Sprachforschung
Wörternetz in unseren Köpfen

Wörter bedingen sich gegenseitig Wörter bedingen sich gegenseitig | Foto (Ausschnitt): © Petr Vaclavek - Fotolia.com

Weshalb wissen wir oft schon, was unser Gesprächspartner sagen will, bevor er seinen Satz beendet hat? Warum verstehen wir viele Begriffe, obwohl wir sie zum ersten Mal hören? Und welche Bedeutung hat dies für das Erlernen und Übersetzen von Fremdsprachen?

Von Janna Degener

Schon in der Schule lernen wir, dass es Substantive, Adjektive und Verben gibt, und dass durch Zusammensetzungen oder Entlehnungen aus anderen Sprachen neue deutsche Wörter entstehen – spätestens wenn wir eine englische Übersetzung für „Elektrorasenmäher“ suchen oder erklären wollen, wie eine Neuschöpfung wie „whatsappen“ unsere Sprache erobert hat. Auch dass etwa in Grußformeln und Redewendungen Wörter häufig mit bestimmten anderen Wörtern kombiniert werden, ist nicht nur Linguisten bekannt. Wenn jemand einen Satz mit „entweder“ beginnt, warten wir innerlich sofort auf das „oder“. Und wenn wir das Verb „backen“ hören, denken wir automatisch an einen Kuchen. Doch unser Wortschatz ist viel dynamischer und komplexer als häufig vermutet. Zu diesem Ergebnis ist das Mannheimer Institut für Deutsche Sprache (IDS) bei seiner Jahrestagung im März 2017 gekommen.

Raten, was der Andere sagen wird

Bei der Analyse von Gesprächstranskripten konnten Sprachwissenschaftler beobachten, dass Zuhörende häufig ihren Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern ins Wort fallen, um deren Sätze zu beenden. Um unser Gegenüber in Unterhaltungen besser zu verstehen, vermuten die Wissenschaftler, raten wir fleißig mit, was der andere als nächstes sagen wird. „Wenn wir einen Satz mit dem Subjekt ‚Die Straßenbahn’ beginnen, erwarten wir, dass eine Bewegung beschrieben wird. Deshalb verstehen wir auch einen Satz wie ‚Die Straßenbahn quietscht um die Ecke‘, obwohl hier kein Bewegungsverb verwendet wird“, erklärt Professor Ludwig M. Eichinger, Direktor des IDS. Die Wörter bedingen sich also gegenseitig, sodass Satzanfänge bestimmte Erwartungen an ihre Fortführung auslösen. „Wörter werden nicht wie starre Elemente in eine Satzstruktur eingesetzt, sondern sie sind untereinander vernetzt. Denn unser Gedächtnis ist in Netzwerken organisiert, in denen die Wörter abgespeichert sind, die zu einem Sachverhalt gehören“, sagt Professor Eichinger. Bestimmte Wörter tauchen deshalb häufig in Zusammenhang mit anderen auf, und mit den Erwartungen, die sich daraus ergeben, können wir wunderbar spielen. Bei der Entwicklung neuer Wörter und Redewendungen bauen wir die vorhandenen Strukturen und Muster aus. „Seitdem der erfolgreiche Film Ziemlich beste Freunde in den Kinos lief, hören wir von ‚ziemlich besten‘ Partnern, Nachbarn oder Azubis“, hat Eichinger beobachtet.

Wörter verstehen, ohne sie zu kennen

Das erklärt auch, warum wir uns die ungefähre Bedeutung vieler Wörter herleiten können, obwohl wir nur einen Bruchteil davon aktiv verwenden. „Vor 15 Jahren umfasste ein zehnbändiges Wörterbuch des Dudens noch circa 200.000 Wörter. Dank neuer Computerprogramme haben wir heute die Möglichkeit, größere Sprachmengen zu durchwälzen. Dabei konnten wir feststellen, dass Sprachen wie das Deutsche etwa fünf Millionen Wörter haben. Relativ wenige davon kommen sehr oft und sehr viele Wörter selten vor. Wir verstehen sie trotzdem häufig, weil wir uns am Kontext orientieren, in dem sie auftauchen“, führt Eichinger aus. Ein zunächst neues Wort wie „Kids“ anstelle von „Kinder“ kann die Hörerin oder der Hörer ohne weitere Erklärung durch den Gesamtzusammenhang verstehen. In Definitionen wiederum liefern wir mithilfe anderer Wörter, die der Hörer idealerweise schon kennt, den notwendigen Kontext, der zum Verstehen eines Wortes gebraucht wird.

Wortvernetzungen beim Erlernen und Übersetzen von Fremdsprachen

Lehrwerke und Lehrkräfte für Deutsch als Fremdsprache arbeiten schon seit Jahrzehnten mit der vernetzten Struktur unseres Wortschatzes, indem sie Vokabeln nicht isoliert, sondern in Kontexten einführen. Neu ist, dass große elektronische Korpora im Unterricht genutzt werden können, um beispielsweise die Verwendung bestimmter Verben unter die Lupe zu nehmen. „Elektronische Ressourcen wie das auf dem Deutschen Referenzkorpus DeReKo basierende Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch (OWID) des IDS, das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften oder das Wortschatz-Portal der Universität Leipzig“ sind aus allen Teilen der Welt frei zugänglich und bieten neue Möglichkeiten der Wortschatzarbeit“, betont Eichinger. Neben Lernenden können auch Übersetzer davon profitieren, weil es nur selten für einen Begriff nur eine passende Entsprechung gibt. „Das französische Wort ‚fleur‘ beispielsweise kann auf Deutsch mit ‚Blume‘ oder ‚Blüte‘ übersetzt werden. Elektronische Wörterbücher geben Aufschluss über solche Verwendungsmöglichkeiten.“ Überhaupt sei das Deutsche durch die Möglichkeit der Zusammensetzung von Wörtern präziser als viele andere europäische Sprachen.

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