Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Holocaust-Gedenktag
Wie über Auschwitz sprechen

Shoah - Schuhe
© Colourbox

Anlässlich des Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Holocaust stellt Andrea Pomplun am 26. Januar um 19 Uhr am Goethe-Institut das Buch „Ancora oggi, parlare di Auschwitz? Riflessioni sul significato attuale della Shoah da una prospettiva interdisciplinare“ (Redet ihr heute noch über Ausschwitz? Betrachtungen zur aktuellen Bedeutung der Shoah aus einer interdisziplinären Perspektive, FrancoAngeli, 2022) vor. In diesem Band suchen italienische und deutsche Psycholog*innen, Philosoph*innen, Jurist*innen, Linguist*innen und Literat*innen aus unterschiedlichen Perspektiven aktuelle Antworten auf die Frage, wie und warum heute das Thema Auschwitz diskutiert werden muss. Wir haben darüber mit der Herausgeberin gesprochen.

Von Sarah Wollberg

Piero Terracina war 9 Jahre alt, als er 1938 von einem Tag auf den anderen durch die Rassengesetze nicht mehr zur Schule gehen durfte. Wie können wir heute mit Kindern und Jugendlichen über Ausschwitz reden?

Mit Kindern nur sehr, sehr vorsichtig. Jugendliche orientieren sich und verschaffen sich heute vor allem mit Bildern und kurzen Textinfos eine Vorstellung von der Welt. Das Thema möglichst anschaulich angehen, ohne viel Theorie und vor allem ohne Allgemeinplätze weder in Bild noch Wort. Fakten sind wichtig, z.B. klären, woher der Begriff „Rasse“ und sein Missbrauch kommen. Das geht auch ohne Ausschweifungen. Anschaulich, dann ganz konkret an einzelnen Personen festmachen, z.B. wie der neunjährige Piero Terracina von der Schule geschmissen wird. Ich denke auch, dass es sinnvoll ist, die Stimme der Überlebenden, die bereit waren/sind zu erzählen, zu hören. In der Stimme schwingt viel Information, die sich nicht in Worte übertragen lässt, viel mehr übrigens auch als in Fotos. Den Jugendlichen selbst Freiraum lassen, ihnen die Möglichkeit geben, dieses schwierige Thema auf ihre ganz eigene Weise zu „bearbeiten“, sei es mit Street Art, Graffiti, Theater, Texten, Comics, Malerei, Musik. Das alles muss aus ihnen herauskommen. Vermutlich ist das die beste Art zu lernen. Sie haben ja ihren ganz eigenen Codex und wenn sie ein Thema interessiert, wollen sie es auf ihre Weise darstellen.

Sie haben Piero Terracina kennengelernt. Es gibt immer weniger direkte Holocaust-Zeugen. Wie können wir ihre Erfahrung weitergeben?

Darüber sollten die jungen Generationen konstruktiv nachdenken und zwar interdisziplinär und aus allen Ländern Europas. Es sollte Think Tanks für Studierende geben, die von der EU finanziert werden. Wir sollten so etwas auch am Goethe-Institut anbieten. Es reichen keine Gedenktage, auch keine Mahnmale und auch keine Texte im Geschichtsbuch.

Wie ist Pietro Terracina Ihnen ganz persönlich im Gedächtnis geblieben?

Piero, ein Mann, der unendlich gelitten hat, der Unvorstellbares gesehen, erlebt hat.
Ein Mann, der vor diesem Hintergrund oder soll ich sagen, Abgrund, der für niemanden von uns auch nur ansatzweise nachvollziehbar ist, die Liebe zum Leben nicht verloren hat und eben diese an junge Menschen weitergeben konnte. In ihm brannte eine Energie, ein Feuer, ich kann das anders nicht fassen, das kann man nicht mit Worten beschreiben.

Was ist die wichtigste Botschaft, die er uns hinterlässt?

Lasst keine Gleichgültigkeit zu! Die Indifferenz ist das Schlimmste.

Was müssen wir aus der Erfahrung mit dem Holocaust und Ausschwitz für unseren heutigen Umgang mit Diversität lernen?

Auf allen Ebenen den differenzierten Blick wahren und schulen. Aktiv reagieren und eingreifen bei jeder Form von Diffamierung. Medien, allen Medien, äußerst kritisch und wachsam begegnen. Die feinen Zwischentöne nicht überhören. Wachsam umgehen mit jeder Tendenz von Schwarz-Weiß-Malereien. Verallgemeinerungen, Statistiken, etc., immer auch konkrete Befindlichkeiten vom einzelnen Individuum gegenüberstellen. In dem Bereich, in dem ich gut bin, wo meine Stärken liegen, konstruktiv etwas schaffen, was Diversität positiv sichtbar macht. Um es mit Pieros Worten zu sagen: Nicht gleichgültig sein!

Wie ist Ihnen die Idee zu diesem Buch gekommen?

Buchcover von „Ancora oggi, parlare di Auschwitz?” von Andrea Pomplun Buchcover von „Ancora oggi, parlare di Auschwitz?” von Andrea Pomplun | © FrancoAngeli, 2022 Ich habe viele Beiträge und Features für das deutsche Radio zum Thema „Shoah“ gemacht. Außerdem habe ich mit dem Fotografen Georg Pöhlein ein Buch über Piero Terracina mit dem Titel Warum Piero Terracina sein Schweigen brach (Bamberg 2013) auf Deutsch herausgegeben. Ich habe Reisen mit Terracina und Walter Veltroni nach Deutschland organisiert, wo Terracina u.a. an den Universitäten in Erlangen und Halle als Zeitzeuge auftrat. Bei den Interviews und überall, wo das Thema zur Sprache kam, hörte ich sowohl in Deutschland als auch in Italien die für mich verstörende Frage: „Warum sollen wir denn heute noch darüber reden? Das ist doch nun vorbei.“ Diejenigen die diese Frage stellten, waren durchaus keine Neofaschisten, sondern Leute, denen das Thema einfach unangenehm war, die keine Lust hatten, sich weiterhin mit dieser Vergangenheit zu beschäftigen. Daraufhin habe ich beschlossen, ein Buch zu machen und Antworten auf diese Frage zu suchen. Dass hier interdisziplinär darauf eingegangen werden sollte und auch von Gelehrten aus Italien und Deutschland, liegt auf der Hand bei der schwerwiegenden und komplexen Thematik.
 

Andrea Pomplun

Sie ist eine in Deutschland geborene Journalistin und lebt seit 20 Jahren in Rom. Derzeit unterrichtet sie am Goethe-Institut Rom und an der LUMSA, Libera Università Maria Santissima Assunta di Roma.

    Die Kommentarfunktion wurde geschlossen.
  • Kommentieren

Top