Rosinenpicker Lieblingsbücher aus unserer Redaktion
Am 9. August wird jährlich der Tag der Buchliebhaber*innen gefeiert. Er soll dazu ermutigen, den eigenen Lieblingsleseplatz aufzusuchen, ein gutes Buch zu finden und sich den Tag mit Lesen zu vertreiben. Zur Inspiration für neuen Lesestoff stellen wir persönliche Lieblingsbücher aus unserer Redaktion vor.
Der niederländische Autor Bert Wagendorp hat jahrelang für die radsportbegeisterten Tageszeitungsleser*innen seines Heimatlandes von großen Radrennen wie der Tour de France berichtet. Das merkt man seinen Romanen deutlich an. Ventoux ist nicht nur nach dem mythischen Berg in der Provence benannt, den Radsportfans als „kahlen Riesen“ kennen, bewundern und fürchten. Auch die Handlung springt immer wieder zu steilen Anstiegen und rasanten Abfahrten auf zwei Rädern. Erzählt wird außerdem von Freundschaft, Jugend und dem Älterwerden. Von Erwartungen ans Leben und den Realitäten, die diese einholen. Und eben immer wieder von der Faszination des Radsports, der vier alte Freunde, die sonst nicht mehr viel verbindet, nach dreißig Jahren unverhofft neu zusammenbringt. Ein herrliches Buch für heiße Sommertage, besonders zu empfehlen als Trostlektüre in der schlimmsten Zeit des Jahres: direkt nach dem Ende der Tour de France, wenn man wieder ein ganzes Jahr warten muss bis zum Start der nächsten Ausgabe des größten Radrennens der Welt.
Von Italien nach Irland
Wenn es einen Tanz gibt, in dem die sinnliche Liebe zum Leben und die Melancholie ihren Ausdruck finden, dann beherrscht Leo Gazzarra diesen leichtfüßig. Der Protagonist von Der letzte Sommer in der Stadt ist 30 Jahre alt und schlägt sich in stilvoller Ziellosigkeit durchs Leben und das Rom der Siebziger Jahre. Leo zieht vorübergehend in die Wohnung eines befreundeten Künstlerpaars, kauft deren Alfa Romeo, arbeitet als Schreibkraft für den Corriere dello Sport und überantwortet sich in schicksalhafter Hingabe dem dolce vita der Ewigen Stadt. Er verkehrt in der Bohème, trifft Redakteure und Reporter, Galleristen und Künstler, Drehbuchautoren und Schriftsteller – und Arianna. Sie verlieben sich, streifen durch die warmen römischen Sommernächte, fahren ans Meer, geben sich dem Müßiggang hin und stoßen ihr Glück dennoch im Angesicht des anderen von sich. Der bereits 1973 erschiene Roman von Gianfranco Calligarich wurde nach knapp 50 Jahren ins Deutsche übertragen. Er ist eine Hommage an Rom, die an Federico Fellinis La dolce vita erinnert; ein Roman, der Lebenslust, Ennui und Sehnsucht im gleichermaßen flotten wie zarten Ton besingt.
Cyril Avery von John Boyne ist ein bewegender und ergreifender Roman, der Leser*innen auf eine emotionale Reise durch das Leben seines Protagonisten mitnimmt. Erzählt wird die Lebensgeschichte des irischen Adoptivkindes Cyril, das in den 1940er-Jahren geboren wurde und mit den Herausforderungen aufwächst, die seine unkonventionelle Familie und die konservative Gesellschaft mit sich bringen. Boynes Erzählstil ist fesselnd und einfühlsam, und er schafft es, tiefe Einblicke in die Gefühlswelt von Cyril zu geben, während dieser mit Identitätsfragen und dem Verlangen nach Akzeptanz kämpft. Die Handlung spannt sich über mehrere Jahrzehnte und zeigt meisterhaft die kulturellen Veränderungen und politischen Umbrüche in Irland. Leser*innen verfolgen Cyrils Leben und Beziehungen zu verschiedenen Menschen, von seiner exzentrischen Adoptivmutter bis hin zu seinen romantischen Liebesbeziehungen. Komplexe Themen wie Familie, Liebe, Identität und Selbstakzeptanz werden feinfühlig und zugleich dynamisch behandelt. John Boyne zeigt auch in seinem zehnten Roman sein erzählerisches Talent. Er schafft es, eine tief berührende Geschichte zu präsentieren, die lange nach dem Lesen im Gedächtnis bleibt.
Familiengeschichten voller Sehnsucht
Ein erhabenes Königreich ist die Geschichte von Gifty und ihrer Familie, die aus Ghana in die USA ausgewandert sind, wo jedes Familienmitglied mit unterschiedlichen Problemen zu kämpfen hat. Giftys Bruder, ein Leistungssportler, stirbt nach einer Verletzung früh an einer Überdosis Heroin. Die Mutter, die bereits lange an Depressionen leidet, stürzt die Trauer um ihren Sohn in ein tiefes Loch, in dem ihr nicht einmal ihr Glauben Halt gibt. Gifty dagegen studiert Neurowissenschaften, um Abhängigkeit und Depression zu erforschen und ihr Familienschicksal wissenschaftlich nachzuvollziehen. Der zweite Roman der ghanaisch-amerikanischen Autorin Yaa Gyasi ist eine kraftvolle und bewegende Familiengeschichte, die Themen wie Rassismus, den Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft sowie psychische Gesundheit miteinander vereint. Zentral sind die Fragen: Wie gehen wir mit Trauer und Trauma um? Und wie trösten wir die, die wir lieben?
