Wohngemeinde für Bergarbeiter*innen in Anschero-Sudschensk
Diplomprojekt: Wohngemeinde für Bergarbeiter*innen in Anschero-Sudschensk, Nikolaj Kusmin, 1928
Das Projekt des Kommunehauses und Nikolaj Kusmin als Person übten einen außerordentlichen Einfluss auf die Entwicklung des Modernismus in Sibirien aus – Kusmin bestimmte die Architektur in der Ära von Lenin bis Gorbatschow. Als Student der Fakultät für Architektur und Bauwesen des Sibirischen Technologischen Instituts war Nikolaj Kusmin Mitglied der Gruppe der sibirischen Konstruktivist*innen in der Vereinigung zeitgenössischer Architekten (OSA) sowie einer der Gründer des Kuibyschew-Instituts für Architektur und Bauwesen Nowosibirsk (SIBSTRIN) und der Nowosibirsker Architekturschule. Einen weltweiten Ruf genoss er als „Vulgarisator sozialer Transformationen“. Kusmins Biografie verbindet alle Generationen der sibirischen Architekt*innen-Modernist*innen und in den 1930-er bis 1980er-Jahren war er als Dozent am SIBSTRIN tätig.
Nikolaj Kusmin war ein Vertreter der ersten postrevolutionären Generation der Architekt*innen, welche die Arbeitsfakultät absolviert hatten und dann Architektur an einer Hochschule studierten. Unter dem Einfluss der Ideen der Konstruktivist*innen, den „neuen Menschen“ zu bilden, schafft Kusmin ein Kommunehaus für 5.140 Einwohner*innen. Bei den Planungen stützt er sich auf die Prinzipien der „Wissenschaftlichen Organisation der Lebensweise“ – eine Studie für Wohn- und Lebensverhältnisse der Bergarbeiter*innen von der Geburt bis zum Tod, um diese durch Architektur und gemeinschaftliche Lebenspraktiken optimieren zu können. Die Kommune ist ein autonomer Gebäudekomplex aus Stahlbeton, bestehend aus funktionalen Blöcken, die durch beheizte Übergänge miteinander verbunden sind. Die Bestandteile der Kommune sind Wohn-, Kultur-, Lehr-, Sport-, Sanitäts- und medizinische Blöcke sowie ein Versorgungssystem. Ein gerader Weg vom Ausgang aus dem „automatischen Umkleideraum“ des Kommunehauses führt zum Eingang ins Kohlenbergwerk. Die Wohnblöcke sind in vier Altersgruppen unterteilt: Kinder; Jugendliche, die von ihren Eltern getrennt wohnen; Erwachsene und ältere Leute. Ab einem bestimmten Alter werden die Bürger*innen in speziell für sie gestalteten Blöcken untergebracht. Die Räume in diesen Wohnblöcken sind nur für das Schlafen bestimmt. Kusmin plante Gruppenschlafzimmer für jeweils sechs oder acht Personen, in denen Männer und Frauen getrennt untergebracht wurden, sowie Doppelzimmer für Partner. Die Hausarbeit wollte er grundsätzlich ändern, indem sie ein bezahlter Beruf werden sollte. Darin sah Kusmin eine Befreiung der Frauen, die häufig unter häuslicher Gewalt zu leiden hatten. Es ist hervorzuheben, dass Anschero-Sudschensk am Ende der 1920er-Jahre eine schnell und chaotisch wachsende Stadt war. Die wegen des Bürgerkrieges arm gewordene Bevölkerung zog – auf der Suche nach Arbeit in den Bergwerken – in die Städte um und siedelt sich dort in Erdhütten an, wodurch sich das ungünstige soziale Klima noch weiter verschlechterte. Die Leute lebten unter unhygienischen Bedingungen, hinzu kamen massiver Alkoholmissbrauch, häusliche Gewalt und Tuberkulose bei Kindern. Die Wohnfläche pro Person betrug etwa drei Quadratmeter. Das im Projekt vorgeschlagene Lebensniveau unterscheidet sich damit grundlegend von den Wohn- und Lebensbedingungen der Arbeiter*innen jener Zeit.
Im Jahre 1928 wird das Projekt anerkannt. Nach der Einladung von Moissei Jakowlewitsch Ginsburg, dem Theoretiker und Führer der Konstruktivist*innen, hält Nikolaj Kusmin einen Vortrag im allsowjetischen Kongress, der dem Wohnungsbau gewidmet ist. Nach dem Vortrag wird eine Resolution verabschiedet: Kusmins Kommune wird zum Vorbild bestimmt. Das Projekt wird 1930 in der Zeitschrift Moderne Architektur, Ausgabe 3 veröffentlicht.
Nach dem Wechsel des politischen Regimes in den 1930er-Jahren und unter dem Druck während Stalins Kampagne für „die Erschließung des klassischen Erbes“ versuchen die Leiter der Vereinigung der zeitgenössischen Architekten (OSA) Moissei Ginsburg und Roman Chiger, sich zu retten, und stempeln Kusmin als einen architektonischen Extremisten ab. Kusmins Projekt wird von einem Triumph zu einem langwierigen Beispiel für außergewöhnliche soziale Vulgarisierung. Mit dieser tendenziösen, stalinistischen Bewertung gehen das Projekt und die Person von Kusmin in die Geschichte der sowjetischen und der Weltarchitektur ein. Dieses Urteil sollte auf der Basis der direkten Auseinandersetzung mit dem Projekt, den sozialen Wohn- und Lebensbedingungen in Anschero-Sudschensk zurzeit der Planungen sowie der bisherigen und nachfolgenden Wohnungspolitik überprüft werden.
Nikolaj Kusmin arbeitete außerdem am Projekt SIBSTRIN (1933) und an Plänen für weitere große Wohn- und Gesellschaftsgebäude in Nowosibirsk und Krasnojarsk. Er wurde Chefarchitekt von Nowosibirsk (1938), verteidigte als einer der ersten Absolvent*innen des Sibirischen Technologischen Instituts (STI) eine Dissertation in Architektur (1941), übernahm die Position des Dekans und Professors an der Architektonischen Fakultät. Kusmin setzte seine innovativen Ideen fort: Großplattenbau mithilfe von Luftschiffen, Verwendung von Torf beim Bauen sowie direkte Repliken des Kommunehaus-Projektes, die mit neuen Namen wie zum Beispiel „geschlossene Bauweise“ für einen Gebäudekomplex der Staatlichen Universität Kemerowo (1978 bis 1982 Jahre) umgesetzt werden. Dessen funktionelles Konzept und Design ähneln stark dem Projekt des Kommunehauses von Nikolaj Kusmin aus dem Jahr 1928.