Deutsche Bibliotheken
Vorbild fürs Ausland
Wie werden die Aktivitäten deutscher Bibliotheken im Ausland wahrgenommen? Und wie verändert sich der Ort Bibliothek? Fragen wie diese beantwortet der Leiter der Philologischen Bibliothek der Freien Universität Berlin Klaus Ulrich Werner im Gespräch.
Herr Werner, wie wird das deutsche Bibliothekswesen Ihrer Erfahrung nach im Ausland wahrgenommen?
Sehr positiv! Und das überrascht viele deutsche Kollegen meistens. Was mich zum Beispiel kürzlich in Indien erstaunt hat: Man ist dort verblüfft, dass wir in Deutschland im digitalen Zeitalter so viel in den Bau und die Ausstattung von Bibliotheken investieren. Auch hier begegnet man einer hohen Wertschätzung für Qualitätsstandards deutscher Produkte.
In China wiederum sieht man deutsche Bibliotheken als vorbildlich beim Thema Nachhaltigkeit im Bibliotheksbau – das hätte ich nicht gedacht.
Vielfalt und Dichte
Und innerhalb Europas?Klaus Ulrich Werner | © privat Geschätzt werden die Vielfalt und die gute Zugänglichkeit von Bibliotheken in Deutschland. So sind zum Beispiel auch Hochschulbibliotheken für jedermann nutzbar, nicht nur für Lehrende und Studierende. Wissenschaftler bewundern die „Dichte“ historischer Buchbestände: Aufgrund unserer Geschichte und unserer föderalen Struktur gibt es ja gleich mehrere bedeutende Staatsbibliotheken und eine Nationalbibliothek an zwei Standorten – für unsere europäischen Nachbarn ist das sehr ungewöhnlich.
Spielt das deutsche Bibliothekswesen denn auch bei internationalen Best-Practice-Vergleichen eine Rolle?
Wir selbst schauen ja häufig eher nach Skandinavien, Holland, Großbritannien oder in die USA und holen uns dort unterschiedliche Anregungen. Bibliothek als Bildungseinrichtung und ihre zentrale Rolle für die digitale Revolution – da wären wir Bibliothekare in Deutschland gerne in einer Spitzenposition! Umso wichtiger sind zum Beispiel die Bibliotheken der Goethe-Institute als Schaufenster und Referenz.
Treffpunkt Bibliothek
Sind Bibliotheken in Deutschland Orte der Begegnung?Die öffentlichen Bibliotheken sind es. Sie sind die wichtigsten nicht-kommerziellen Treffpunkte im weitesten Sinne, eine kaum zu überschätzende Funktion. Auch die wissenschaftlichen Bibliotheken erkennen das zunehmend, es entstehen Lounge-Bereiche, Kommunikations- und „Relax“-Zonen, Flächen werden für Lese-Sessels und Sofas freigeräumt.
Sie haben ja mit dem Projekt „The Brain“ bereits einen recht spektakulären Bibliotheksneubau betreut. Auf welches Bibliotheksbild sind Sie dabei – etwa bei Architekten und Bauherren – gestoßen?
Es irritiert mich immer wieder, wie einförmig und konservativ die Assoziationen von vielen Architekten bei dieser Bauaufgabe sind: Erinnerungen an Schulbibliotheken mischen sich da mit dem Vorbild berühmter historischer Lesesäle in Paris, London oder New York.
Auch unterschätzen Bauherren häufig die Komplexität von Bibliotheken heute: Wir fallen in die Kategorie „Hörsaal mit Bücherregalen plus Büros – das kann doch nicht so kompliziert sein!“ In der intensiven Zusammenarbeit mit uns Bibliothekaren und bei gemeinsamen Bibliotheksbesichtigungen kommen viele Projektpartner dann meist aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Konnten Sie Ihre Vorstellungen zur Stärkung der kommunikativen Funktionen und des sozialen Raums Bibliothek bei Ihnen in Berlin durchsetzen?
Leider nur sehr eingeschränkt, weil wir aus Kostengründen äußerst kompakt bauen mussten. Das heißt konkret: Auf den 6.300 Quadratmetern sollten eine Freihandbibliothek für über 700.000 Bände und fast 650 Arbeitsplätze untergebracht werden. Da blieb keine Fläche mehr für Kommunikation, einen Veranstaltungsbereich, ein Café und so weiter. Und weil wir eine achtjährige Planungs- und Bauzeit hatten, stammt das 2005 eröffnete „Brain“ ja konzeptionell aus dem letzten Jahrtausend!
„Flirt mit dem Raum“
Welche baulichen Merkmale sind Ihrer Meinung nach wichtig, um dem sich rasant entwickelnden Dienstleister Bibliothek gerecht zu werden?Die Bibliothek muss baulich ein angenehmer Aufenthaltsort bleiben können, auch wenn Regale verschwinden und die zunehmende Digitalisierung unserer Kultur andere technische Umgebungen erfordert. Immer weniger Menschen wollen eine „Pssst!“-Bibliothek, sondern unterschiedliche räumliche Situationen. Eine solche Flexibilität ist nötig. Räume und Flächen für die Bibliotheksverwaltung müssen veränderbar sein sowie transparenter und kundenorientierter werden können.
Wie bedeutend ist eigentlich die Architektur des Gebäudes, um aus der Bibliothek einen Ort der Begegnung zu machen?
Die Ästhetik des Gebäudes ist ganz entscheidend! Ob alt oder neu spielt dabei keine Rolle, die Qualität von Räumen – Licht, Materialien, Farben, Transparenz – vermittelt sich unmittelbar. Die Architektur muss den „Flirt mit dem Raum“ ermöglichen, wie es der Berliner Kollege Jonas Fansa in seinem Buch Bibliotheksflirt gefordert hat.
Und wie sieht Ihre Traumbibliothek aus? Oder: Gibt es sie vielleicht schon irgendwo?
Als öffentliche Bibliothek finde ich die Bremer Stadtbibliothek großartig: das Haus ist ein gelungener Mix aus Alt und Neu, Ausstattung und Service sind perfekt. Als wissenschaftliche Bibliothek ist die Berliner Staatsbibliothek von Hans Scharoun für mich architektonisch immer noch faszinierend, in der die im wahrsten Sinne traumhaften Szenen des Films Himmel über Berlin von Wim Wenders spielen. Den mit Abstand schönsten Veranstaltungsbereich einer Bibliothek habe ich weit weg, in der Harold Washington Library in Chicago gesehen!