Wie können Lehrkräfte mehrsprachiges Potenzial ihrer Schüler im Unterricht nutzen? Und wie sollten Lehramtsstudierende auf die Sprachenvielfalt im Klassenzimmer vorbereitet werden? Damit beschäftigen sich Wissenschaftler und Praktiker in Deutschland und Europa.
Schon seit dem Anwerben der ersten Arbeitsmigranten in den Fünfzigerjahren erhielten Kinder von Zuwanderern an deutschen Schulen Unterricht in ihren Muttersprachen. Allerdings wurden diese Angebote eher stiefmütterlich behandelt und nicht mit dem Regelunterricht verknüpft. Mehrsprachigkeit als didaktisches Konzept spielte lange Zeit allenfalls in den fremdsprachlichen Fächern eine Rolle.
Seit dem Pisa-Schock haben einzelne Bundesländer, Universitäten und Bildungsinstitute vermehrt Ansätze entwickelt, um der Sprachenvielfalt an deutschen Schulen und der Mehrsprachigkeit einzelner Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden: Kinder mit nicht-deutscher Herkunftssprache sollen sprachlich so gefördert werden, dass sie sowohl im Deutschen als auch in ihren Muttersprachen die sprachlichen Voraussetzungen für ein Hochschulstudium erreichen. Dazu sollen Herkunfts- oder Familiensprachen, aber auch Fremdsprachenkenntnisse wertschätzend in den Unterricht einbezogen werden. Neben alltagssprachlichen sollen die Schüler auch bildungs- oder fachsprachliche Kompetenzen erwerben.
Im Forschungsprogramm
Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, kurz FörMig, hat die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) beispielsweise ein Modell zur „durchgängigen Sprachbildung“ entwickelt, das die bildungssprachlichen Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen von der Kindertagesstätte bis zur Universität fördert. Auch wenn das Konzept in einzelnen Projekten bereits erfolgreich in die Praxis getragen wurde, kann von einer systematischen oder gar flächendeckenden Umsetzung aber keine Rede sein.
„Von der frühkindlichen Bildung bis zur Erwachsenenbildung gibt es inzwischen zahlreiche erfolgreiche Projekte. Statt das Konzept der durchgängigen Sprachbildung und das Mosaik an Erfolgsprojekten in eine Gesamtstrategie münden zu lassen, werden viele Projekte allerdings leider nicht fortgeführt“, sagt Elisabeth Gessner vom Forum Lesen in Kassel.
Mehrsprachigkeit schätzen und nutzen lernen
Dennoch: Die Themen sprachliche Bildung, Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache sind inzwischen auch in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften angekommen. „Wir sind jetzt an dem Punkt, dass Mehrsprachigkeit innerhalb der fachübergreifenden Lehrkräftebildung eine Rolle spielt“, sagt Prof. Dr. Beate Lütke vom Sachgebiet „Didaktik der deutschen Sprache und Deutsch als Zweitsprache“ für alle Lehrämter an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Derzeit diskutieren Wissenschaftler und Praktiker, wie Lehrkräfte und Lehramtsstudierende an das Thema Mehrsprachigkeit herangeführt werden können und welche Inhalte dabei im Fokus stehen sollen. „Ein wichtiger Aspekt ist die Sensibilisierung der Studierenden für die sprachlichen Anforderungen des Fachunterrichts und die Lehrtätigkeit in sprachlich und kulturell heterogenen Schülergruppen. Untersuchungen beschäftigen sich etwa damit, welche Einstellungen Lehramtsstudierende gegenüber einer mehrsprachigen Schülerschaft haben und inwieweit sie die mehrsprachigen Ressourcen ihrer Schüler bei ihren Unterrichtsplanungen berücksichtigen“, sagt Beate Lütke. In den USA beispielsweise gebe es bereits Konzepte, um Spanisch als Herkunftssprache vieler Migranten in Unterrichtsphasen der Vorwissensaktivierung und Arbeitsorganisation einzubinden. In Deutschland biete das FörMig-Material erste Anschauungsbeispiele.
Im Berliner Projekt
Sprachen – Bilden – Chancen, das Beate Lütke leitet, haben Sprach- und Fachdidaktiker gemeinsam Materialien entwickelt, um die Ausbildung von Lehrkräften im Bereich Sprachbildung und Deutsch als Zweitsprache zu verbessern. „Lehramtsstudierende und Ausbildende können mithilfe der Materialien einen Eindruck davon bekommen, wie Schülerinnen und Schüler bei der Entwicklung von einer alltagssprachlichen zu einer bildungs- und fachsprachlichen Kompetenz unterstützt werden können und welche Rolle dabei Methoden wie Makro- und Mikroscaffolding spielen können“, erklärt Beate Lütke. Darüber hinaus enthalten die Handreichungen Beispiele, wie herkunftssprachliche Potenziale, fachliches Lernen und die Aneignung der Zweitsprache Deutsch verknüpft werden können. Auch das Programm FörMig stellt Materialien für die Lehrkräftefortbildung bereit, die sich beispielsweise auf das dialogische Vorlesen, das Entschlüsseln und Erarbeiten von Arbeitsaufträgen und den Schriftspracherwerb bei ein- und mehrsprachigen Kindern beziehen.
Internationaler Austausch von Praktikern und Wissenschaftlern
Die neunte Tagung in der internationalen Reihe
Mehrsprachigkeit als Chance, die ein europäisches Konsortium von Forschungseinrichtungen im Mai 2023 in Nysa (Polen) durchgeführt hat, will den Austausch von Praktikern und Wissenschaftlern stärken, die sich mit der Internationalisierung der Lehrerbildung und der Förderung der Mehrsprachigkeit bei Kindern und Jugendlichen beschäftigen. „Da in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Rahmenbedingungen herrschen, suchen wir kein überall gültiges Patentrezept, sondern arbeiten an einem Atlas der Mehrsprachigkeit“, sagt die Geschäftsführerin des Konsortiums Elisabeth Gessner.
In der Schweiz und in Belgien untersuchen Wissenschaftler beispielsweise, wie Texte durch die Stufung des Schwierigkeitsgrads für alle Schüler verständlich gemacht werden können. Bei der Entwicklung solcher Ideen setzen die Experten gezielt auf die Zusammenarbeit mit Lehramtsstudierenden mit Migrationshintergrund, erklärt Elisabeth Gessner: „Diese Studierenden sind Bildungsgewinner, die das deutsche Schulsystem erfolgreich durchlaufen haben. Sie zeigen großes Interesse daran, den Schulerfolg von Kindern aus Zuwandererfamilien zu erhöhen und helfen uns, den Blick auf die Potenziale der Mehrsprachigkeit zu lenken.“