Zero Waste | Interview mit Rossano Ercolini und Marie Delaperrière
Kein Müll ist auch eine Lösung
Deutschland ist mit 609 Kilo Müll pro Jahr pro Kopf der fünftgrößte Müllproduzent weltweit. Italien, auf Rang 11, liegt mit rund 499 Kilo knapp unterm europäischen Schnitt. Als erste in Europa haben sich viele italienische Gemeinden der Zero Waste Bewegung angeschlossen, allen voran Capannori. Jetzt hat sich auch Kiel das „0-Müll-Ziel“ – als erste deutsche Stadt. Wie schafft man kollektiv den Umstieg? Die Zero-Waste-Vorreiter Rossano Ercolini und Marie Delaperrière aus Capannori und Kiel tauschen sich aus.
Von Sabine Oberpriller
Die Gemeinden:
KIEL
Gerade hat die Hauptstadt von Schleswig-Holstein (249.000 Ew.) den deutschen Nachhaltigkeitspreis erhalten. Bis 2050 will die Klimaschutzstadt an der Ostsee CO2-neutral sein – und seit 2019 steht auch das Zero-Waste-Konzept und soll bald umgesetzt werden. Bis 2035 soll die Gesamtabfallmenge pro Kopf und Jahr um 15% und die Haus- und Geschäftsabfälle um 50% reduziert werden. 107 Maßnahmen sind vorgesehen, darunter eine kommunale Verpackungssteuer, Zero Waste Schulen, öffentliche Trinkwasserspender und eine Baumaterialbörse.Website Kiel | Zero Waste
CAPANNORI
Die Gemeinde bei Lucca in der Toskana (46.700 Ew.) gilt als Vorreiterin der Zero Waste-Bewegung in Italien und Europa. Seit 2007 reduziert sie stetig ihren Müll. Er wird direkt an der Haustür abgeholt, eine Pay-As-You-Throw-Steuer wurde eingeführt, es gibt Fortbildungen für alle Bürger. Das erste Zero Waste Research Centre Europas entstand. So ist die Müllmenge in 10 Jahren um 40% von knapp 2 Kilo pro Tag pro Person auf knapp 1,2 Kilo gesunken. Der Restmüll ging um 57% zurück. Der Anteil der Mülltrennung liegt über dem europäischen und italienischen Durchschnitt bei 82%. Die Müllsteuern sanken für die Bürger um 20%.Website Capannori | Zero Waste
Rossano Ercolini: Zunächst muss ich sagen: Wenn wir zusammenarbeiten, lehren und lernen wir gleichzeitig. Unsere Geschichte ist eine Geschichte des Empowerments, der Bewusstwerdung. Das braucht in dem Sinne eine gewisse Ausdauer, nie den eigenen gesunden Menschenverstand aufzugeben und sich auch von Leuten nicht einschüchtern zu lassen, die sich Experten nennen. Wir sollten uns nie allein fühlen – die Zero Waste Bewegung gibt es auf der ganzen Welt. Wir haben auch gelernt, dass es äußerst wichtig ist, nicht nur „nein“ zu sagen, sondern auch Alternativen aufzuzeigen.
Frau Delaperrière, wie haben Sie es geschafft, dass Kiel das „Null-Müll-Ziel“ verfolgt?
Marie Delaperrière: Es lag nahe, den Weg des Zero-Waste zu gehen. Kiel liegt an der Küste und die Kieler sind sensibel für das Thema Plastik im Meer. Wir sind auch Klimaschutzstadt und Partnerstadt von San Francisco, auch eine Zero-Waste-City. Wir hatten dank Capannori und anderen Städten, viele tolle Beispiele vor Augen. Bei der Stadt haben wir offene Türen eingerannt und waren beeindruckt, wie viele Bürger sich beteiligt haben: Von der ersten Vorstellung des Konzepts 2018 bis zur Auftaktveranstaltung, der Europäischen Woche der Abfallvermeidung, ist kein Jahr vergangen. Im Moment werden die ersten Maßnahmen vorbereitet. Kiel ist startklar!
