Ist es tatsächlich schwieriger, eine Fremdsprache als Heranwachsender oder Erwachsener zu lernen und, wenn ja: warum? Die Neurowissenschaften tragen zur Beantwortung bei – und liefern dabei auch Ermutigendes für ältere Lerner.
Abstract
Die Neurowissenschaften sind eine forschungsaktive Disziplin, die versucht, Erkenntnisse u.a. dadurch zu gewinnen, dass sie dem Gehirn sozusagen bei der Arbeit zusieht. So hilft sie auch, Fragen zum Sprachenlernen zu beantworten: unter anderem durch neue Erkenntnisse zur Hirnentwicklung während der Kindheit oder zur Lokalisierung von Sprache und Sprachen, aber auch zur sogenannten Plastizität, also dazu, wie sich das Gehirn durch Lernen und Training verändert. So wird besser erklärbar, warum es Lernenden mit zunehmendem Alter oft schwerer fällt, sich eine Fremdsprache anzueignen. Studien belegen aber auch, dass es zum Lernen niemals zu spät ist.
Dank der Entwicklung bildgebender Verfahren die zur Erforschung des Gehirns eingesetzt werden können, erlebten die Neurowissenschaften insbesondere in den vergangenen zwanzig Jahren eine regelrechte Konjunktur. Bahnbrechend war vor allem die Entwicklung der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT), deren Bilder durch bunte Markierungen die Aktivität bestimmter Hirnregionen – und somit seit Anfang der 1990er-Jahre auch im menschlichen Gehirn bislang Verborgenes – sichtbar machen. So kann die Neurowissenschaft dem Gehirn gewissermaßen bei der Arbeit zuzusehen und zur Beantwortung vieler Fragen beitragen – auch Fragen zum Sprachenlernen.
WIE KINDER SPRACHE LERNEN
In dem Alter, in dem Kinder ihre erste Sprache oder, im Falle eines zwei- oder mehrsprachigen Umfelds, ihre ersten Sprachen erwerben, ist das Gehirn besonders auf Spracherwerb eingestellt. Manche anderen Reize aus der Umwelt werden hingegen noch nicht verarbeitet, sondern herausgefiltert. Dadurch kann sich das kindliche Gehirn „ungestört“ mit Sprachverarbeitung befassen.
Zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahr erreicht das Gehirn die höchste Zahl an Synapsen, die als Kommunikationsstellen zwischen den Nervenzellen für Lernprozesse von allergrößter Bedeutung sind. In diesem Entwicklungsabschnitt innerhalb der sogenannten kritischen oder sensiblen Phase hat das Gehirn die Möglichkeit, die am besten für Sprache geeigneten Regionen und Verbindungen zu identifizieren und die verwendeten Sprachen dort zu verankern.
Sensible Phasen oder „critical periods“ sind Zeitfenster in der kindlichen Entwicklung, in denen Kompetenzen, z.B. sprachliche, scheinbar mühelos erworben werden. Zwei- bis achtjährige Kinder lernen im Durchschnitt jede zweite Wachstunde ein neues Wort, das entspricht etwa acht neuen Wörtern am Tag (Korte 2011: 166). Voraussetzung für diesen erfolgreichen und raschen Spracherwerb ist allerdings, dass die Umgebung die für die Entwicklung notwendigen Impulse auch anbietet. Hierbei reicht es offenbar nicht aus, die Sprache nur zu hören. Entscheidend scheint vielmehr die Qualität der sprachlichen Interaktion zu sein (vgl. Korte 2011: 33, Sambanis 2007). Dies bedeutet auch, dass sich das Gehirn nicht nur besonders reichem Input, sondern ebenso geringen sprachlichen Reizen oder wenig variablen Interaktionen anpasst. Spracherwerb steht in Zusammenhang mit Veränderungen der Gehirnarchitektur.
Auf molekularer Ebene werden sensible Phasen durch den Wachstumsfaktor BDNF ausgelöst. Dieses Protein aktiviert eine Hirnregion “that allows us to focus our attention – and keeps it on, throughout the entire critical period“ (Doidge 2007), d.h. die Aufmerksamkeit wird auf etwas ausgerichtet und bleibt während der gesamten Phase darauf fokussiert. Auf diese Weise werden im Zusammenspiel mit den eingehenden sprachlichen Reizen die Strukturen geschaffen, die nötig sind, um sprachliche Interaktionen meistern zu können. Diese besondere Fokussierung führt dazu, dass es Kindern zumeist leichter fällt, eine Sprache oder mehrere Sprachen zu erlernen, als Erwachsenen.
Sind geeignete Strukturen während der sensiblen Phase angelegt worden, schließt sich das Fenster unter neuerlicher Einwirkung des Wachstumsfaktors BDNF wieder. Dies erfolgt je nach Forschermeinung zwischen dem achten Lebensjahr und der Pubertät.
