Geteilte Geschichte
Erinnerungsorte

Die Berliner Mauer – einer der bekanntesten Erinnerungsorte Deutschlands. Die Berliner Mauer – einer der bekanntesten Erinnerungsorte Deutschlands. | Foto (Ausschnitt): Maurizio Malangone © Adobe Stock

Erinnerungsorte sind ein zentrales Element bei der Ausbildung eines historischen Gedächtnisses. Gerade weil sie nur auf den ersten Blick eindeutig sind, eignen sie sich hervorragend für den Unterricht in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Denn in der Auseinandersetzung mit ihnen können die interpretierende Kraft der Sprache und die Komplexität und Heterogenität von Kultur erfahren und reflektiert werden. 

2007 erschien der Band Erinnerungsorte. Deutsche Geschichte im DaF-Unterricht (Schmidt/Schmidt) – ein erstes deutliches Indiz für die steigende Aufmerksamkeit, die der Begriff im Unterricht Deutsch als Fremd- und Zweitsprache fand. Das Konzept selbst steht im Zusammenhang von Gedächtnistheorien, die auf die bahnbrechenden Überlegungen des französischen Soziologen Maurice Halbwachs aus den 1920er Jahren aufbauen. Grundlegend ist die Erkenntnis, dass vermeintlich so individuelle Phänomene wie Gedächtnis und Erinnerung einen zutiefst sozialen Charakter aufweisen. So ist nicht nur das individuelle Erinnern auf kommunikative Kontexte angewiesen; Erinnerung ist auch in dem Sinne ein soziales Phänomen, als sich Familien, Gruppen, ja ganze Nationen Gedächtnisse schaffen, die durch kommunikative Aktivitäten wie das Erzählen, durch Institutionen wie die Schule und durch Rituale wie regelmäßig wiederkehrende Gedenktage konstruiert und tradiert werden: „Gedächtnis“, so der Kulturwissenschaftler Jan Assmann (1999: 35), „wächst dem Menschen erst im Prozess seiner Sozialisation zu.“

Die Entstehung der „Erinnerungsorte“

Von den oben genannten Überlegungen ging der französische Historiker Pierre Nora aus, als er in den 1980er Jahren unter dem Titel Les Lieux de mémoire die Geschichte Frankreichs anhand ihrer Erinnerungsorte – so die Übersetzung seines Begriffs ins Deutsche – neu erzählte. Unter Erinnerungsorten verstand er dabei „‚Orte‘ – in allen Bedeutungen des Wortes – [...], in denen sich das Gedächtnis der Nation Frankreich in besonderem Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat“ (Nora 1998: 7). Dies waren keineswegs nur Orte im alltagssprachlichen Verständnis des Wortes, sondern auch Ereignisse, Personen, Institutionen, Texte, Formulierungen von hoher emotionaler und symbolischer Relevanz für das gesellschaftliche Selbstverständnis Frankreichs. Erinnerungsorte sind nicht immer Orte im klassischen Sinn. Erinnerungsorte sind nicht immer Orte im klassischen Sinn. | Foto (Ausschnitt): John © Adobe Stock Neu an seinem Geschichtsprojekt waren vor allem drei Aspekte: ein Fokus auf die symbolische Aufladung von Geschichte, der diese aber nicht als Ideologie oder Mythisierung abwertet; die Einsicht in die identitätsstiftende Funktion, die Erinnerungsorten als Kristallisationspunkten des kollektiven Gedächtnisses zukommt; und der Gegenwartsbezug von Erinnerung: „[D]ie Vergangenheit verändert sich, indem sie von jeder neuen Generation von neuem begriffen, verstanden und konstruiert wird. Jede Generation schafft sich die Erinnerungen, die sie zur Bildung ihrer Identität benötigt“ (François/Schulze 2005: 7). Erinnerungsorte können bestimmte Personen, Texte oder auch Gegenstände sein. Erinnerungsorte können bestimmte Personen, Texte oder auch Gegenstände sein. | Foto (Ausschnitt): pureshot © Adobe Stock Diesen Aspekt macht nicht zuletzt die von den beiden Historikern Etienne François und Hagen Schulze konzipierte Adaptation des Konzepts für den deutschen Kontext deutlich, die erstmals 2001 unter dem Titel Deutsche Erinnerungsorte erschien; Erinnerungsorte sind für sie so heterogene Phänomene wie der Reichstag und die Reformation, der Volkswagen und Auschwitz, Goethe, Schiller und Heinrich Heine und sogar Slogans wie Wir sind das Volk und Heil: Diese alle eröffnen je eigene Zugänge zu den deutschsprachigen Ländern als einem vielfältigen, sich ständig neu konfigurierendem Netzwerk von sinnstiftenden Bezugnahmen auf Geschichte – und damit auf ihre Konstruktion. Diese Herangehensweise, die einerseits das Offene, Fragmentarische, Wandelbare der Geschichte und andererseits ihre Relevanz für die Selbstvergewisserungsbedürfnisse der Gegenwart betont, hat sich in den darauffolgenden Jahren als außerordentlich produktiv erwiesen, ablesbar an der rasch angewachsenen Zahl von Publikationen, die den Begriff Erinnerungsort im Titel tragen.  Zu nennen sind unter anderen umfangreiche Publikationen zu den Erinnerungsorten Österreichs und der Schweiz wie auch zu den Erinnerungsorten der DDR, aber auch zu geteilten beziehungsweise gemeinsamen Erinnerungsorten (zum Beispiel Deutschland-Polen) und zu den weitgehend verdrängten Erinnerungsorten der deutschen Kolonialgeschichte. Der Kniefall von Willy Brandt am Mahnmal des Warschauer Gettos ist ein deutsch-polnischer Erinnerungsort. Der Kniefall von Willy Brandt am Mahnmal des Warschauer Gettos ist ein deutsch-polnischer Erinnerungsort. | Foto: © Bundesregierung / Engelbert Reineke

