About the Future in Times of Crises
One Vision, One World. – Aber wessen Welt?

Vândria Borari Foto: © Vândria Borari

Das Internet muss der ökologischen Nachhaltigkeit und unserer kollektiven Befreiung dienen. Es soll Machtstrukturen aufbrechen, die die Maßnahmen zum Klimaschutz verzögern, und selbst zu einer nachhaltigen und positiven Kraft für Klimagerechtigkeit werden. Um nachhaltige Veränderungen zu bewirken, müssen Internetexperten die der Klimakrise unterliegenden strukturellen Probleme und Ungleichheiten verstehen. Wir müssen über technische Lösungsansätze hinaus und in Richtung intersektionale Klimagerechtigkeit gehen. Wir bemühen uns um nachhaltige Ansätze, um die Grundursachen von Problemen und die Ungleichheiten anzugehen, die an den Schnittstellen von Geschlecht, Ethnie, Klasse, Fähigkeiten usw. auftreten.

Vândria Borari, indigene Anführerin, Anwältin und Menschenrechtsverteidigerin, sprach mit Camila Nobrega, Wissenschaftlerin und Journalistin, die sich mit den Themen Social-Environmental Justice und Lateinamerikanischer Feminismus beschäftigt, über ihre Vision für ein nachhaltiges und gerechtes Internet. Ihr Gespräch erstreckte sich über mehrere Wochen und Kontinente – manchmal auf indigenem Territorium in Brasilien, manchmal aber auch ganz ohne Internetverbindung, aber es kehrte immer zu der Möglichkeit zurück, Brücken zwischen Weltanschauungen auf eine Weise zu bauen, die Komplexität akzeptiert.

Als wir mit dem Gespräch für diesen Artikel begonnen haben, hatten wir beide das gleiche Bild vor Augen. Es war der 26. November 2019, Tag der offiziellen Eröffnung des 14. Internet Governance Forums in Berlin. „Mana, was hat es mit ‚One vision, One world‘ auf sich? Darüber sollten wir sprechen“, sagte Vândria („Mana, e aquele ‚uma visão, um mundo‘? A gente tem que falar disso“).

Und wir beide wussten, dass wir das wirklich tun sollten.

Wir hatten die Sicherheitskontrolle passiert, unsere Pässe vorgezeigt, Fotos für die Akkreditierung machen lassen und einen riesigen Raum voller Menschen betreten. Ohne Masken saßen wir auf Stühlen in vollgepackten Reihen. Das war die Welt vor der Pandemie. Wir waren vor Ort, um Angela Merkel sprechen zu hören, und fanden uns inmitten des Leitmotivs der Konferenz wider. Wir haben einander angeschaut. „One World, One Net, One Vision.“ Es schien nicht genügend Luft zum Atmen im Raum zu sein. Warum sonst sollten wir das Gefühl haben, zu ersticken?

Die Rede der Kanzlerin kann auf der Website der Bundesregierung nachgelesen werden. Sie ermutigt die Menschen darin, ihre „Ideen für die Zukunft des Internets“ beizusteuern und betont die Bedeutung der „Diskussion darüber, wie wir das Internet der Zukunft gestalten und nutzen wollen.“
„Gemeinsam heißt: Politik und Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft“, so Merkel. „Gemeinsam heißt auch: mit allen Ländern zusammen. […] ‚One World. One Net. One Vision.‘ Das diesjährige Leitmotiv bringt auf den Punkt, worum es geht: nämlich darum, ein gemeinsames Verständnis zu fördern, wie die Zukunft des Internets aussehen soll. Welche Werte, Prinzipien und Regeln wollen wir aus unserer analogen Welt in die digitale Welt übertragen? Mit welchen Verfahren funktioniert das?“

Wir konnten sehen, wie dieses Leitmotiv im Raum aufgenommen wurde. Die meisten Anwesenden trugen Business-Kleidung und schienen zufrieden zu sein. Der Großteil war weiß und stammte aus dem Globalen Norden. Es gab viel Applaus. Mit ihrer Stimmlage versuchte Angela Merkel zu besänftigen und ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen. Es war sehr diplomatisch. Nichtsdestotrotz war die Botschaft stark. In einer Welt, die von Ungleichheiten und unterschiedlichen Kommunikationsmitteln geprägt ist, in der das Internet aus dem Wunsch heraus geboren wurde, verschiedene Welten zu besuchen, zu teilen, mehr Menschen zu vereinen, schlug dieses Leitmotiv eine andere Richtung vor. Dreimal eins: World, Net, Vision. Eine Obsession mit Großbuchstaben für die universelle Vorstellung der Zukunft.

