Seenotrettung als Weltkulturerbe
Ein Schiff für Europa
Zwei Jahre müssen wir noch warten, doch dann soll die „Avenir“ („Zukunft“) ihre Werft verlassen und als erstes Schiff einer europäischen Rettungsflotte ihren Dienst aufnehmen – mit einer großen Ladung Kunst und Kultur an Bord.
Von Roman Maruhn
Kann ein Projekt, das eigentlich unmöglich ist, politisch umstritten, mittlerweile eher geduldet als begrüßt wird, mit einem hehren Ziel und als Teil des Weltkulturerbes wirklich gelingen? Diese Frage stellen sich auch die Mitglieder des Kollektivs „PEROU“, haben aber einen ehrgeizigen Zeitplan: 2024 soll die „Avenir“ ihre Werft in Marseille verlassen – und Menschen aus Seenot im Mittelmeer retten, „illegale Einwanderer“, Migranten in erster Linie aus Afrika, unserem nahen Nachbarkontinent.
Das Thema der Flucht und Migration über das Mittelmeer – und auch die Todesopfer – haben Politikwissenschaftler Sébastien Thiéry vom Kollektiv PEROU nach Palermo zu einer Residenz des Kultur Ensemble Palermo gebracht, nominiert von Chiara Parisi, Leiterin des Centre Pompidou-Metz. Im Vordergrund steht dabei aber auch der Begriff und das Wesen der Gastfreundschaft: „Wie wirkt sich das ‚Willkommen heißen’ auf unsere Städte und unser Zusammenleben aus?“ In Palermo könne man das besonders gut beobachten, besser als in anderen europäischen Städten, so Thiéry. Langfristiges Ziel dabei: Gastfreundschaft zum Teil des immateriellen Weltkulturerbes zu machen.
Gesten und Europa
Sébastien Thiéry des Kollektivs PEROU in Palermo | © Kultur Ensemble Palermo Seenotrettung – aus welchem Grund auch immer Menschen in Seenot geraten – ist nicht nur eine christliche, säkular gesehen gute Handlung, sondern eine moralische, rechtliche und natürliche Verpflichtung. Thiéry spricht von Gesten: sie seien ein Schlüssel für die Menschlichkeit. Dabei sei auch das Projekt, ein Schiff zu bauen, ein Teil davon, Aufnahmebereitschaft und Gastfreundschaft zu Teilen des Weltkulturerbes der UNESCO zu machen. Das Schiff wird dabei auch ein „Behälter“ für Gesten, ein Instrument, auch um diese Gesten zukünftigen Generationen zu übermitteln.Dabei sei dies keine Neuheit: in der Geschichte sind Schiffe aus Europa in die ganze Welt hinausgefahren. „Avenir“ könnte über ihre „Bedeutungsfracht“ hinaus auch eine europäische Seeflagge führen: Experten, Juristen und EU-Beamte beschäftigten sich mit der Idee.
Geld und Palermo
In der Phase der Recherche und Forschung profitiert PEROU im Centre Pompidou-Metz von Residenzprogrammen, um Kontakte und ein Netzwerk aufzubauen, auch ohne ein eigentliches Budget. Der Bau des Schiffes koste 20 Millionen Euro und eine Kooperative solle Eigner des Schiffes werden, das durch Förderer, Crowdfunding und einen Businessplan finanziert werden soll. Der Partner „SOS Méditerranée“ könnte das Schiff mieten, da der innovative Entwurf Betriebskosten massiv reduziert.Marseille und Palermo – Ex-Bürgermeister Leoluca Orlando hat Palermos Flagge dem Projekt gewidmet – sind Vorreiter: So sollen europäische Städte und Gemeinden und damit ganz direkt ihre Bürger mit einem finanziellen Beitrag die eigentlichen Träger der „Avenir“ werden. Die Verleihung des Weltkulturerbes durch die UNESCO würde das Schiff auch vor nationalen Gängelungen und Blockaden schützen, da Rettungsschiffe keinen eigenen und bevorzugten Status haben. Die Frage nach der politischen Dimension beantwortet Thiéry damit, das Projekt komme aus der Kultur, aus den Museen. Aber das Schiff – aus der Kultur kommend – wird in die Welt gesetzt und nicht wie im klassischen Fall als ein Teil der Welt in ein Museum gestellt: „Das Schiff ist ein kollektives Kunststück.“
Kultur Ensemble hat der „Avenir“ mit Palermo ein zweites Standbein neben Marseille hinzugefügt: Palermo sei ein starker Partner; die Worte Aufnahme (accoglienza) und Gastfreundschaft (ospitalità) wären hier – laut Thiéry – weniger verpflichtend als emotional: „Was aus Palermo kommt, das ist die Freude an der Sache und das verrückte Chaos stellt Gastfreundschaft ins Zentrum: Palermo ist ein Labor der Gastfreundschaft, aber als Leidenschaft. Und ‚Avenir’ werden wir in zweieinhalb Jahren sehen, weil heute alle drei Stunden ein Mensch im Mittelmeer stirbt.“
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