WE DON’T GIVE A SHIT!
ES SAGT MIR NICHTS, DAS SOGENANNTE DRAUSSEN — SEBASTIAN NÜBLINGS FURIOSE SIBYLLE-BERG-URAUFFÜHRUNG AM BERLINER GORKI THEATER
Material von Christian Rakow für das unabhängige und überregionale Theaterfeuilleton www.nachtkritik.de
Berlin, 23. November 2013. Warum ist das so, dass einem im Zuschauerraum der Schweiß auf die Stirn tritt, die Muskeln vibrieren, der Puls rast, als habe man gerade selbst fünfundsiebzig Minuten Hochleistungssport getrieben, mindestens auf Pokalfight-Niveau?
Weil diese vier furiosen Chorsprecherinnen dort oben auf den Brettern unablässig Tempo machen, antreiben, Haken schlagen und dabei nicht nur sich selbst in einen Rausch spielen, sondern auch das Parkett, über dem das Saallicht angelassen worden ist. Weil Regisseur Sebastian Nübling, der so etwas wie der Jogi Löw unter den Regisseuren ist — feinsinnig, elegant, voll Virtuosität und Rhythmus —, die vier wie einen wunderbaren Klangkörper dirigiert. Unter Verzicht auf Requisiten und Bühnenbild. Und weil die begnadete Zeitgeisterseherin Sibylle Berg in Topform dem Team einen irren Wuchttext zugespielt hat: „Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen.“
SOUVERÄNITÄT DER FRÜHREIFEN JAHRE
„Ein Text von Frau Berg für eine Person und mehrere Stimmen. Oder anders“ steht im Untertitel. Es ist die Suada einer jungen Frau, aus den heimischen vier Wänden heraus,gegen die erodierenden weiblichen „Role Models“, gegen die politischen, erotischen, konsumökonomischen, digitalen, künstlerischen, was auch immer Glücksversprechen, gegen beinahe alles und beinahe jedes. Per Skype, SMS und Telefon schalten sich in enger Taktung ihre Freundinnen, ihre Halbschwester, ihre Mutter dazu, ohne dass sie an Präsenz gewinnen würden. Es gibt nur ein kurzes Ruckeln im Monolog der Protagonistin, dann rast der Diskursticker weiter. So ist das Leben 2.0: manisch, hyperreflektiert, virtuell.
An vielen Stellen meint man, eher die Autorin als eine fiktive Figur zu vernehmen, eher die sicher pointierende Web-Analytikerin und SPON-Kolumnistin Sibylle Berg als eine „Angry Young Woman“ von schätzungsweise Mitte Zwanzig. Wobei, wer wollte beides bemessen: den jugendgleichen Zorn der Dichterin und die Souveränität der frühreifen Jahre? Sebastian Nübling hat den Text jedenfalls um einige Gedankenschlaufen leichter (nicht dünner!) gemacht und ihn nahe an seine vier jungen Akteurinnen (alle zwischen Jahrgang 1983 und 1990) und ihr Publikum herangeholt (die Produktion wird nicht nur am Gorki Theater, sondern auch am Jungen Theater Basel laufen). In Schlabberklamotten, mit ollen Pünktchen-Kleidern unter überlangen Trainingsjacken und dicken Brillen auf den Nasen, entern Nora Abdel-Maksoud, Suna Gürler, Rahel Jankowski und Cynthia Micas die leere Bühne, sehen ein bisschen aus wie Putzfrauen auf Abwegen, aber strahlen aus: „We don’t give a shit“, kümmert uns nicht die Bohne. Lässig grooven sie los. Die Köpfe wippen, Rap-Rhythmen treiben sie innerlich an, scheint’s. Sibylle Berg hatte sich in einer Regieanweisung „Gerne viel Musik“ gewünscht. Kriegt sie. Alles A capella, vom leise angesummten „Clint Eastwood“ der Gorillaz bis zu hart eingetanztem Dubstep. Aber auch der Sprechtext schwingt, bebt, hämmert, ist durch und durch musikalisiert. Ohne Ruhe, ohne Unterlass, aber mit rasanten Ton- und Taktwechseln stampfen und tänzeln die vier durch die Philippika. Nüblings Choreographin Tabea Martin hat ganze Arbeit geleistet.
FUNKELNDE SKURILITÄT
„Merkst du, wie ich immer von ‚wir‘ und ‚unser‘ rede? Wie ich mich durch die Identifikation mit einer Gruppe davor drücke, Verantwortung für mich zu übernehmen?“ Nübling hat dieses multiple, medial überformte Ich in die Vielstimmigkeit der Bühnengruppe übersetzt. Und nirgends hat er sie — was so oft bei Chorarbeiten passiert — zu einem tönenden Sprachrohr uniformiert. Stattdessen umspielt sich das Quartett in Solopartien, Duetten und, ja, mitunter auch im gemeinsamen volltönenden Forte.Voll Skurrilität funkeln die Berg’schen Rachephantasien der Frau! Die Protagonistin, so hört man, hat mit zwei Gefährtinnen eine WG gegründet, „meine selbst zusammengestellte Familie“, und sagt locker an, was sie alles auf dem Kerbholz haben (oder vielleicht auch nur gern hätten). Check it out: Nächtliche Prügelattacken auf wehrlose, durchaus auch kleinere Männer, bis das Blut fließt, Drogenhandel im Internet, daneben Marketingstudium. Respect! Das ist der Beat der Gosse remixed mit theoriegesättigter Intellektualität. Und zu all dem muss man jetzt wirklich mal einen Blick auf das Foto werfen: auf die Akteurinnen, die trotz Fat-Suite unter den Kleidern doch eher geistig als boxringmäßig schlagkräftig wirken. Es ist in seiner zelebrierten Widersprüchlichkeit auch ein schreiend komischer Abend.
Seit Felicia Zellers „Kaspar Häuser Meer“ (in der Inszenierung von Marcus Lobbes, 2009 aus Freiburg nach Berlin übernommen) gab es am Maxim Gorki Theater kein vergleichbares Chorstück, keines, das derart packte. Und keines, das solche Sätze hatte: „Liebeskummer gibt mir das Gefühl, eine außerordentlich emotionale Person zu sein.“ Außerordentlich war es, fürwahr, und ganz ohne Kummer.