Wer von „Mehrsprachigkeit“ spricht, spricht von unterschiedlichen Phänomenen, die recht eng miteinander verknüpft, aber auf ganz unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Wie also definiert man Mehrsprachigkeit? Welche Faktoren sind wichtig? Oder gibt es sogar mehrere „Mehrsprachigkeiten“?
Abstract
Der Begriff der „Mehrsprachigkeit“ hat individuelle und gesellschaftliche, aber auch politische und institutionelle Aspekte. Entgegen landläufiger Vorstellungen laufen diese selten parallel. Vertreter mehrsprachiger Institutionen sind häufig selber nicht mehrsprachig; gesellschaftlich wird individuelle Mehrsprachigkeit oft sehr unterschiedlich eingeschätzt; und nur wenige Menschen verfügen über wirklich ausgeglichene Fertigkeiten in den verschiedenen Sprachen ihres Repertoires. Im nachfolgenden Beitrag wird vor allem die „individuelle Mehrsprachigkeit“ beleuchtet – die mehr ist als die Addition mehrerer Sprachen.
Mehrsprachigkeit hat verschiedene Dimensionen und kann unterschiedlich definiert werden.
„
Individuelle Mehrsprachigkeit“ etwa kennzeichnet Menschen, die sich in mehr als einer Sprache zu verständigen wissen – seien es Berühmtheiten wie der Schriftsteller Elias Canetti oder Personen aus der alltäglichen Umgebung wie Kinder aus Einwandererfamilien, die zu Hause die Herkunftssprache benutzen, in der Schule die Unterrichtssprache sprechen und außerdem mindestens eine Fremdsprache erlernen (vgl. auch Wandruszka 1981).
„
Soziale Mehrsprachigkeit“ liegt vor, wenn sich Sprachen in einer Gesellschaft unterschiedliche Funktionen teilen wie im Schweizer Kanton Graubünden, wo Deutsch, Rätoromanisch (und Italienisch) zwar theoretisch gleichberechtigte Amtssprachen sind, aber Rätoromanisch und Italienisch aufgrund der allgemeinen Zweisprachigkeit der Minderheiten in vielen Situationen von Deutsch dominiert werden („Polyglossie“). In modernen Großstädten leben Sprecher unterschiedlicher Sprachen oft nebeneinander, ohne dass ihre Sprachen funktionell getrennt wären („Heteroglossie“).
Dem gegenüber bezeichnet der Begriff der „
territorialen Mehrsprachigkeit“ politische Räume, die in mehr oder weniger einsprachige Sprachräume unterteilt sind, wie in Belgien mit Flämisch, Französisch und Deutsch.
Von „
institutioneller Mehrsprachigkeit“ spricht man, wenn Institutionen oder Organisationen ihre Dienste in verschiedenen Sprachen anbieten, etwa die UNO, die EU oder die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB).
DEUTSCHLAND SPRICHT VIELE SPRACHEN
Ein „Motor“ für verschiedene Formen der Mehrsprachigkeit ist Migration. In allen wirtschaftlich hoch entwickelten Staaten der Welt ist diese Zuwanderung nicht nur normal, sondern auch notwendig und erwünscht, so auch in Deutschland. Hier hat sie zu individueller und sozialer Mehrsprachigkeit geführt. Die Gesellschaft Deutschlands ist mehrsprachig: Die Zuwanderer haben ihre Sprachen mitgebracht und setzen sie im Alltag auch ein. Wie viele Sprachen in Deutschland tatsächlich gesprochen werden, ist unbekannt: Eine zuverlässige Statistik gibt es nicht.
In Deutschland ist die „soziale Mehrsprachigkeit“ eine allgemeine Bildungsbedingung, denn Kinder oder Jugendliche, die in zwei oder mehr Sprachen leben, sind in fast jeder Schulklasse im Lande anzutreffen. Zudem ist die Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit bildungspolitisch erwünscht. Wie alle Mitgliedsländer der Europäischen Union, so hat sich auch Deutschland zum Bildungsziel Dreisprachigkeit verpflichtet: In den Schulen Europas sollen alle Jugendlichen mindestens zwei Sprachen neben der Hauptsprache jenes Landes erlernen, in dem sie leben. Man ist sich darüber einig, dass Englisch eine dieser Sprachen sein soll – aber für die weiteren Sprachen sind keinerlei Einschränkungen gemacht. Mit den mitgebrachten Sprachen der Migranten steht ein großes Potenzial für das weitere Sprachenangebot zur Verfügung.
