Neuere Erkenntnisse aus der Forschung: Kognitive und interaktive Prozesse
Lernen = Kognition + Interaktion

Lernen = Kognition + Interaktion Lernen = Kognition + Interaktion | Illustration: Melih Bilgil

Fremdsprachenerwerb ist nicht nur Kopfarbeit, sondern findet auch im sozialen Umfeld statt. Welche Rolle spielt die Interaktion dabei? Und was bedeutet dies praktisch für die Korrektur etwa von Grammatikfehlern oder für den DaF-Unterricht insgesamt?
 

Von Claudia Riemer

Abstract

Die Frage, welche kognitiven und interaktiven Prozesse dem Fremdsprachenlernen unterliegen, ist Gegenstand vielfältiger Ansätze und Forschungen. Ihre Ergebnisse können dabei helfen, besser zu verstehen, unter welchen Bedingungen das Fremdsprachenlernen erfolgreich verläuft und wie dies im Unterricht unterstützt werden kann. Darunter gibt es auch Forschungsergebnisse, die Anlass dazu geben, die Wirksamkeit von alltäglichem Unterrichtshandeln kritisch zu hinterfragen und Änderungen bei der Planung und Durchführung von Zweit- und Fremdsprachenunterricht vorzunehmen. Einige davon werden hier erläutert.

Die Aneignung von Fremd- und Zweitsprachen kann grob gefasst als ein Zusammenspiel von kognitiven und sozialen Prozessen verstanden werden. Sie vollzieht sich im kognitiven System eines lernenden Individuums, findet aber immer in einem sozialen Umfeld statt und ist dadurch unterschiedlichen Außeneinflüssen ausgesetzt. Jeder Fremdsprachenlehrende weiß: Was im Unterricht gelehrt wird, wird nicht unbedingt auch gelernt. Vieles wird erst deutlich später gelernt, bestimmte Fehler (vor allem in der Grammatik) treten lange Zeit auf und verschwinden plötzlich wieder. Und anderes wird gelernt, das gar nicht im Fokus des Unterrichts stand.

FEHLER ALS UNVERMEIDBARE ZWISCHENSTUFEN

Egal wie gut die Regel erklärt und wie intensiv die Sprachstrukturen geübt werden: Bestimmte Grammatikfehler tauchen im Unterricht immer wieder hartnäckig auf. Auch wenn Grammatikübungen gelingen, werden beim freien Sprechen und Schreiben oft trotzdem Fehler gemacht. Viele Untersuchungen haben nachgewiesen, dass bestimmte kerngrammatische Strukturen nur in einer bestimmten Erwerbssequenz, in unveränderbaren Phasen, gelernt werden – und erst dann, wenn die Lernenden "reif" dafür sind, also andere Strukturen bereits erworben haben, die den Erwerb der neuen Struktur voraussetzen. In solchen Phasen tauchen dann bestimmte, ganz typische Fehler auf. Es spielt dabei keine Rolle, welche Erstsprache die Lernenden haben.

Leider sind die Erkenntnisse dieser Forschungsergebnisse auf bestimmte Bereiche der Grammatik begrenzt – allerdings auf sehr interessante, nämlich auf solche, die häufig damit in Verbindung gebracht werden, dass Deutsch als schwere Sprache gilt! So ist sehr gut belegt, dass insbesondere die fehleranfällige Verbzweitstellung im Hauptsatz, Inversion und die Verbendstellung im Nebensatz im Rahmen von Erwerbssequenzen gelernt werden. Auch für den Erwerb von Kasus, Adjektivdeklination und Verbmorphologie gibt es ähnliche Hinweise, wenn auch noch nicht durch viele Studien belegt.

Welche Schlussfolgerungen aus solchen Forschungsergebnissen für den Unterricht gezogen werden sollten, ist umstritten. Explizites Grammatiklernen als reine Zeitverschwendung einzustufen, dürfte angesichts der nur für einige Bereiche vorliegenden Befunde jedenfalls ungerechtfertigt sein. Es sollte aber zumindest zur Kenntnis genommen werden, dass Fehler unvermeidliche Zwischenstufen erfolgreichen Spracherwerbs darstellen. Man könnte aus solchen Forschungsergebnissen auch die Schlussfolgerung ableiten, dass man die knappe Unterrichtszeit stärker für andere Sprachbereiche (vor allem für Lexik) und Inhaltsbereiche (zum Beispiel Landeskunde) nutzen sollte.

