, ihre Vorteile aus der unklaren Situation zu ziehen, in der die staatliche Exekutive hilflos ist. Auf dem „Polenmarkt“ bauen polnische Verkäufer*innen wie seit Monaten ihre Stände auf, West-Berliner*innen nutzten den günstigen Schwarzmarktkurs für Einkäufe in Ostberlin. Weil die Leute in Tankstellen und Kaufhallen plötzlich vor leeren Regalen stehen, erscheint eine neue Verordnung: Bürger*innen der Bundesrepublik dürfen Waren nur noch gegen Westgeld kaufen, die Gewerbefreiheit wurde schon im Januar eingeführt und die Treuhand wird gegründet. Sie soll die staatliche Wirtschaft zu einer Marktwirtschaft umbauen, Betriebe zum Beispiel privatisieren oder stilllegen. Bis heute ist dieser Schritt umstritten, vielleicht sogar der Grund für viele soziale Unterschiede und Probleme, die bis heute wirken. Die Bundesregierung dagegen setzt auf eine Währungsunion, die den Abfluss des Geldes und die Übersiedlung der Menschen in den Westen stoppen soll. Transparente mit der Mahnung „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr“, die für die Montagsdemonstrationen gemalt wurden, erweisen sich jetzt als realistisch. Der Wunsch nach Konsum befeuert die politischen Entwicklungen – wir steuern auf einen vereinten Staat hin.
Gemeinsame Sache
Im Sog der Veränderungen offenbart sich, wie die Realität, die Gedanken und der Alltag der Menschen über das Spektrum der Parteien hinauswächst. Gruppen und Institution in Ost und West wollen sich austauschen. Die Parteien haben unterschiedliche Visionen für die Zukunft der beiden deutschen Staaten: Die PDS als Nachfolgepartei der SED hält an der Eigenständigkeit der DDR fest, fordert einen „Dritten Weg“ für die DDR. Neben ihnen gab es in der DDR Blockparteien, die zwar Parteipluralismus suggerierten, selbst aber keine Macht in den Parlamenten ausüben können. Sie finden schnell Parteien im Westen, mit denen sie als Partner zusammenarbeiten wollen. Die FDP unterstützt die beiden liberalen Parteien, die Ost-CDU arbeitet mit der West-CDU zusammen. Im Februar 1990 gründen Anhänger*innen der Bürgerbewegung das Bündnis 90. Sie sind hoffnungsvoll, glauben nach ihren großen Verdiensten im Widerstand gegen das SED-System an eine demokratische Entwicklung der DDR als eigenständigen Staat. Natürlich verzichten sie deshalb bewusst auf Partner aus dem Westen.
Die Ereignisse überschlagen sich seit mehreren Monaten: der Fall der Mauer, die Zwei-Plus-Vier-Gespräche, die schnelle Entwertung der DDR-Mark. Es fühlt sich an, als würde die Zeit plötzlich doppelt und dreifach so schnell vergehen, wie in den letzten Jahrzehnten, um den Stillstand und die Versäumnisse auf beiden Seiten der Mauer aufzuholen; sogar die Volkskammerwahlen werden auf den 18. März 1990 vorverlegt. Am Ende sind es die ersten und letzten Wahlen, die in der DDR gesichert nach demokratischen Prinzipien ablaufen: Die Wähler*innen hatten erstmals eine echte Auswahl; Einheitslisten gab es nicht mehr, die Kandidat*innen traten gegeneinander an. Die Wahlbeteiligung von 93,4 % wirkt fast utopisch – eher typisch für Staaten, in den Wahlen nur Fassade sind. Doch diesmal strömen die Menschen aus Überzeugung, oder zumindest mit dem Wunsch mitzugestalten, an die Urnen.
