Lehrkäftemangel
Selbständig lernen – ohne Lehrkraft?

Schülerinnen und Schüler in einem Klassenzimmer © Colourbox

Wer Selbstregulierungskompetenzen hat, lernt effizienter – in der Schule wie auch im späteren Leben. Doch ist das möglich mit weniger Lehrkräften?

Von Janna Degener-Storr

Lehrkräfte fehlen weltweit, auch an deutschen Schulen. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK), ein wichtiges Beratergremium der Bildungspolitik, hat sich kürzlich in einem viel diskutierten Papier zu dem Thema geäußert und mit Blick auf den Fremdsprachenunterricht das so genannte task-based language learning (TBLL) in den Blick genommen. Mithilfe dieses Konzepts sollen die Selbstregulierungskompetenzen der Schüler*innen erhöht und so der Lehrermangel aufgefangen werden. Ganz konkret soll geprüft werden, so die Empfehlung, ob insbesondere in den höheren Klassen der gymnasialen Oberstufe über die Erhöhung des Selbstlernverhaltens Lehrkräfteressourcen eingespart werden können.
Selbstregulierung:
Wenn Lernende ihr Lernen selbst regulieren können, kontrollieren und reflektieren sie den Erwerbsprozess aktiv. Sie bemühen sich, ihre eigenen Leistungen durch ihre Überzeugungen und Prozesse zu steuern.

Task-based language learning:
„Task-based language learning“ (TBLL) lässt sich übersetzen als „Aufgabengestütztes Sprachenlernen“ oder „Handlungsorientierter Unterricht“. Verwendet werden herausfordernde Aufgaben, die den Lernenden die Möglichkeit der kommunikativen Interaktion geben. So werden die Lernenden kognitiv und sprachlich aktiviert.

„Bei der selbständigen Bearbeitung von umfassenderen kommunikativen Aufgaben in Kleingruppen über längere Zeiträume hinweg können die Schüler eher auf eine Lehrkraft verzichten als in einem sehr lehrerzentrierten Unterricht“, behauptet Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache und SWK-Mitglied. Allerdings, räumt die Kommission ein, erfordert diese Art des Lernens Selbstregulierungskompetenzen. Das heißt, Schüler*innen müssen zunächst lernen, ihren eigenen Lernprozess zu steuern, indem sie ihr Lernverhalten kontrollieren und reflektieren.

DaF-Unterricht mit Task-based language learning

Das Gremium bezieht sich in den Empfehlungen auf eine Studie von Lara Bryfonski, Assistenzprofessorin am Fachbereich Linguistik der amerikanischen Georgetown University. Die Expertin ist skeptisch, ob der Einsatz von TBLL oder die Vermittlung von Selbstregulierungsfähigkeiten tatsächlich Lehrkräfteressourcen freisetzt. Denn die Arbeit mit dem Konzept erfordert eine spezielle Ausbildung. Je nach Ansatz müssen die Lehrkräfte zudem die Sprachlernbedürfnisse ermitteln, passend dazu Aufgaben entwickeln, den Lernfortschritt bewerten und individuelles Feedback geben: „Das Anzapfen der Selbstregulierung der Lernenden könnte dazu beitragen, die Unabhängigkeit der Lernenden zu erhöhen, aber die Schulung von Lehrkräften und Lernenden in der Anwendung dieser Techniken würde ebenfalls Zeit und Energie kosten“, betont sie. Auch größere Klassen erschweren aus Sicht der Wissenschaftlerin den Einsatz von TBLL.

Stadtplan mit zwei Markierungen, einem Herz und einem Stern © Colourbox Wenn Lernende zum Beispiel in der Zielsprache Deutsch eine Wegbeschreibung erarbeiten sollen, kann man ihnen unterschiedliche Versionen derselben Karte geben, auf denen jeweils unterschiedliche Informationen fehlen. Die Lernenden müssen dann miteinander kommunizieren, um sich zum Beispiel darüber zu verständigen, welche Straßen gesperrt sind.

„Die Lernenden konzentrieren sich nicht darauf, die richtige Grammatik oder das richtige Vokabular zu verwenden, sondern sie konzentrieren sich auf die Kommunikation“, erklärt Lara Bryfonski. „Dennoch werden sie wahrscheinlich Fehler machen oder Kommunikations-Pannen haben und genau dadurch werden wichtige Wörter und Formen gelernt“. Die Lehrkraft kann dann – ähnlich wie in einem Flipped Classroom-Setting – in die Rolle eines Moderators, Beraters, Coachs schlüpfen und ihnen anschließend Feedback geben oder eine Reflexionssitzung durchführen, damit die Lernenden Formen erkennen, die sie für die Lösung der Aufgabe benötigen. Auch die Lernenden können angeleitet werden, sich gegenseitig Feedback zu geben, die Kommunikation untereinander zu fördern sowie Selbstregulierungs- und Lernstrategien anzuwenden. Doch die Lehrkräfte brauchen dafür Zeit und Know-how.