„Ich glaube, dass mein Vater mich geliebt hat. Aber das Leben noch mehr.“ Wenn ein Elternteil in der Kindheit nicht besonders präsent war, spüren viele Menschen diese Abwesenheit noch im Erwachsenenalter. So geht es auch der Protagonistin Marlene im Roman Dad. Bei ihr ist es der Vater, der an allen wichtigen Tagen wie Geburt oder Taufe fehlt. Sein Leben ist von Drogen geprägt, er reist viel – nach Marokko, Indien und Thailand. Und von einer dieser Reisen bringt er etwas mit, das ihn viel zu früh das Leben kostet: die Krankheit Aids. Mit ihrem autobiografisch geprägten Debütroman hat Nora Gantenbrink ein Buch geschaffen über die Sehnsucht nach einem Vater und dem Wunsch zu verstehen, was ihn getrieben hat. Die Protagonistin bei dieser Reise zu begleiten ist mal anrührend, mal tieftraurig, dann wieder voller Humor – und absolut empfehlenswert!
Bücher für einsame Inseln
Circe, die Tochter des Sonnengottes Helios und einer Nymphe, wächst isoliert auf: Sie ist weder hübsch noch anreizend genug, um die Aufmerksamkeit der Götter zu erlangen. Circe wendet sich der Hexerei zu, einer verbotenen Tätigkeit und wird von Zeus auf die Insel Aiaia verbannt. Dort vertieft sie ihre Kenntnisse der Zauberei, zähmt wilde Tiere und baut sich ein Leben auf. Obwohl sie ihre Insel eigentlich nicht verlassen darf, trifft sie auf viele bekannte Gestalten der griechischen Sagen: Dädalus, Medea, Odysseus und auch den Botengott Hermes. Als einsame, unabhängige Frau, die sich niemandem unterstellen will, hat Circe viele Feinde. Um am Ende das zu beschützen, was sie am meisten liebt, muss sie sich entscheiden, ob sie zu den Göttern gehört, von denen sie geboren wurde, oder zu den Sterblichen, die sie zu lieben gelernt hat. Circe kennt wohl jeder, der sich ein bisschen mit griechischer Mythologie auskennt. Madeline Miller gibt dieser sonst eher einseitig dargestellten Frauenfigur mit dem Roman Ich bin Circe ihre eigene Stimme. Über tausende Jahre spinnt Miller Circes Geschichte voller Monster, Abenteuer, Magie und Drama. Das gibt ihrer Protagonistin genügend Zeit, zu reifen und sich zu entwickeln. Aus der leicht naiven Nymphe wird eine mächtige Hexe. Sie ist keine perfekte Göttin, sondern wirkt gar menschlich mit ihren Fehlern und Charakterschwächen. Beim Lesen fühlt man mit ihr, fühlt ihren Schmerz, ihre Einsamkeit, ihren Zorn – aber auch ihre tiefe Liebe für die Menschen. Ihre Lebensgeschichte, denn nicht weniger ist dieser Schmöker, zieht einen in seinen Bann – vielleicht durch Zauberei?
Wie kann man auf einer einsamen Insel inmitten rauer Natur allein überleben, wie bewältigt man kreativ mit einfachsten Mitteln Alltag und Abenteuer? Das Jugendbuch Insel der blauen Delphine beruht auf der wahren Geschichte der Verschollenen von San Nicolas, der letzten Überlebenden ihres Stammes. In Scott O’Dells Roman verliert die Protagonistin, ein junges Mädchen namens Karana, zunächst alles, und das geregelte Dorfleben auf der abgeschiedenen Delphininsel verwandelt sich in einen Alptraum: Ihr Volk wird zunächst von Fremden dezimiert, dann muss der gesamte Stamm von der Insel fliehen. Nur sie und ihr Bruder Ramo, der schließlich von Wildhunden getötet wird, bleiben zurück, da er etwas auf der Insel vergessen hatte. Spannend zu lesen ist Karanas Überlebenskampf in der Natur, wie sich ihr Verhältnis zu den Wildhunden im Laufe der Zeit verändert und wie sie trotz stets herausfordernder Bedingungen ein ästhetisches Bewusstsein entwickelt, indem sie lange an einem Rock aus schwarzen Kormoranfedern arbeitet. Wird sie wieder Anschluss an Menschen finden und ihre Heimatinsel verlassen?
Bert Wagendorp: Ventoux
München: btb, 2016. 320 S.
ISBN: 978-3-442-75475-5
Gianfranco Calligarich: Der letzte Sommer in der Stadt
Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2022. 208 S.
ISBN: 978-3-552-07275-6
John Boyne: Cyril Avery
München: Piper, 2023. 736 S.
ISBN: 978-3-492-23116-9
Yaa Gyasi: Ein erhabenes Königreich
Köln: Dumont, 2021. 304 S.
ISBN: 978-3-8321-8132-1
Nora Gantenbrink: Dad
Berlin: Rohwolt, 2021. 240 S.
ISBN: 978-3-499-29101-2
Madeline Miller: Ich bin Circe
München: Eisele Verlag, 2020. 528 S.
ISBN: 978-3-96161-095-2
Scott O'Dell: Insel der blauen Delfine
München: dtv, 1977. 192 S.
ISBN: 978-3-423-07257-1