INDIVIDUELLE MEHRSPRACHIGKEIT
Rein funktional wird individuelle Mehrsprachigkeit als Fähigkeit definiert, in mehreren Sprachkontexten zu kommunizieren – und dies unabhängig davon, auf welche Weise die beteiligten Sprachen erworben oder wie gut sie beherrscht werden. Danach sind die Betroffenen weder von Geburt an, noch „perfekt“ mehrsprachig. Mehrsprachig ist sowohl der marokkanische Zuwanderer, der neben seinem arabischen Dialekt auch etwas Französisch und Deutsch spricht, als auch die Konferenzdolmetscherin, die ihre drei Mutter- oder Erstsprachen Englisch, Deutsch und Französisch souverän als Arbeitssprachen verwendet. Zweisprachigkeit, d. h. die Fähigkeit, in zwei Sprachkontexten zu kommunizieren, stellt einen Grenzfall von Mehrsprachigkeit dar und wird im Folgenden darunter subsumiert.
Im Kontext von Bildung und Erziehung hat sich eine Unterscheidung in „lebensweltliche“ und „fremdsprachliche“ Mehrsprachigkeit bewährt. „
Lebensweltliche Mehrsprachigkeit“ bedeutet, dass ein Mensch im Alltag in mehr als einer Sprache lebt. Ein Kind, das lebensweltlich mehrsprachig aufwächst, eignet sich die verschiedenen Sprachen seiner Lebenswelt genauso an, wie ein einsprachig aufwachsendes Kind, das eine Sprache erwirbt. Im Unterschied dazu liegt „fremdsprachliche Mehrsprachigkeit“ vor, wenn Menschen Fremdsprachen im Unterricht lernen, obwohl sie in ihrem Alltag nur eine Sprache gebrauchen.
MEHRSPRACHIGKEIT ALS GESAMTSYSTEM
Individuelle Mehrsprachigkeit wird oft auch „Plurilingualität“ genannt (Beacco, Byram 2002). Im gleichen Sinne spricht man auch von „Multikompetenz“. So soll herausgestellt werden, dass sie mehr ist als eine Art „mehrfache Einsprachigkeit“, also mehr als die Addition mehrerer Einzelsprachen, die selbständig und unbeeinflusst nebeneinander existieren. Tatsächlich funktioniert individuelle Mehrsprachigkeit als Gesamtsystem („one connected system, rather than each language being a separate system“; Cook 2008), bei dem die Elemente der einzelnen Sprachen miteinander interagieren und aufeinander einwirken. Gemeinsam bilden sie eine einzige „integrierte Kompetenz“.
Konkret besteht ein mehrsprachiges Repertoire aus einer Menge von sprachlichen und multimodalen, also unterschiedliche Sinneskanäle nutzenden Ressourcen. Diese werden von den Sprechern zur Problemlösung situationsbezogen aktiviert – zum Beispiel innerhalb mehrsprachiger Teams am Arbeitsplatz, wo die Akteure gleichzeitig auf unterschiedliche Sprachen, Bilder und Gesten zurückgreifen können, um sich optimal zu verständigen. Wie bei einem Baukasten, sind diese Bestandteile zum Teil gleichsam vorfabriziert und aus dem Gedächtnis abrufbar. Teils werden sie aber auch spontan und kreativ neu gebildet (Lüdi, Py 2009).
Derartige Beobachtungen haben zahlreiche Implikationen für den Unterricht. Zum einen gilt es, die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit in den Klassenzimmern in verschiedenster Hinsicht zu berücksichtigen. So ist Deutschunterricht oft nicht von der Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache zu trennen. Zum andern müssen sich alle Lehrkräfte der Herausforderung bewusst werden, dass sie die Schülerinnen und Schülern zu deren und der Gesamtgesellschaft Wohl bei der Herausbildung mehrsprachiger Repertoires zu unterstützen haben und deshalb auch die Entwicklung der Erstsprachen fördern oder zumindest respektieren sollten.
Literatur
Beacco, Jean Claude; Byram, Michael: Guide for the development of language education policies in Europe. From linguistic diversity to plurilingual education. Strasbourg: Council of Europe, Language Policy Division 2002.
Canetti, Elias: Die gerettete Zunge. München - Wien: Carl Hanser Verlag 1977.
Cook, Vivian: Second Language Learning and Language Teaching. London, Arnold 2008.
Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen (CEFR)
https://europass.europa.eu/de/what-common-european-framework-languages-cefr
Lüdi, Georges; Py, Bernard: "To be or not to be … a plurilingual speaker". International Journal of Multilingualism 6/2 2009, 154-167.
Wandruszka, Mario: Die Mehrsprachigkeit des Menschen. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1981.