Capannori war die erste Zero-Waste-Stadt in Europa. Wie ist Ihnen die Wende gelungen?
R.E.: In den 90ern wollte die Region Toskana in unserer Provinz zwei Müllverbrennungsanlagen bauen. Das wollten wir verhindern. Aber unser Problem war, dass wir keinen Rückhalt in der Bevölkerung hatten. Wir hatten eine riesige Versammlung mit 1000 Menschen gemacht. Aber wir hatten keine wissenschaftliche Unterstützung und auch die Umweltorganisationen wollten nicht helfen. Parallel hat sich weltweit die Zero Waste Bewegung entwickelt und bekamen Hilfe vom Büro des Ökologen Barry Commoner, dem es gelungen ist, in New York zwei Müllverbrennungsanlagen zu verhindern. Man empfahl uns den Professor und Aktivisten Paul Connett. Er kam zu uns und als er vor dieser riesigen Versammlung in unserer Provinz sprach, wurde uns klar, dass wir gewinnen würden.
Mittlerweile gibt es 315 Zero-Waste-Gemeinden in Italien, und die Bewegung expandiert in Europa…
R.E.: Wenn du gewinnst, beobachten alle, was du tust. Inzwischen repräsentieren die Zero-Waste-Gemeinden in Italien etwa 7 mio. Menschen und alle wollen über Müllvermeidung reden. Wir sind auch keine Pioniere mehr, sondern in der Lage, sofort individuelle Lösungen anzubieten, die direkt umsetzbar sind, wie aus einem Werkzeugkasten. Es ist sehr wichtig, dass nun Deutschland eingestiegen ist, denn es hat in Europa eine Zugkraft.
In Deutschland kursiert das Argument pro Müllverbrennung, dass man damit Energie gewinnt.
R.E.: Deutschland ist leider das europäische Zentrum der Müllverbrennung. Doch es ist eine schmutzige Industrie, denn sie braucht die Wegwerfprodukte, die Verschwendung. Wenn es nicht genug Abfall in Kiel gibt, dann wird er eben importiert. England zum Beispiel hat in den vergangenen Jahren 20 mio. Tonnen Abfall zu deutschen Müllverbrennungsanlagen exportiert. Ich will dich jetzt nicht erschrecken, Marie, aber ich weiß, dass auch Kiel eine Anlage hat. Die Kommune wird eine Exit Strategie überlegen müssen. Müllverbrennung können wir uns aus ethischer und ökologischer Sicht nicht erlauben. Auch Deponien machen schon mit Hinblick auf die Sicherheit keinen Sinn und vor allem dürfen dort Materialien nicht landen, ohne entgiftet zu sein.
M.D.: Ja. Die deutsche „Waste-to-Energy“-Politik fördert weder die Abfallreduzierung noch die Kreislaufwirtschaft. Müllverbrennung ist aber keine effiziente Energiequelle. Wir wollen andere Wege aufzeigen und so viel Müll vermeiden, dass die Anlagen überflüssig werden! Die dafür notwendigen Instrumente sind im Abfallwirtschaftsgesetz bereits vorhanden, das zum Beispiel eindeutig der Müllvermeidung, Wiederverwendung und dem Recycling eindeutig den Vorrang gegenüber der Verbrennung gibt. Die Abkehr von der Verbrennung wird jedoch Zeit brauchen. Kiel hat dieses Thema in seine Strategie aufgenommen. Das finde ich mutig!
Wir nennen es das Zero-Waste-Gesetz: mehr Bürgerbeteiligung bedeutet weniger Umweltverschmutzung. Weniger Beteiligung, mehr Verschmutzung.“
Rossano Ercolini
M.D.: Im Privaten geht es darum, vor allem die Vision zu verfolgen. Wir stoßen an Grenzen, weil die Gesellschaft und die Hersteller noch nicht so weit sind. „Null Müll“ werden wir erst schaffen, wenn alle ihre Einstellung zum Konsum und zum Müll ändern, und auch Politik und Wirtschaft Alternativen fördern. Bis dahin ist Zero Waste eine Vision, eine Hoffnung. Ich bin aber optimistisch, dass es machbar ist.
