Migration
Die Stadt als Toleranz-Maschine
![Karachi Karachi](/resources/files/jpg518/Karachi4_737-formatkey-jpg-w320m.jpg)
Großstädte sind kulturelle Kontaktzonen und Transiträume, Orte der Ungewissheit und des Fremden. Die daraus entstehende Dynamik der Veränderung macht das Wesen von Urbanität aus und verleiht gerade Großstädten ihre Stabilität und Anziehungskraft. Das Goethe-Institut hat mit dem Lehrstuhl für Städtebau und Regionalplanung der Technischen Universität München und in Kooperation mit den Kammerspielen München in einer Fachkonferenz und in einer international besetzten öffentlichen Podiumsdiskussion das Thema Stadt und Migration beleuchtet. Ziel war es dabei, eine internationale Perspektive auf das Thema Flucht und Migration zu geben, um die Debatte um Beispiele aus dem Ausland zu bereichern und dadurch einen produktiven Beitrag zu einem aktuellen Thema zu leisten. In einem Interview fasst die Stadtplanerin und Lehrstuhlinhaberin Professor Sophie Wolfrum die Ergebnisse und Perspektiven zusammen.
Frau Wolfrum, Stadtgeschichte ist immer auch Migrationsgeschichte. Wie sind Städte entstanden, was macht eigentlich Stadt aus?
Städte sind historisch an den Orten entstanden, wo ein Überschuss aus der Agrargesellschaft existierte. Hier gab es also die Möglichkeit, auf andere Weise sein Leben zu bestreiten, ohne selbst Nahrung zu produzieren. Damit ist Stadt eine Kulturleistung. Städte entwickelten sich zudem an Orten, wo sich Handelswege kreuzten oder „der Herrscher“ Besucher empfangen hat. Also war die Stadt immer schon der Ort, an dem eine sesshafte Bevölkerung mit Fremden zusammentraf. Die Stadt als Ort, an dem Fremde zusammenleben können, ist eine klassische Definition der Stadtsoziologie.
Was bedeutet es heute für unsere Städte, dass das Fremde zum städtischen Leben gehört?
Die Definition, dass das Fremde Teil des städtischen Sozialgefüges ist, gilt zunächst als allgemeine Aussage. Es bedeutet einfach, dass man in der Stadt nicht jeden kennt, wie es im klassischen Idealtyp des Dorfes der Fall ist. In der Stadt schickt man seine Kinder in die Schule und vertraut darauf, dass sie dort eine gute Erziehung bekommen, kennt aber die Lehrerin nicht. Man setzt sich einen Bus und vertraut darauf, dass der unbekannte Busfahrer ordentlich fährt. Das Vertrauen in den Fremden, dass er Teil der Gesellschaft ist und verlässlich handelt, ohne dass man eine persönliche Beziehung hat, das ist eine Grundebene des städtischen Lebens.
Vertrauen ist ein Aspekt. Das Zusammenleben von vielen Menschen in einer Stadt bedingt aber auch, dass Dichte und Enge toleriert werden, so wie man etwa Gedränge in der U-Bahn erträgt. Der Vorteil ist, dass viele Menschen zusammen oder auch nebeneinander leben können. Ich empfinde es als Herausforderung, diese städtische Toleranz zu leben, die eben auch auf Gleichgültigkeit basiert, und gleichzeitig eine solidarische Gesellschaft zu schaffen, die auf Vertrauen basiert.
Diese städtischen Umgangsformen ermöglichen, dass auch Fremde aus anderen Kulturkreisen in so eine Stadtgesellschaft eintreten können. Der Andere kann eine andere Religion haben, andere Kleider tragen, kann andere Sitten haben, das ist dem Stadtbewohner erst einmal egal. Das hat den Vorteil, dass nicht jedes Anderssein gleich zum Konflikt gerät, führt aber auch zu Desinteresse und einer gewissen sozialen Kälte. Eine solidarische Gesellschaft erfordert wieder, dass man sich doch kümmert. Das macht den Widerspruch aus, in dem wir uns heute bewegen. Die Herkunft aus unterschiedlichen Kulturkreisen erschwert unter Umständen, dass man sich für den Anderen zuständig fühlt.
Es gibt in jeder Stadt unterschiedliche Kulturen, Migranten aufzunehmen, zu beherbergen, einzugewöhnen, abzustoßen, zu integrieren oder einzuschließen. Die Konferenz hat diese verschiedenen Perspektiven mit Experten aus Karachi, Paris, São Paolo, Shenzen und München untersucht. In Shenzen, einer Stadt, die vor 25 Jahren noch 100.000 Einwohner hatte, leben heute 18 Millionen, unter anderem war dies ein planerischer Akt der Zentralregierung Chinas. Die Stadt ist aufgrund von Migration der Landbevölkerung gewachsen. Dies ist oft mit extremer sozialer Härte verbunden.
Hier in München ist die Politik der sozialen Integration sehr erfolgreich. München besitzt den höchsten Migrantenanteil unter den deutschen Metropolen, jeder dritte Münchner hat ausländische Wurzeln. Seit über 20 Jahren steuert das Programm der sozialgerechten Bodennutzung die Wohnungsbaupolitik Münchens und damit gleichzeitig die Integrationsfähigkeit der Stadt. Mit dem Modell der „Münchner Mischung“ sichert sie einen Anteil von 30 Prozent gefördertem sozialen Wohnungsbau in jedem Stadtteil und verhindert so das Entstehen von Gettos und sozialen Brennpunkten. Das zeigt deutlich, dass die politische Programmatik entscheidend ist, dann erst kommt die Architektur.
Wenn eine Stadt vielfältige Schnittstellen dieser Art bietet, wird durch ein gemeinsames Erleben eine Ablehnung oder gar Angst vor einer anderen Kultur abgebaut. So kann eine tolerante und solidarische Stadtgesellschaft entstehen und das Fremde wird zur Bereicherung der Stadt.
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