Rosinenpicker | Literatur
Und ewig rollt der Ball

Gerade ist die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland gestartet. Passgenau präsentieren wir eine kleine, runde Auswahl an Fußballbüchern – inklusive gemalten Toren und literarischen Texten.

Von Holger Moos

Kann man Tore zeichnen? Ist Fußball doch Kunst? Dies und anderes fragt Javier Cáceres, Sportredakteur bei der Süddeutschen Zeitung, in seinem neuen Buch Tore wie gemalt. Entsprungen ist das Werk einem Zufall: Cáceres traf 2005 in Chile den Fußball-Nationalhelden Leonel Sánchez (1936-2022) – und dieser schilderte ihm ein Tor. Da der Reporter nicht verstand, wie es denn gefallen war, drückte er Sánchez kurzerhand sein Notizbuch in die Hand und bat ihn darum, zu zeichnen, wie das Tor zustande kam. Cáceres gefiel das Ergebnis. Er verfolgte die Idee weiter, sodass sein Notizbuch sich mit mehr und mehr Zeichnungen füllte, die die Reporterfloskel „ein Tor wie gemalt“ im wörtlichen Sinne umsetzen. Von Franz Beckenbauer, Günter Netzer, Gary Lineker bis Pelé, von Mario Götze, Xabi Alonso bis Kai Havertz: Mehr als 100 Stars kritzelten ihre wichtigsten Treffer auf ein Blatt Papier. In einem vorangestellten kurzen Text erläutern sie in dem Buch, weshalb sie sich jeweils für das eine Tor entschieden haben: „Jede Zeichnung eine Gelegenheit, sich zu erinnern, zu diskutieren oder sogar das eine oder andere Tor nachzuspielen.“

Man sieht den Zeichnungen zwar an, warum es besser war, dass die Ausführenden keine künstlerischen Ziele verfolgt haben und hoffentlich auch nicht allzu oft an die Taktiktafel gerufen wurden, doch die Anekdoten zu den Toren sind lesenswert und bieten Überraschendes. So musste der Chilene Elías Figueroa als Folge eines Treffers, der als „erleuchtetes Tor“ in die Geschichte einging, nicht nur Kranken die Hand auflegen, sondern auch „viele schwangere Bäuche streicheln“. Und der liberianische Stürmer George Weah erklärt, warum „das längste Tor der Geschichte … ein afrikanisches Tor“ war. Die Ausführungen zu den Toren variieren. Bei Oliver Bierhoff ist vielleicht das eine oder andere Kommunikationstraining verantwortlich dafür, dass sein Text der mit Abstand längste ist. Auf das Wesentliche konzentriert hat sich dagegen der ehemalige HSV-Profi Jimmy Hartwig:

Vergangener Ruhm

Ein Blick zurück wirft der renommierte Sportjournalist und Buchautor Ronald Reng. Seine Bücher wie etwa Robert Enke. Ein allzu kurzes Leben (2010), Spieltage. Die andere Geschichte der Bundesliga (2013) oder Mroskos Talente (2016) erhielten zahlreiche Auszeichnungen. Mit seinem neuen Fußballbuch 1974 – Eine deutsche Begegnung gelang ihm anhand des legendären WM-Vorrundenspiels zwischen der Bundesrepublik und der DDR, in dem die DDR-Auswahl den späteren Weltmeister bekanntermaßen mit 1:0 besiegte, „ein lebendiges Sittengemälde des geteilten Deutschlands in den 1970er-Jahren“, so Hendrik Nolde in seinem Beitrag in unserem aktuellen EM-Spezial.

Bis in das Jahr 1954, also nochmals zwanzig Jahre weiter zurück, blickt der Sportjournalist und Blogger Tobias Escher, der 2011 den Fußball-Taktikblog spielverlagerung.de mitgründete und mittlerweile hauptberuflich als freier Journalist arbeitet, u.a. für die Tageszeitung Die Welt und das Fußball-Magazin 11 Freunde. In seinem Buch Die Weltmeister von Bern hat er eine „Biografie einer Jahrhundertmannschaft“ geschrieben. Der deutsche WM-Sieg 1954 gilt bis heute als „Wunder von Bern“. Doch Escher geht es nicht nur um die Ereignisse rund um die damalige Weltmeisterschaft, sondern er erzählt auch, wie es danach weiterging. Dabei zeichnet er die oft ganz und gar nicht glamourösen Lebenswege verschiedener Spieler und des Trainers Sepp Herberger nach. „Dass Tobias Eschers Buch nicht eines von vielen wird, ist seiner genauen, empathischen Darstellung der Fußballer und ihres Lebens, aber auch seines stets kritischen Geistes zu verdanken. Ein mehr als lesenswertes Buch – nicht nur für Fußballfans“, so die Bewertung auf Sachbuch-Couch.de.