R.E.: Genau. Unsere beiden Hände produzieren Müll, wenn sie die organischen Abfälle mit dem Rest vermischen. Wenn sie die organischen Reste, die Polimere, das Metall, Glas und Papier, das Holz und Stoffgewebe auseinanderhalten, entstehen wertvolle Rohstoffe. Durch diese Mülltrennung schafft man es, dass nur noch 10-15% nicht recyclebarer oder kompostierbarer Müll übrigbleibt. In Capannori untersucht unser Zero Waste Forschungszentrum das, was sozusagen unverdaut im Magen der Abfallwirtschaft übrigbleibt. Wir haben 24 Produkte identifiziert, darunter Einwegfeuerzeuge, Windeln, Kassenzettel. In Capannori machen inzwischen 85 Familien bei der Initiative „Müllfreie Familie“ mit. Dafür, dass sie ihren Restmüll wiegen lassen, bekommen sie Vergünstigungen. Im Schnitt fallen in diesen Familien 3,9 Kilo Restmüll pro Kopf und Jahr an. Bei den übrigen Bewohnern sind es 80 Kilo, das ist im italienischen Vergleich ein guter Schnitt. Aber er zeigt, wie viel noch machbar ist.
Deutschland gilt in Europa als Vorreiter bei Recycling und Mülltrennung. Doch seit Anfang der 2000er hat Italien Deutschland beim Recycling überholt und produziert viel weniger Müll. Wie sehen Sie den Umgang mit Müll in Ihren Ländern?
M.D.: Leider gehört Deutschland zu den Müll-Weltmeistern! Aber nehmen die Deutschen nicht war, es ein gut organisiertes Abfallwirtschaftssystem gibt. Wir produzieren viel Müll, der schnell aus unserem Blickfeld verschwindet. Mülltrennung und das Versprechen von Recycling geben uns ein gutes Gewissen! Inzwischen ist bekannt, dass nur ein kleiner Anteil recycelt wird. Ein großer Anteil wird als „Wertstoff“ verschifft, und vermüllt oft die Zielländer.
R.E.: In Italien sind viele Bürgermeister sehr aufgeschlossen und nahbar. Die Regierungen der Regionen und die nationale Regierung zeigen dagegen wenig Sensibilität für das Thema. Im Laufe der Jahre haben wir das begriffen, was wir das Zero-Waste-Gesetz nennen: Mehr Bürgerbeteiligung bedeutet weniger Umweltverschmutzung, weniger Beteiligung, mehr Verschmutzung. Das heißt, Müllvermeidung steht in direkter Verbindung mit Demokratie. Inzwischen ist Italien das OECD-Mitglied, das am meisten recycelt.
Ich sehe das Dosenpfand kritisch. Von der Gewinnung bis zum Recycling ist der Lebenszyklus der Dosen nicht umweltschonend.“
Marie Delaperrière
M.D.: Da bin ich sicher! Wobei ich das auch in Verbindung mit der Beschleunigung unserer Gesellschaft sehe. Wir müssen uns dringend die Zeit nehmen zu überlegen, wo unser Konsum hinführt. Damit eine Wende stattfindet, muss die ganze Gesellschaft das Problem wahrnehmen und sich für Alternativen begeistern. Wenn ich aber das wachsende Interesse am Zero Waste-Lebensstil und an den ökologischen Bewegungen wie Fridays for Future betrachte, bin ich optimistisch.
R.E.: Die EU hat längst klargestellt, dass das Wirtschaftswachstum unbedingt vom Müllwachstum entkoppelt betrachtet werden muss. Dazu kommt: Europa ist arm an Rohstoffen, zum Beispiel seltenen Erden. Das heißt, wir müssen sie aus dem Elektroschrott ziehen, mehr noch aus Gründen des internationalen Wettbewerbs als für Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Das heißt, dass sich vielleicht erstmals in der Geschichte Wirtschaft und Umweltschutz verbinden, man denke an Cradle to Cradle…
Dieses Konzept der Kreislaufwirtschaft sieht die Verwendung von biologisch abbaubaren oder weiterverwendbaren Stoffen vor, auch in der Baubranche.