Erinnerungsorte im Kontext von DaF und DaZ

Die zahlreichen Publikationen, Praxisberichte und didaktischen Vorschläge (siehe die Beiträge in Badstübner-Kizik/Hille 2015 und 2016; Fornoff 2009; Roche/Röhling 2014, Dobstadt/Magosch 2016), die in den letzten Jahren erschienen sind, belegen die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten des Konzepts in fremd- und zweitsprachendidaktischen Kontexten. Sein Potenzial ergibt sich aus der Möglichkeit, am Beispiel einzelner Erinnerungsorte nicht nur deren wechselvolle Vergangenheit, sondern auch und vor allem ihre – meist umstrittenen – Gegenwartsbedeutungen zu entdecken und so einen differenzierten Einblick in die Diskurse zu gewinnen, in denen die deutschsprachigen Gesellschaften ihren symbolischen Zusammenhalt und ihre Identität verhandeln. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass in den letzten Jahren besondere Aufmerksamkeit den sogenannten „geteilten“ Erinnerungsorten gewidmet wurde: also solchen, die in verschiedenen Gesellschaften etwas je anderes bedeuten – und damit darauf aufmerksam machen, dass Erinnerungsorte oftmals national nicht eindeutig zurechenbar sind; des Weiteren den Möglichkeiten einer europäischen Erinnerungsarbeit; sowie den Erinnerungsspuren von Migration in den deutschsprachigen Ländern und von deutscher und europäischer Kolonialgeschichte. Hieraus ergeben sich Anschlusspunkte für unterschiedliche Interessenslagen in verschiedenen Lehr- und Lernkontexten, sei es in gemischten europäischen Lerngruppen, in der Arbeit mit Migrantinnen und Migranten im Unterricht von Deutsch als Zweitsprache, aber auch im Rahmen postkolonial ausgerichteter germanistischer Studienprogramme in außereuropäischen Kontexten. Vermieden werden sollten dabei allerdings einfache Vergleiche, die der Gefahr einer Homogenisierung unterliegen. Formulierungen wie „der russische“ versus „der deutsche Blick“ auf Stalingrad lassen außer Acht, dass es weder einen eindeutig russischen noch einen eindeutig deutschen Blick gibt. Diese Un-Eindeutigkeit ist ein zentraler, aus fremd- und zweitsprachendidaktischer Perspektive besonders wichtiger Aspekt der Erinnerungsorte.