WARUM SICH DAS FENSTER WIEDER SCHLIESST
Wenn innerhalb von sensiblen Phasen überaus effektiv gelernt werden kann, warum bleiben die Fenster dann nicht einfach offen? Hierfür gibt es gute Gründe, die mit anderen Entwicklungen sowie mit grundlegenden Funktionsweisen des Gehirns zusammenhängen. Dieses arbeitet nämlich u.a. nach dem Stabilitätsprinzip: Nach Phasen intensiven Auf- oder Umbaus muss das Angelegte in einer Konsolidierungsphase gefestigt werden. Überdies könnte ein permanent offenes Fenster für den Spracherwerb die Entwicklung anderer Fertigkeiten hemmen. Wie bei einem Scheinwerfer das Licht auf einen bestimmten Ausschnitt gerichtet wird, richten auch sensible Phasen den Fokus auf einen bestimmten Ausschnitt und lassen die Energie gebündelt an diese Stelle fließen, während anderes, bildlich gesprochen, dann im Schatten liegt. Damit sich während der kindlichen Entwicklung weitere Bereiche effektiv ausbilden können, muss der Scheinwerfer weiterwandern, sich vom Fokus auf den Spracherwerb auch wieder lösen.
WO SPRACHEN SICH VERORTEN LASSEN
Durch Studien mit bildgebenden Verfahren versuchen Forscher zu klären, in welchen Hirnregionen weitere Sprachen im Laufe der Entwicklung verankert werden. Sie können in denselben Hirnregionen oder in sich überlappenden Regionen gespeichert werden bzw. getrennt voneinander (vgl. Müller 2013: 58ff.). Wie dies geschieht, ist offenbar von unterschiedlichen Faktoren abhängig. Werden mehrere Sprachen innerhalb der sensiblen Phase im Kindesalter erworben und sind weitere Faktoren wie Häufigkeit, Intensität oder Qualität der Interaktionen für die Sprachen vergleichbar, stehen die Chancen gut, dass sich die Sprachen die am besten für sprachliche Funktionen geeigneten Regionen teilen oder diese zumindest überlappend nutzen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass das Gehirn Strukturen durch Gebrauch festigt. Dies gilt auch für die in der Kindheit erworbene(n) Sprache(n). Auf dem Weg ins Erwachsenenalter wird die Erstsprache in der Regel täglich gebraucht. Bedingt durch die eifrige Nutzung über Jahre hinweg beansprucht sie schließlich die am besten für Sprache geeigneten Zentren im Gehirn für sich. Danach muss sich jede weitere Sprache in die bereits gefestigten Strukturen hineindrängen – oder auf andere, nicht speziell auf Sprachverarbeitung ausgerichtete Hirnareale ausweichen: etwa auf solche, in denen Gedächtnisinhalte verarbeitet und gespeichert werden. Sprachen, die im Laufe der Pubertät oder später gelernt werden, weichen oftmals auf andere Areale aus, auch auf solche, die sich nicht in der sprachdominanten Hirnhälfte befinden.
JEDE SPRACHE FINDET IHREN PLATZ
Derartige Einblicke in die neurowissenschaftliche Forschung sollten Lehrende und Lernende ermuntern, mit sich selbst als Sprachlernenden beziehungsweise mit Schülerinnen und Schülern Geduld zu haben. Die gute Nachricht lautet: Für alles, was tatsächlich gebraucht, geübt und genutzt wird, findet das Gehirn auch im Erwachsenenalter einen Platz, denn es ist ein plastisches Organ.
Zudem besitzen erwachsene Lerner im Vergleich zu Kindern deutlich mehr Erfahrungen mit Strategien und individuell bevorzugten Lernzugängen. Daran sollte der Fremdsprachenunterricht methodisch anknüpfen. Außerdem können ältere Lerner kognitive Zugänge wie Visualisierung, Musterbildung, Verschriftlichung oder Selbstverbalisierung nutzen. Daneben steht ihnen die gesamte Bandbreite an methodischen Möglichkeiten zur Verfügung, die teilweise auch schon den kindlichen Spracherwerb unterstützen.
Literatur
Doidge, Norman: The Brain That Changes Itself. New York: Penguin 2007.
Korte, Martin: Wie Kinder heute lernen. Was die Wissenschaft über das kindliche Gehirn weiß. München: Goldmann 2011 (2. Auflage).
Müller, Horst M.: Psycholinguistik – Neurolinguistik. Paderborn: Wilhelm Fink (UTB 3647) 2013.
Sambanis, Michaela: Sprache aus Handeln. Englisch und Französisch in der Grundschule. Landau: VEP 2007.
Sambanis, Michaela: Fremdsprachenunterricht und Neurowissenschaften. Tübingen: Narr 2013.