LERNEN DURCH SPRECHEN UND INTERAKTION

Ohne sprachlichen Input in angemessenem Schwierigkeitsgrad kann kein Sprachenlernen stattfinden. Nach neuestem Kenntnisstand ist es aber nicht genug. Notwendig ist darüber hinaus, dass Lernende die Sprache beim Sprechen und Schreiben, also in der Sprachproduktion anwenden. Von besonderer Bedeutung ist die mündliche Interaktion beispielsweise zwischen Lehrenden und Lernenden, Muttersprachlern und Nichtmuttersprachlern oder Nichtmuttersprachlern untereinander. So kann Unverstandenes zwischen den Interaktionspartnern geklärt werden, gegenseitiges Verständnis kann „ausgehandelt“ und Kommunikationshürden können so überwunden werden. Es finden Feedback- und Reparaturprozesse, Verständnisüberprüfungen, Klärungen und Umformulierungen statt, womit Input modifiziert und potenziell verstanden und dann vom Lernenden angewendet werden kann. Es gibt Hinweise, dass gerade die Verwendung der Fremd- oder Zweitsprache den Lernenden dazu zwingt, vorhandenes grammatisches Sprachwissen tatsächlich auch anzuwenden und zu erweitern: Insbesondere wenn Äußerungen produziert und nicht nur verstanden werden müssen, sind Lernende z.B. gezwungen, Worte in eine funktionale Reihenfolge zu bringen – wobei sie auf ihr vorhandenes Sprachwissen zurückgreifen, dies anwenden und im Idealfall automatisieren.

Auf die Interaktionsqualität kommt es an! Bei DaF und DaZ!

Gerade für das Lernen des Deutschen als Fremdsprache (DaF) kommt der Unterrichtsinteraktion eine besondere Bedeutung zu, denn in vielen Regionen der Welt ist mündliche Interaktion hier nur eingeschränkt oder fast nur im Fremdsprachenunterricht möglich. DaF-Unterricht ist aber häufig durch sehr hohe Redeanteile der Lehrkraft und Gesprächsmuster geprägt, in denen Lernenden zu wenig Spielräume für eigene mündliche Sprachproduktionen geschweige denn für freies Sprechen bleiben. Gleichzeitig beeinflussen Hemmungen und weitere personale Variablen das Ausmaß, in dem Lernende die fremde Sprache in der Interaktion einsetzen. Fremdsprachenlehrkräfte tendieren dazu, große Teile des unterrichtlichen Diskurses zu kontrollieren und weisen damit Lernenden viel zu häufig eine passive und rein reaktive Rolle zu. Es sind folglich Anstrengungen nötig, um DaF-Lernende im Unterricht deutlich mehr zu Wort kommen zu lassen. Hierzu ist es unter anderem hilfreich, mehr und offen(er) von den Lernenden zu gestaltende Interaktionsmöglichkeiten zu schaffen.

Lernende des Deutschen als Zweitsprache (DaZ) hingegen haben theoretisch vielfältige Möglichkeiten, die Sprache in ihrem Umfeld zu erleben, anzuwenden und quasi „auf der Straße“ zu erlernen. Dass aber allein das potenziell verfügbare Angebot nicht automatisch zu erfolgreichem Spracherwerb führt, ist in den deutschsprachigen Ländern, die Einwanderungsländer geworden sind, inzwischen offensichtlich. Hierfür können eine Reihe von Faktoren erklärend herangezogen werden, darunter das Ausmaß und die Qualität der Kontakte zu Deutsch-Muttersprachlern. Neuere soziokulturelle Ansätze helfen, den Gesamtkontext besser zu verstehen. So wurde in Studien aufgezeigt, dass es Migranten in der Regel nicht an der Motivation mangelt, die Zweitsprache zu lernen. Vielmehr reduzieren mangelnde gesellschaftliche Teilhabe, Chancenungerechtigkeit und vergleichsweise schlechtere sozioökonomische Rahmenbedingungen die Interaktionsmöglichkeiten, so dass Migranten nicht „zur Sprache kommen“.