Blick hinter die Kulissen

Die Sonderhefte zur EM der Fußballzeitschriften Kicker und 11 Freunde geben gute Über- und Einblicke in das aktuelle Turnier und die einzelnen Nationalmannschaften. Einen umfassenden Blick auf den ökonomischen Aspekt des Geschehens rund um das Spielgerät wirft Dieter Hintermeier in Wirtschaftsmacht Fußball. Darin behandelt er neben den Spielern, Trainern, Managern und Fans so unterschiedliche Themenfelder wie Fußball und Politik, die Geschichte der Bundesliga, die globalen Investoren, Frauenfußball, die Rolle der Medien und die von Künstlicher Intelligenz.

Auch für die ganz Kleinen sind neue Fußballbücher erschienen. Bestens vorlesen können Eltern das vom Schriftsteller Moritz Rinke herausgegebene Buch Tor! Die 13 illustrierten Geschichten stammen von dem Kapitän der deutschen Nationalmannschaft İlkay Gündoğan, der Profifußballerin Lina Maguli, der Autorennationalmannschaft u.a. und sind ganz unterschiedlich. Es gibt Schilderungen prägender Erlebnisse wie das von Lina Maguli, die mit der Jugendmannschaft ihres Stadtteilvereins – sie als einziges Mädchen auf dem Platz – die D-Jugend der übermächtigen Borussia aus Dortmund besiegte, indem sie einen Hattrick erzielte. Moritz Rinke steuert eine fantastische Geschichte mit Feenstaub in der Schulbibliothek bei. Darin schaffen es zwei Kinder sogar, das berühmte Wembley-Tor des WM-Finales von 1966 ungeschehen zu machen – auch wenn das nichts nutzte. England gewann dennoch gegen Deutschland, allerdings nur noch 3:2.

Cantona und der bekiffte Postbote

Der Schriftsteller Albert Ostermaier hat mit Rote Asche seine Fußball-Texte aus den letzten 10 Jahren herausgebracht. Es handelt sich um Gedichte, zum Großteil entstanden entlang der letzten Welt- und Europameisterschaften, und drei Theatertexte, die dem ungarischen Fußballspieler und -trainer Jenő Konrád (1894-1978), dem italienischen Filmregisseur und Dichter Pier Paolo Pasolini (1922-1975) und dem für seinen extravaganten Lebensstil bekannten nordirischen Stürmers George Best (1946-2005) gewidmet sind. Am Ende des Buches findet sich eine Ode an den französischen Stürmer Eric Cantona, der in seiner aktiven Zeit als Enfant terrible und untrainierbar galt und sich später als Schauspieler versuchte. Unvergessen sein Auftritt in Ken Loachs Tragikomödie Looking for Eric (2009), als er der bekifften Hauptfigur, einem depressiven Postboten, als geisterhafter Lebensratgeber erscheint. Ostermaier präsentiert Cantona als ein Sinnbild für das Widerständige und Unbeugsame:

„der platz der ihm die
welt bedeutete ist jetzt
unter seinen füssen
wenn er auf der bühne
steht und in das auge
sagt er sei kein mensch
ich bin cantona und wo
ich bin ist die welt aus
den fugen denn nie
werde ich mich fügen
aber immer was und
wen ich liebe lieben“

Wer vom Thema Fußball nicht genug kriegen kann, sollte unbedingt Thomas Brussigs Schiedsrichter- und Trainer-Monologe in Mats Hummels auf Parship sowie Frank Goosens charmanten und vergnüglich zu lesenden Fußballroman Spiel ab! lesen, mehr zu beiden Büchern erfährt man hier.