Lesen lernen mit FiLBY

Wie Selbstlernkompetenzen von Schüler*innen schon in jungen Jahren gefördert werden können, das zeigt das Projekt Fachintegrierte Leseförderung Bayern, kurz FiLBY. Schon vor sieben Jahren begann die Universität Regensburg in Zusammenarbeit mit den Bayerischen Kultusministerium, ein Lesefördertraining zu entwickeln, das sich über drei Jahrgangsstufen erstreckt und auch den Erwerb von Lesestrategien umfasst, die ab der vierten Klasse in ein Selbstregulierungstraining eingebettet werden. Dieses basiert auf Studien, unter anderem von den amerikanischen Bildungsforschern Steve Graham und Karen Harris.

Wie task-based language learning setzt auch das FiLBY-Training auf Aufgaben, die die Lernenden fordern, aber nicht überfordern, sowie auf Unterstützung durch konstruktives Feedback. Die Kinder bekommen pro Übungseinheit einen Lesetext und Fragen.

Ziel setzen:
Sie schätzen vor dem Lesen selbst ein, wie viele der Fragen sie beantworten können und setzen sich ein Ziel, etwa: „Heute will ich zwei der Fragen zum Lesetext richtig beantworten“.

Strategie auswählen:
Dann wählen sie eine Strategie aus, mit der sie ihr Ziel erreichen können.

Reflektion:
Nach dem Lesen gleichen sie ab, ob sie ihr Ziel mit der gewählten Strategie erreichen konnten, um zu entscheiden, ob sie mit dieser oder mit einer anderen Strategie weiterarbeiten wollen.

Selbsteinschätzung:
Nach Abschluss der Aufgabe bewerten die Kinder schließlich, wie gut sie diese erledigt haben, um dann zu entscheiden, wie sie in der nächsten Stunde weiterlernen.

Prof. Dr. Anita Schilcher vom Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur erklärt: „Wir vermitteln den Kindern, dass sie nicht einfach planlos etwas ausführen sollen, sondern immer überlegen müssen, welches Ziel sie erreichen möchten und welche Strategien geeignet sind, um dieses Ziel tatsächlich zu erreichen und sich kontinuierlich zu verbessern.“ Darüber hinaus finden wöchentliche Feedbacks mit Mitschülern und Lehrkräften statt. Auch in vorhergehenden Lese- und Schreibtrainings (Burg Adlerstein-Lese- und Schreibtraining) hat die Universität Regensburg Kinder bereits dazu angeregt, ihre eigenen Erwerbsprozesse selbst zu überwachen – mit nachweislich guten Ergebnissen.

Die Texte für das FiLBY-Lesetraining hat die Universität gemeinsam mit dem Arbeitskreis Lesen des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) und Fachdidaktikern und Fachdidaktikerinnen entwickelt. Außerdem wurde ein frei verfügbares Online-Tool zur Messung der Textverständlichkeit entwickelt. Erste Evaluationsergebnisse zeigen, dass die Kinder ihre Lesekompetenz mit dem FiLBY-Training besser steigern als ohne.

Lernen lernen, Strategien erwerben

Doch auch hier gilt: Der Erfolg hängt wesentlich von der Kompetenz der Lehrkraft ab. Anita Schilcher sagt: „Die Lehrkraft muss die Strategien vermitteln und sich darum kümmern, dass jedes Kind sie versteht und bewusst anwendet.“ Neben der Teilnahme an einer entsprechenden Fortbildung sei wichtig, dass die Lehrkraft überzeugt von der Wichtigkeit ihrer Arbeit und dem Training ist. Die Expertin kann sich gut vorstellen, dass sich der Quereinstieg in das Grundschullehramt mithilfe der Fortbildung und der Materialien aus dem FiLBY-Projekt professionalisieren lässt. Ob durch das Projekt langfristig Lehrkräfte eingespart werden können, da ist aber auch sie unsicher: „Wenn ich selbstreguliert lerne, lerne ich grundsätzlich effektiver. Langfristig wird das zum Automatismus. Aber die Lehrkraft muss für jeden einzelnen Lernprozess die Strategien vermitteln.“

Das FiLBY-Lesetraining stärkt also die Selbstregulierungskompetenzen von Grundschüler*innen und schafft damit eine wichtige Vorkompetenz für den späteren Fremdsprachunterricht. Dort können die Lernenden diese Fähigkeiten, die sie ein Leben lang benötigen werden, mithilfe des TBLL weiterentwickeln. Dass sich der Lehrkräftemangel durch solche Ansätze auffangen lässt, ist allerdings wohl mehr als fraglich.
 
Literatur
Lara Bryfonski und Alison Mackey: The art and science of language teaching. Cambridge University Press 

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