In digitalen Zeiten, so scheint es, wird das World Wide Web zum Klassenzimmer. Doch reale Räume spielen auch im Online-Deutschunterricht eine wichtige Rolle. Zum Begriff der Deterritorialisierung und seiner Bedeutung für den Fremdsprachenunterricht.
Deterritorialisierung – das ist, grob gesagt, die Veränderung eines Gebietes oder die Loslösung von einem Raum. Der Begriff wurde vor einem halben Jahrhundert von dem Philosophen Gilles Deleuze und dem Psychoanalytiker Félix Guattari geprägt. Mithilfe des Konzeptes haben Wissenschaftler*innen unter anderem Globalisierungs- und Migrationsbewegungen beschrieben. In Zeiten, in denen Menschen überall auf der Welt coronabedingt digital miteinander kommunizieren, ist das Phänomen vielleicht so aktuell wie nie – auch in der Bildung und auch im Deutschunterricht. „Im Online- oder Hybridunterricht stellt sich auch die Frage der kulturellen Verortung: Spielt es überhaupt noch eine Rolle, wo ein Deutschkurs stattfindet? Kann eine Lehrkraft, die seit Jahrzehnten am anderen Ende der Welt lebt, ihren Lernenden zum Beispiel ein Fenster nach Deutschland öffnen – und hier ist natürlich nicht das Windows-Fenster gemeint?“, erklärt Dr. Matthias Jung. Er ist Direktor des Instituts für Internationale Kommunikation in Düsseldorf und Berlin (IIK) und Vorstandsvorsitzender des Fachverbands Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Die Kulturwissenschaftlerin und FaDaF-Geschäftsführerin Dr. Annegret Middeke, die den Deterritorialisierungsbegriff auf die Digitalisierungsdebatte übertragen hat, fragt sich ganz grundsätzlich: „Wie kann Kulturvermittlung im virtuellen Raum funktionieren?“
Von Sorge bis Neugier: Einschätzungen von Lehrkräften und Lernenden
Eine Befragung des FaDaF unter Deutschlernenden und Fachleuten zeigt, welch unterschiedliche Emotionen und Gedanken der Begriff der „digitalen Deterritorialisierung“ hervorrufen kann: Die einen scheinen dies als Bedrohung zu empfinden – vielleicht auch, weil einige Menschen auf dieser Welt aus technischen Gründen keinen oder nur eingeschränkten Zugang zur digitalen Welt haben. Die anderen sehen darin eher eine Chance für mehr Bildungsgerechtigkeit. Die einen betonen, dass digitale Kontakte die Neugier auf echte Begegnungen wecken können. Die anderen sehen die Notwendigkeit, im virtuellen Raum Nähe herzustellen. Doch das Thema wirft vor allem Fragen auf: Gibt es in virtuellen Welten Räume und Grenzen über die Sprache hinaus oder ist heute die Welt unser Klassenzimmer? Welche Herausforderung bringt es für Lernende und Lehrende mit sich, im virtuellen Raum an mehreren Orten gleichzeitig zu sein? Welche Regeln des Miteinanders gelten hier und wie werden sie ausgehandelt? Welche digitalen Gräben gilt es zu überwinden? Wie kann eine hybride Zukunft des Deutschunterrichts aussehen?
Die gar nicht mehr so neue Normalität? | © Colourbox
Klar ist: Wenn der Raum keine Rolle mehr spielt, stehen in Deutschland lebende Lehrkräfte ökonomisch betrachtet auf dem globalen Markt in Konkurrenz zu Kolleg*innen, die ihren Unterricht für ein deutlich niedrigeres Honorar anbieten können. Die Lernenden wissen im digitalen Live-Unterricht ja zunächst einmal nicht unbedingt, wo sich die Lehrkraft befindet. Allerdings bringt genau dies auch Vorteile mit sich. Denn die Lehrkräfte haben unterschiedliche Möglichkeiten an der Hand, ihre reale Umgebung in den live stattfindenden Online-Unterricht zu integrieren oder den digitalen Unterricht an einem bestimmten – vielleicht gar imaginierten – Ort stattfinden zu lassen„Einige Lehrkräfte inszenieren aus dem Home-Office heraus ihr ganzes Privatleben – geben ihren Lernenden einen Einblick in ihr Zuhause, zeigen ihnen, wie sie in der Küche ihr Essen zubereiten und lassen sie mit ihren Kindern plaudern“, beobachtet Matthias Jung. Die Lehrkräfte können beispielsweise auch O-Töne von Expert*innen in fachspezifische Kurse integrieren oder die Teilnehmenden mit dem Smartphone an interessante Orte schicken, um Bilder und Töne einfangen und mit der Gruppe teilen zu lassen.
Das Beste aus allen Welten: Deutschunterricht der Zukunft
Bei einer Diskussionsveranstaltung, die die im Rahmen der sechsten Langen Nacht der Ideen des Auswärtigen Amts vor rund einem Jahr via Zoom stattfand, ist der FaDaF dem Thema zum ersten Mal auf den Grund gegangen – gemeinsam mit Expert*innen wie Prof. Dr. Albert Gouaffo, PD. Dr. Marion Grein, Prof. Dr. Gerhard Lauer und Coretta Storz. Heute befindet sich die Deutschlerncommunity in einer Übergangszeit, in der weiterhin online, teilweise auch hybrid und häufig auch wieder in klassischen Präsenzkursen unterrichtet und gelernt wird. Lehrkräfte stoßen immer wieder Diskussionen dazu an, ob Online-Unterricht schlechter bezahlt sein muss als Präsenz-Unterricht. „Wir müssen weg von dem Gedanken, dass wir auf digitalen Unterricht allein aus der pandemiebedingten Notwendigkeit heraus zurückgreifen“, findet Annegret Middeke. „So wie Lehrkräfte schon seit Jahrzehnten je nach Lerngruppe und Unterrichtsziel entscheiden, ob sie ein Impulsreferat halten oder eine Gruppenarbeit anregen, ob sie das Whiteboard nutzen oder das Flipchart, so werden sie zukünftig auch entscheiden, ob sie eine Kurssequenz online, hybrid oder in Präsenz durchführen, um den maximalen Output zu erreichen.“