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Achim Wagner
Von Leiden, Grenzen und Generationen

„Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bisschen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden." Aus: „Die Leiden des jungen Werthers“, Johann Wolfgang von Goethe, 1774

Zu Beginn eines Schuljahrs in den 1980ern bekommt meine Klasse einen neuen Deutschlehrer, Herrn Ka. Herr Ka, ein untersetzter Mittdreißiger, trägt meist einen dunkelbraunen, abgewetzten Cordanzug mit eingenähten ledernen Ärmelschonern an der Jacke. Er gehört zu einer Gruppe jüngerer Lehrkräfte an unsere Schule, die sich der westdeutschen 68er-Bewegung zurechnen lassen und ihre linke politische Haltung auch im Unterricht offen zeigen, mit uns Schülern immer wieder die aktuellen politischen Entwicklungen aus gesellschaftskritischer Sicht heraus diskutieren.

Herr Ka löst Herrn Dr. Em ab, einen Lehrer kurz vor der Pensionierung, der uns in den Jahren zuvor in Deutsch unterrichtet hatte. Herrn Dr. Em verdankt meine Klasse nicht nur die Grundkenntnisse in Gedichtanalyse, sondern auch ein detailliertes Wissen um den Russlandfeldzug der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Ems Abschweifungen in seine persönlichen Kriegserlebnisse erfolgten abrupt, übergangslos und regelmäßig. Er pflegte dabei seine blaue Krawatte zu lockern und den Kragenknopf seines weißen Hemdes zu öffnen. Es gab Mitschüler, die vor der Unterrichtsstunde auf die Minute wetteten, in der Em seine Krawatte lockern würde.

Die Schule, die ich zu dieser Zeit besuche, befindet sich in meiner Geburtsstadt, einer nordbayerischen Kleinstadt, etwa 15 Kilometer von der innerdeutschen Grenze entfernt, im sogenannten Zonenrandgebiet. Beliebtes Ausflugziel in dieser Gegend für westdeutsche Besucher aus grenzferneren Gegenden sind die Grenzanlagen der DDR. Westdeutsche Ehepaare in Sonntagskleidung, die von Feldwegen aus mit Ferngläsern Grenzsoldaten der DDR in Wachttürmen betrachten, ostdeutsche Grenzsoldaten, die von Wachttürmen aus mit Ferngläsern Grenztouristen aus dem Westen betrachten.

Das Schuljahr beginnt unser neuer Deutschlehrer mit der Lektüre des Romans „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf, einem 1934 geborenen Schriftsteller, dessen Eltern 1950 mit ihm von West- nach Ost-Berlin übergesiedelt waren. Im Westen erscheint Plenzdorfs Werk, das zu seinem bekanntesten werden sollte, 1976 in der legendären Edition Suhrkamp, die in den 1970er- und 1980er-Jahren das intellektuelle Leben in Westdeutschland wesentlich mitprägt.

Plenzdorfs „W.“ ist Edgar Wibeau, ein 17jähriger Lehrling, der von einer ostdeutschen Kleinstadt nach (Ost-)Berlin flieht, in einer Gartenlaube wohnt, eine Ausgabe von Goethes Briefroman „Werther “ in die Hände bekommt (auf einem Klo), aus der er zu zitieren beginnt („Werther-Pistole“). Wie Werther verliebt sich Wibeau unglücklich, gerät in eine Dreiecksbeziehung, und stirbt früh; allerdings nicht durch Suizid, wie das literarische Vorbild, sondern durch einen Stromschlag, der durch einen Unfall verursacht wird. Auch wenn der geschilderte Alltag im Osten Deutschlands, im anderen Deutschland, uns pubertierenden westdeutschen Schülern fremd ist, versteht zumindest ein Teil von uns den Wunsch, aus einer Kleinstadt zu fliehen, die als provinziell und beengend empfunden wird, unter deren Gegebenheit man leidet. Dieser Teil möchte auch gegen Konventionen verstoßen, und stellt sich vor, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, selbst wenn es nur kurz ist, keine Zukunft kennt. 

Keine Zukunft: No Future.

Ende der 1970er-Jahre lösen Aufrüstungsbeschlüsse der Nato zivilgesellschaftliche Proteste in den USA und Westeuropa aus. Die Proteste entwickeln sich in den folgenden Jahren zu Massendemonstrationen, an denen sich auch die Schriftsteller Heinrich Böll und Günter Grass beteiligen. Die Friedensbewegung entsteht, die Partei der „Grünen“ gründet sich. Die Angst vor einem Wettrüsten von Nato und Warschauer Pakt, vor einem Atomkrieg, führt auch in meiner Kleinstadt zu Kundgebungen – organisiert u.a. von der Gewerkschaft bei der Herr Ka und weiteren Lehrkräfte unserer und anderer Schulen Mitglieder sind –, an denen zahlreiche Schüler und Schülerinnen teilnehmen (das Krächzen meines Banknachbarn Karl wird mir in Erinnerung bleiben, wie er immer wieder mit seiner Stimmbruchstimme in den Slogan „Hopp, hopp, hopp, Atomraketen stopp“ einfällt). „No Future“-Buttons an Schultaschen, Jeansjacken, als Schriftzug an Wänden, auf Bänken. Als Label.
 
Im Deutschunterricht treffen wir nach Werther und Edgar Wibeau auf Holden Caulfield. Holden Caulfield ist die Hauptperson des 1951 erschienen Romans „Der Fänger im Roggen“ (The Catcher in the Rye) von J. D. Salinger, ein Buch auf das auch Plenzdorf in seinen „Neuen Leiden“ Bezug nimmt. Wieder eine Hauptperson in der Pubertät, wieder der Ausbruch aus dem Alltag, Gesellschaftskritik, Abenteuer, und mit Manhatten eine Kulisse, wie geschaffen als Projektionsfläche für die Fluchtgedanken von Schülern im Zonenrandgebiet.