Zwei-Plus-Vier-Vertrag
Dass die Volkskammerwahlen vorverlegt werden, signalisiert den Siegermächten, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands möglicherweise bevorsteht. Außer den USA sind die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs skeptisch – sollte Deutschland wieder zu einem Machtblock mitten in Europa werden? Margaret Thatcher drückt es so aus: „Ein wiedervereinigtes Deutschland ist schlichtweg viel zu groß und zu mächtig.“ Bereits kurz nachdem die Mauer fällt, unterstreicht der französische Präsident Francois Mitterrand seine Zweifel, indem er die Wiedervereinigung als „rechtliche und politische Unmöglichkeit“ beschreibt. In diesen Tagen liegt also nicht nur Aufbruchsstimmung, sondern auch das Bewusstsein einer Machtverschiebung über Berlin, denn die beiden deutschen Staaten sind Teil eines Systems des Kalten Kriegs. Die Sowjetunion kritisiert besonders die Idee, dass ein gesamtdeutscher Staat der Nato beitreten sollte. Am 10.02.1990 ändert sich dann alles: Gorbatschow gibt im Gespräch mit Helmut Kohl sein Okay für die Wiedervereinigung. Monate zuvor hatten Demonstrant*innen am 7.10.89 Gorbatschow als Hoffnungsträger verstanden, der vielleicht einen Kurswechsel auch in der DDR einläuten könnte. Sie rufen „Gorbi, Gorbi, Hilf uns!“, als Gorbatschow abreist, wird die Demo jedoch brutal niedergeschlagen. Doch jetzt, nur ein paar Monate später, ist der Weg frei und die Zwei-(für die zwei deutschen Staaten)Plus-Vier (für die vier Siegermächte des zweiten Weltkriegs)-Gespräche beginnen.
Der daraus entstehende Vertrag sichert Deutschland volle Solidarität zu, die Siegermächte verzichten auf ihre Sonderrechte an dem geeinten Land. Die beiden deutschen Staaten erkennen die 1945 gezogenen Grenzen an. Vor allem für die Bevölkerung in West-Berlin hieß es Aufatmen. Sie hatten beispielsweise durch die stationierten Mittelstreckenraketen in Ost und West die Handhabe der West- und Ostmächte ständig vor Augen. Anfang Juli werden die Personenkontrollen an der innerdeutschen Grenze auch formal eingestellt. Viele Menschen verbanden die Grenze 45 Jahre lang mit Verheißung, Verboten, Leid. Nun steht sie stellvertretend für den fortwährenden Öffnungsprozess der DDR. Das Ereignis geht Hand in Hand mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Danach geht es schnell: die DDR übernimmt große Teile der westdeutschen Wirtschafts- und Rechtsordnung sowie das Sozialversicherungssystem, die D-Mark ist alleiniges Zahlungsmittel, Ende September tritt die DDR aus dem Warschauer Pakt, dem Militärbündnisses der Sowjetunion, aus und der Einigungsvertrag folgt. Die neuen Bundesländer treten Grundgesetz bei, etwa zwei Wochen bevor die Politiker*innen den Zwei-Plus-Vier-Vertrag unterzeichnen.
Kurz vor der offiziellen Wiedervereinigung, kommt am 2. Oktober 1990 die Volkskammer ein letztes Mal zusammen. Sie hat in nur 181 Amtstagen aktiv an der Einheit mitgearbeitet, sie wird gewürdigt, größtenteils von einem positiven Blick in die Zukunft geprägt. Erleichterung breitet sich aus, auch wenn die Arbeit noch nicht getan ist. Am dritten Oktober ist Deutschland wiedervereinigt. Das Land hat nun vor allem mit wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Herausforderungen zu kämpfen, deren Bewältigung sich vor allem viele Bürger*innen aus Ostdeutschland anders vorgestellt haben. An diesem Abend Anfang Oktober stehen die Bedenken zunächst hintan. Die Wiedervereinigung als Erleichterungsmoment ist auch Ausgangspunkt für neue ökonomische Machtdynamiken innerhalb Deutschlands, in denen Biografien wie Mario Rölligs umgedeutet und aufgearbeitet werden und die Gesellschaft neue gemeinsame Werte suchen muss. Als Röllig über seine Arbeit als Zeitzeuge spricht, fügt er nach einer Pause hinzu: „ Mittlerweile bin ich viel unterwegs: mit Vorträgen in Universitäten, in Schulen, aber auch in verschiedenen Stiftungen. Das ist sozusagen meine Rache für das Unrecht, das mir damals passiert ist: Mein gutes Leben heute gegen diese schrecklichen Erinnerungen.“ Nach einer Pause fügt er hinzu: „Nicht zu oft, sonst kommt man nie mit dem Kopf aus dem Gefängnis raus.“