Mehrwert der Erinnerungsorte im DaF/DaZ-Unterricht

  • Gegenwartsbezug: In der Arbeit mit Erinnerungsorten steht die Frage im Zentrum, wie eine Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit in der (jeweiligen) Gegenwart ihre Identität und ihre Orientierung konstruiert. Geschichte gilt aus dieser Perspektive als nicht abgeschlossen, vielmehr wird sie erkennbar als etwas, das „immer noch geschieht“ (François/Schulze 2005: 12).
  • Komplexität: Erinnerungsorte sind nur auf den ersten Blick eindeutig. Schaut man genauer hin, erweisen sie sich als komplex, mehrdeutig, umkämpft, kontrovers; damit werden auch die Gesellschaften, die von außen oft als homogen erscheinen, in ihrer realen Heterogenität erkennbar (vgl. Badstübner-Kizik 2015).
  • Konstrukt- und Interpretationscharakter: In der Beschäftigung mit Erinnerungsorten kann man lernen, dass Realität kein objektives Faktum, sondern ein Produkt von – veränderlichen – Zuschreibungen ist. Erinnerungsorte sind Schauplätze von Kämpfen um Deutung und sprachlich-kulturelle Vorherrschaft. In der Beschäftigung mit ihnen können die Lernenden ein Verständnis für die Art und Weise, mit der Sprache und Medien die Wirklichkeit konstruieren und perspektivieren, entwickeln.
  • Erinnerungsorte und der Doppelcharakter von Sprache:  Die Interpretationen von Erinnerungsorten greifen frühere, oft auch konkurrierende Deutungen auf und verarbeiten sie. Indem die Lernenden für die daraus resultierenden Spannungsverhältnisse zwischen Stabilität und Instabilität, Konventionalität und Kreativität, Norm und Normüberschreitung sensibilisiert werden, erwerben sie die Voraussetzung für ein vielschichtigeres Sprach- und Kommunikationsverständnis.

literatur

Assmann, Jan (1999): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck.

Badstübner-Kizik, Camilla (2015): Über „Erinnerungsorte“ zur Vielfalt des deutschsprachigen Raumes. In: Fremdsprache Deutsch H. 52, S. 11-14.

Badstübner-Kizik, Camilla / Hille, Almut (2015) (Hg.): Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungsorte im hochschuldidaktischen Kontext (= Posener Beiträge zur Angewandten Linguistik; 7), S. 263-273.

Badstübner-Kizik, Camilla/Hille, Almut (2016) (Hg.): Erinnerung im Dialog. Deutsch-Polnische Erinnerungsorte in der Kulturdidaktik Deutsch als Fremdsprache (= Język Kultura Komunikacja; 17).

Dobstadt, Michael / Magosch, Christine (2016): Der ,Erinnerungsort Tschernobyl‘ in deutschsprachigen ästhetischen Texten (Literatur, Film, Musik, Graphic Novel). In: Freudenfeld, Regina et al. (Hg.): In Sprachwelten über-setzen (Mat DaF - Materialien Deutsch als Fremdsprache 95), S.213-232.

François, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.) (2005): Deutsche Erinnerungsorte. Eine Auswahl. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Fornoff, Roger (2009): Erinnerungsgeschichtliche Deutschlandstudien in Bulgarien. Theoriekonzepte – unterrichtspraktische Ansätze – Lehrerfahrungen. In: Info DaF 36. Jg., H. 6, S. 499-517.

Nora, Pierre (1998): Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt/Main: Fischer.

Roche, Jörg/Röhling, Jürgen (2014) (Hg.): Erinnerungsorte und Erinnerungskulturen. Konzepte und Perspektiven für die Sprach- und Kulturvermittlung. Baltmannsweiler (Perspektiven Deutsch als Fremdsprache; 27).

Schmidt, Sabine/Schmidt, Karin (2007): Erinnerungsorte. Deutsche Geschichte im DaF-Unterricht. Materialien und Kopiervorlagen. Berlin: Cornelsen.

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