AUFMERKSAMKEITSLENKUNG UND FEHLERKORREKTUR

Seit in der Zweitsprachenerwerbsforschung Anfang der 1980er Jahre die Unterscheidung zwischen bewusstem „Lernen“ („learning“) und unbewusstem „Erwerb“ („acquisition“) eingeführt wurde, wird eine Diskussion um die Relevanz bewusster Lernprozesse geführt. Die Forschungsergebnisse dazu sind heterogen und kontrovers. Unbestritten ist inzwischen, dass innerhalb und außerhalb gesteuerter Unterrichtsprozesse sowohl bewusstes als auch unbewusstes Lernen stattfindet, das oft auch als „beiläufiges“ Lernen bezeichnet wird. Unterschiedliche Studien geben Hinweise darauf, dass Bewusstheit und Interaktion zusammenspielen: Interaktion fördert den Spracherwerb, weil dadurch die Aufmerksamkeit des Lernenden auf spezifische, noch zu lernende Merkmale der Fremd- oder Zweitsprache gerichtet werden. Laut dieser kognitiv-interaktionistischen Ansätze hat Input vor allem dann Chancen, gelernt zu werden, wenn er tatsächlich auch „wahrgenommen“ wird. Dies geschieht zum Beispiel dann, wenn Lernende in der Interaktion feststellen, dass ihre eigene verwendete Lernersprache sich in spezifischen Aspekten vom Sprachgebrauch ihrer Gesprächspartner unterscheidet. Dies geht aber nicht unbedingt mit einem Erkennen oder Verstehen eines allgemeinen Prinzips oder einer grammatikalischen Regel einher.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Effektivität von Fehlerkorrekturen, etwa in der Unterrichtsinteraktion. Unumstritten ist, dass Feedback und Reparaturen grundsätzlich das Sprachenlernen fördern. Allerdings häufen sich die Hinweise aus der Forschung, dass dies nicht auf jede Form der Fehlerkorrektur zutrifft. So bleibt die von der Fremdsprachendidaktik häufig favorisierte, weil als gesichtswahrend eingeschätzte, implizite mündliche Fehlerkorrektur eher folgenlos, da ihre Wahrnehmung durch den Lernenden nicht sichergestellt ist. Bloße (beiläufige) Umformulierungen oder indirekte Korrekturen von Grammatikfehlern durch die Lehrperson führen also in der Regel nicht zum gewünschten Erfolg, denn Lernende richten ihre Aufmerksamkeit möglicherweise auf ganz andere Dinge und bemerken die Korrektur gar nicht.
Aber auch nicht jede explizite Fehlerkorrektur ist spracherwerbsförderlich: Die oben angesprochenen Erwerbssequenzen in einigen kerngrammatischen Bereichen können nicht durch unterrichtliche und andere Einflüsse variiert werden können, also auch nicht durch Fehlerkorrektur.
 

Literatur

Diehl, Erika; Christen, Helen; Leuenberger, Sandra; Pelvat, Isabelle; Studer, Thérèse: Grammatikunterricht: Alles für der Katz? Untersuchungen zum Zweitsprachenerwerb Deutsch. Tübingen: Niemeyer 2000.

Ellis, Rod; Shintani, Natsuko: Exploring Language Pedagogy through Second Language Acquisition Research. London/New York: Routledge 2014.

Hufeisen, Britta; Riemer, Claudia: „Spracherwerb und Sprachenlernen.“ In: Krumm, Hans-Jürgen; Fandrych, Christian; Hufeisen, Britta; Riemer, Claudia (Hrsg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft/HSK) Berlin/New York: de Gruyter, 2010, Bd. 1, 738–753.

Lightbown, Patsy M.; Spada, Nina : How Languages are Learned. Fourth Edition. Oxford: Oxford University Press 2013.

Schoormann, Matthias; Schlak, Torsten (2012): „Zum Vergleich mündlicher Korrekturstrategien im Zweit- und Fremdsprachenunterricht.“ In: Journal of Linguistics and Language Teaching 3/1, 15–59.



 

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