R.E.: Ein weiterer Aspekt: Capannori ist Zentrum der wichtigsten Papierindustrie Europas. Die Wirtschaft in unserer Gegend hat die Krise dank des Recyclings überwunden! Noch etwas: Lucca und Capannori haben 170 Arbeitsplätze im Abtransport, Recycling und in der Planung geschaffen, das heißt, Zero Waste stärkt die lokale Wirtschaft, die auch lokal investiert, und stößt so eine ökologische Revolution an, die keine Rückkehr in die Steinzeit bedeutet, aber in der das Haben und das Sein ausgeglichen sein müssen.
In Italien wurde das deutsche Dosenpfand in den vergangenen Jahren als Vorbild diskutiert, Deutschland musste feststellen: Studien zufolge hat das Pfand nicht Einwegplastik, sondern Mehrwegflaschen aus Glas verdrängt.
M.D.: Ich sehe das Einwegpfand für Aluminium-Dosen kritisch. Laut Kreislaufwirtschaftsgesetz steht Mehrweg über Recycling. Doch von der Gewinnung bis zum Recycling ist der Lebenszyklus der Dosen nicht sehr umweltschonend, sind auch nicht zu 100% recyclebar. Wir müssen bei der Auswahl von Materialien auch ihren Lebenszyklus berücksichtigen – und Mehrweg wieder besser fördern.
R.E.: Aluminium ist eine noch größere Umweltbelastung als Plastik! In Italien wurde das Mehrwegsystem Ende der 80er abgeschafft und es kann noch dauern, bis das wieder eingeführt wird. Einwegprodukte sind das eigentliche Problem. Wir müssen die Lebensdauer der Dinge erhöhen. Statt der Black Fridays, der Schrotttage wollen wir grüne Freitage, Momente, in denen die Menschen das, was sie kaufen, reflektieren können.
Viele berichten: Zero Waste ist anfangs anstrengend. Man muss viel hinterfragen, beim Einkaufen mehr Wege gehen.
M.D.: Wichtigste Regel: sich nicht verrückt machen, sondern es spielerisch sehen. Ich bin ein Fan von Wochenmärkten und habe angefangen, meinen Beutel und die Papiertüten mitzubringen. Man kann in den Kühlschrank sehen und überlegen, welche alternativen Verpackungen oder Produkte es gibt. Nächster Schritt: Wo findet man sie am besten? Es ist eine Reise und immer der Wunsch nach mehr Erfahrung, nach „mehr weniger“. Jede Alternative ist ein kleiner Sieg. Das ist ein Prozess, den ich jedem empfehle.
R.E.: Heute hat mir ein Mädchen einen Saft im Tetrapack gebracht, mit einem Strohhalm, der früher aus Plastik war – und jetzt aus Karton ist. Besser wäre es, aus der Mehrwegflasche zu trinken. Aber wenn wir in der Zwischenzeit kompostierbare, recycelbare Materialien als Alternative finden, gehört das zum Übergang. Es gibt Themen, für die wir fertige Lösungen haben, und andere, wo wir uns noch im Nebel bewegen. Wir müssen unsere Politik und Wirtschaft verändern – und dann auch unseren Lebensstil. Wenn wir Neues entdecken, neue Menschen und Lebensweisen kennen lernen, wird Energie freigesetzt. Das ist ein Aufwand, der dir Befriedigung bringt. Zero Waste ist eine positive Erzählung: Es ist machbar!
Marie Delaperrière
È come un gioco, un processo che stimola la curiosità per nuove esperienze.”
Rossano Ercolini
Il discorso vincente è l’esempio. È facile: se io lo faccio, lo puoi fare anche tu”.
Kommentare
Kommentieren