Wer sollte an dieser Diskussion teilnehmen, die Merkel vorschlug? Wer sollte sich für dieses „Wir“ verantworten? Wer wird an den Tisch gebeten, um Entscheidungen zu treffen?

Wir haben unsere eigenen Reden angeschaut, die wir in den Händen hielten, die Ideen, die wir am Vortag besprochen haben, während wir unsere gemeinsame Rede für das Nebenevent der Konferenz, Discotech, vorbereitet haben, das von der Association for Progressive Communication (APC) organisiert wurde.

Auf dem Papier in Vândrias Händen stand:

„Für uns Ureinwohner ist die Welt, in der wir leben, die Mutter Erde. Es gibt nicht die eine genaue Weltanschauung. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen davon! Wir kommunizieren mit dem Wald, dem Fluss und mit unseren heiligen Stätten. Unsere Schamanen kommunizieren mit dem Geist des Waldes. Für uns ist alles, was lebendig ist, heilig und muss respektiert werden. Selbst die Tiere, die uns als Nahrung dienen, sind heilig. Das ist unsere Weltanschauung und so kommunizieren wir. Das ist unsere Beziehung zu dieser Welt. […] Wir wollen nicht, dass Technologie unser Leben verändert – wir wollen, dass unsere Art zu leben respektiert wird.“

Wir haben nicht in diesen Konferenzraum gepasst. Was uns vereint, ist die Beseitigung der Idee einzigartiger Perspektiven und das Bauen von Brücken zwischen unterschiedlichen Weltanschauungen in dem vollen Bewusstsein der Komplexität dieses Ansatzes.

Camila würde ihre Rede an diesem Abend mit Drohnenaufnahmen des Floresta Nacional do Tapajós und dessen Umland beginnen, wo die Agrarwirtschaft zusammen mit anderen Megaprojekten wie Wasserkraftanlagen, Wasserstraßen und Bergbau rapide zunimmt.

„Dies ist ein Projekt zu den Themen Vertreibung von Menschen, Zerstörung von Lebensformen, Zukunftsmöglichkeiten und Vielfalt von Kommunikation. Man fliegt über den Wald und dahinter zeigt sich der Kontrast von Soja- und Maisplantagen. Es ist eine Monokultur – homogen, ein geometrisches Bild. Im Journalismus wird uns beigebracht, dass es eine primäre Art gibt, zu erzählen oder Probleme zu formulieren – indem man versteht, was Fakt ist und was Priorität in den Nachrichten hat. Dabei handelt es sich auch um eine Monokultur, die die meisten von uns nicht einbezieht. Unser Ziel ist es also, das Gegenteil zu erreichen: Netzwerke und pluralistische Narrative schaffen, die diese Muster aufbrechen.“

Unsere Dialoge handeln von Beschränkungen, unseren einzigartigen Räumen und unseren unterschiedlichen Rollen im Kampf gegen Monokulturen, die die Vielfalt bedrohen. Wir wollen wissen, wie wir einen Beitrag dazu leisten können, auch wenn wir einen ganz anderen Hintergrund haben.

Mehr als ein Jahr später zeigt uns die Pandemie, dass wir eine globale Krise durchmachen. In der Realität gibt es also noch größere Abgründe.

Vândria: Ich wollte Sie zu Europa aus der Perspektive einer „amazônida“, also einer im Amazonas lebenden Person, befragen. Das Leben dort ist ja eher isoliert. Wie hat sich die Kommunikation während der Pandemie verändert? Wie ist es aus Ihrer Sicht, als dort lebende Brasilianerin?