Nach Ende der Pfingstferien beginnt der Unterricht ohne Franz. Franz gehört zum alternativen, politisch bewegten Teil unserer Klasse, ist lebhafter Teilnehmer an den von Ka angestoßenen Debatten, Einserschüler in Deutsch und Geschichte. Wir denken zunächst, dass seine Eltern vielleicht den Urlaub etwas verlängert haben, aber als Franz auch in den nächsten Tagen nicht erscheint, fragen wir bei seiner Freundin Bettina nach, einer Schülerin aus der Parallelklasse. Ohne zu zögern erklärt sie: „Der Franz ist abgehauen, der kommt nicht wieder. Und wenn ich es schaffe, bin ich auch bald weg.“

Zwei Wochen dauert die Flucht von Franz. In Irland wird er aufgegriffen, zurück nach Westdeutschland, in unsere Kleinstadt, zu seinen Eltern, und zunächst wieder in unsere Klasse gebracht. Von seinen Erlebnissen, den von uns vermuteten großen Abenteuern, erzählt er nichts. „Ich wollte weiter nach Amerika“, bleibt sein einziger Kommentar.

Wie er es überhaupt geschafft hatte, nach Irland zu kommen, phantasieren wir uns zusammen. Die Flucht hat Auswirkungen. Bis zu den Sommerferien bleibt Franz noch bei uns in der Klasse, danach veranlassen seine Eltern einen Schulwechsel.

Ka ist weiterhin unser Deutschlehrer, aber der Unterricht ändert sich. Die bislang konziliante Schulleitung übt Druck auf die Lehrkräfte der 68-Generation aus. Die konservativen Lehrer beginnen, ihre Werte offensiver zu vertreten. („Fleiß“, „Disziplin“, „Respekt“, „Pünktlichkeit“ sind zentrale Themen, die unsere Englischlehrerin Frau Schuh für ihre Aufsatzthemen wählt.)

Dass wir in der Schule überhaupt noch gesellschaftskritisch diskutieren können und dürfen, verdankt sich unserem Religionslehrer, Pfarrer Moor. Moor erlebte die Nazizeit als Kind und Jugendlicher, war bei der Hitlerjugend. Anders als Doktor Em gleitet er nicht unbewusst in das Schildern von persönlichen Ereignissen ab, die ihn geprägt haben, er nutzt sie bewusst als Mahnung, stellt über sie Bezüge zu gegenwärtigen Ereignissen her, die er aus christlicher Sicht wertet. Die letzte Viertelstunde seines Unterrichts ist dem „gemeinsamen Gespräch“ gewidmet, was die Fortsetzung des politischen Diskurses bedeutet.

Uns treffen und erschüttern die Erzählungen Moors aus der Zeit seines Heranwachsens, etwas, was mir und vermutlich den meisten meiner Mitschüler vorher noch nicht begegnet ist – bislang schien es, als habe niemand aus dieser Generation auch nur etwas Erwähnenswertes in unserer Kleinstadt während der Nazizeit erlebt –, etwa wenn Moor darüber berichtet, wie er und Gleichaltrige durch die Innenstadtstraßen liefen und sie Juden mit Steinen bewarfen ...
 
Nachbemerkung: Als ich angefragt wurde, einen Länderartikel zum Thema „Generationen“ zu schreiben, plante ich, einen eher konventionellen Aufsatz über „Generationenromane“, „Generationenliteratur“ und „Jugendliteratur“ zu verfassen. Beginnen wollte ich mit der Beschreibung einer Fotografie, die Thomas und Katia Mann vor dem ausgebombten Buddenbrookhaus in Lübeck zeigt, um in einem Rückblick auf den namensgebenden, epochalen Roman von Thomas Mann zu kommen, auf die Biografie der Mann-Familie, die Emigration, die persönlichen und generationsbezogenen Konflikte in der Familie.

Als Beispiel für ein neueres Generationenwerk sollte auf Ursula Krechels preisgekröntes Buch „Landgericht“ (2012) verwiesen werden, einen Roman, den ich im Rahmen der Reihe „Tendenzen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ am Goethe-Institut Ankara vorgestellt hatte.

Über den Begriff „Fräuleinwunder“ in Bezug auf die Literatur junger weiblicher Schriftstellerinnen zur Jahrtausendwende wollte ich ausführlicher schreiben, einen Begriff, der zunächst auf einen Kniff der Marketingindustrie zurückging, im Rückblick aber einen Moment in der jüngeren, deutschsprachigen Literaturgeschichte markiert, in dem die männliche Dominanz im Literaturbetrieb zu bröckeln begann.
Von Salingers „Fänger im Roggen“ hatte ich vor, zu Wolfgang Herrndorfs genialem Jugendroman „Tschick“ (2010) überzuleiten, in dem die Abenteuer zweier Jugendlicher beschrieben werden, die in einem geklauten Lada zu einer Tour durch den Osten Deutschlands aufbrechen.

Von Aras Örens „Deutschland, ein türkisches Märchen“ (1978) hätte sich der Bogen über Emine Sevgi Özdamars „Die Brücke vom Goldenen Horn“ (2005) schlagen lassen zu Deniz Utlus: „Gegen Morgen“ (2019) ...

Aber noch bevor ich einen ersten Satz zu diesem geplanten Aufsatz ausformulieren konnte, stieg mir der modrige Geruch meines alten Klassenzimmers in die Nase, hörte ich die Stimmen von Doktor Em, Herrn Ka, Frau Schuh und Pfarrer Moor, entfalteten sich die Erinnerungen an einen Teil meiner eigenen Jugend und deren Prägungen, die ich oben dargestellt habe.

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