Camila: Mir gefällt die Frage, da sie das Territorium, das wir betreten, und Kommunikation vereint. Kommunikation wird in Deutschland hauptsächlich von hegemonialen Technologien und der Annahme bestimmt, dass es eine gemeinsame globale Krise gibt. Traditionelle Medien stellen die Pandemie beispielsweise dar, als würde jeder in städtischen Gebieten mit Internetzugang im Homeoffice arbeiten. Hier sind wir wieder bei dem einen Szenario – oder anders gesagt der Annahme –, dass alle dieselben Probleme teilen. Ausgangspunkt ist eine durchschnittliche Person aus der Mittelschicht. Das bedeutet: ein weißer heterosexueller Cis-Mann aus dem Globalen Norden. Ich war überrascht davon, wie wenige Informationen hier auf der Straße verfügbar sind. Es scheint, als würde die Regierung davon ausgehen, dass man sich selbst mithilfe traditioneller Medien oder des Internets informiert. Keine Lautsprecherdurchsagen, kaum Platz für alternative Kommunikationsmittel. In Immigranten-, LGBT- und Frauengruppen tauschen wir beispielsweise andere Realitäten, Ängste und Zweifel aus. Diese Gruppen führen uns die Vielschichtigkeit unseres Lebens vor Augen.

Dann denke ich an unser Gespräch darüber, dass man unmöglich über Kommunikation nachdenken kann, ohne zuvor die Grundlagen dieses Systems, also die sozialen und natürlichen Ressourcen, auf denen die Existenz des Systems aufbaut, verstanden zu haben. Welchen Einfluss hat dies auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und wer erschafft diese Narrative? Es ist wichtig, hierbei die analoge und digitale Kommunikation zu berücksichtigen.

Und wie ist es Ihnen während der Pandemie in den Regionen entlang des Rio Tapajós unter der Regierung von Bolsonaro ergangen? Welche Rolle spielen die Kommunikation und das Internet dabei?

Vândria: Wir, die Einheimischen der Regionen am unteren Rio Tapajós, verwenden das Internet, um Verstöße und Umweltdelikte in unseren Territorien zu veröffentlichen, aber auch, um über unsere Maßnahmen zu informieren, insbesondere die zur Verteidigung der Rechte indigener Frauen und unseres Urvolks. Wir leben im Nachteil, was die öffentliche Politik und die Rechte von uns indigenen Völkern betrifft. Diese Pandemie hat uns vor Augen geführt, dass es genauso viel soziale wie digitale Ungleichheit gibt. Sie ist ein wahrer Wendepunkt. Wir kommunizieren über das Internet, hauptsächlich über die Sozialen Medien. In unserer Region sind wir daher auf eine gute Internetverbindung angewiesen.

Im Vergleich mit anderen Regionen Brasiliens sind wir im Amazonas also deutlich im Nachteil. Viele der Einheimischen haben Probleme, an virtuellen Meetings teilzunehmen. Die, die in kleinen Dörfern wohnen, die mit dem Boot zwölf Stunden entfernt liegen und in denen es keine Internetanbindung gibt, haben es besonders schwer. Wir können oftmals nicht einmal an Debatten teilnehmen, selbst wenn diese unsere eigenen Territorien betreffen. „One Vision, One World“ existiert nicht. Für Menschen aus westlichen Ländern ist es einfach, so zu denken, weil sie keine andere Realität kennen.

Wenn ich an die Zukunft der Kommunikation denke, stelle ich fest, dass wir eine Form des Internets brauchen, das unsere Rechte, Traditionen, Abstammung und unser Volk nicht verletzt. Wir müssen ein Internet schaffen, das für den Erhalt unserer Geschichte und den Schutz unserer Territorien förderlich ist. Es ist jedoch nicht so, dass das Internet eine grundlegende Antwort auf all unsere Probleme ist. Vielmehr gewinnt es aufgrund der Verletzungen, die wir erfahren, an Bedeutung. Es ist schlussendlich eine wichtige Lösung, weil wir Verletzungen erfahren.

Wir wissen, dass in vielen geschützten Regionen des Amazonas keine Telekommunikationssignale vorhanden sind. Diese Regionen ziehen verschiedene Formen der Gewinnung und Förderung von Rohstoffen sowie der Abholzung und des Bergbaus an. Es sind genau diese Regionen, in denen Befürworter des Umweltschutzes ermordet werden. Die Idee ist, dass uns das Internet die Überwachungsmöglichkeiten geben könnte, um diese Gebiete zu schützen.

Dies ist aber nur ein kleiner Bestandteil der laufenden Gespräche, die weiter fortgeführt werden müssen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich bei Branch, einem Online-Magazin von und für Menschen, die von einem nachhaltigen und gerechten Internet für alle träumen.
 

 

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Ein Beitrag der Interview- und Essayreihe About the Future in Times of Crises von Goehte-Institut und Superrr Lab.