Mehrsprachige Menschen erwerben jene Sprachen, die sie beherrschen, zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Biografie – und in verschiedenen Kontexten wie Familie, Schule oder beim Sprachaufenthalt. Damit erwerben sie nicht nur kommunikative Fertigkeiten, sondern entwickeln auch ihre Persönlichkeit. Vor allem Kindern bringt Mehrsprachigkeit vielfache Vorteile.
Abstract
Mehrsprachigkeit ist eine Chance. Um sie zu nutzen, müssen Mehrsprachige lernen, die Brücken zwischen ihren Sprachen auszunutzen – und diese Sprachen gleichzeitig zu trennen. Sie müssen aber auch – wie ihre Umgebung – lernen, die Zeichen ihrer Mehrsprachigkeit als positive Fähigkeiten zu begreifen, die in bestimmten Konstellationen hilfreich sind. So entsteht eine mehrsprachige Persönlichkeit, die in ihrer Entwicklung viele Dinge besser erlernen kann, kreativer und reflexiver ist. Auch die Bildungspolitik ist in der Pflicht, die Chancen zu fördern, die in der Mehrsprachigkeit liegen.
Viele Menschen lernen gleichzeitig oder nacheinander mehrere Sprachen. Dies geschieht umso effektiver, je mehr es ihnen gelingt, die Kenntnisse in den einzelnen Sprachen nicht getrennt zu halten, sondern zu koordinieren, also die Beziehungen zwischen den zu erlernenden Sprachen maximal auszunutzen. Namentlich im Fremdsprachenunterricht gilt es, diese „mehrsprachige Erwerbskompetenz“ – also die Fähigkeit der Lernenden, Brücken zwischen den Sprachen zu errichten und eine integrative Kompetenz aufzubauen – auszunutzen (Bono 2008; Bono, Stratilaki 2009).
MEHRSPRACHIGKEIT MUSS ERNSTGENOMMEN WERDEN
Allerdings wird im Alltag häufig in Einzelsprachen kommuniziert. Für Mehrsprachige besteht die Herausforderung darin, die gesprochenen Sprachen zu trennen, also aus der Multikompetenz nur jene phonetischen, grammatikalischen, lexikalischen und pragmatischen Elemente zu mobilisieren, die zur jeweils gesprochenen Sprache passen. Dies ist nicht immer ganz einfach und hinterlässt Spuren wie einen Akzent, grammatikalische Anleihen bei der anderen Sprache oder auch die Übertragung von mimischen oder gestischen Ausdrucksgewohnheiten von einer in die andere Sprache.
Diese „Auffälligkeiten“ führen oft zu einer negativen Beurteilung von Mehrsprachigkeit. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass dies zumeist gar nichts mit der eigentlichen Mehrsprachigkeit zu tun hat, sondern ein Ergebnis von sozialer Bewertung und historisch überkommenen Normen ist. Wenn das Kind eines französischen Diplomaten einen starken französischen Akzent in der deutschen Sprache aufweist oder eine vom Französischen beeinflusste Grammatik erkennen lässt, macht sich niemand Sorgen. Diese Form der Mehrsprachigkeit wird als Chance betrachtet, der Akzent im Zweifel als „nett“ oder „interessant“ empfunden. Beim Kind eines ungelernten Arbeiters aus Marokko, in dessen Familie Französisch und marokkanisches Arabisch gesprochen werden, gelten die gleichen Merkmale als Zeichen für eine gefährdete Sprachentwicklung. In diesen Fällen gilt das Leben in mehreren Sprachen nicht als Vorteil, sondern als Risiko.
Dieser Einfluss von Traditionen, Gefühlen und Werthaltungen erschwert den sachgemäßen Umgang mit Mehrsprachigkeit im Bildungskontext, aber auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, enorm. Zwar wirkt sich das soziale und ökonomische Umfeld eines Kindes – insbesondere der Bildungsstand der Familie – tatsächlich auf dessen sprachliche Entwicklung aus. Dies aber gilt unabhängig davon, ob ein Kind ein- oder mehrsprachig aufwächst. In der Mehrsprachigkeit selbst liegen eher Chancen als Risiken – vorausgesetzt, dass sie als Teil der Existenz und als Bildungsvoraussetzung gleichermaßen ernst genommen wird.
KREATIVITÄT UND REFLEXION
In der Tat legen viele Studien nahe, dass harmonisch gelebte Mehrsprachigkeit für das Individuum und für die Gesellschaft erhebliche Vorteile bietet. Dies gilt zum Beispiel für Kreativität und Leistungsfähigkeit. Ein Expertenteam der EU kam 2009 zum Schluss, dass „Mehrsprachigkeit eine höhere Anzahl von neuronalen Verbindungen zur Folge“ habe. Sie „stimuliert vielfältige interneuronale Netze innerhalb und zwischen den Hirnhälften, welche zu einer ausgeprägteren Fähigkeit führen, neue (kreative und innovative) Prozesse zu generieren“ (Compendium 2009: 19).
Ein Vorteil für die sprachliche und geistige Entwicklung des Kindes besteht demnach darin, dass Mehrsprachigkeit die Aktivierung wertvoller kognitiver Fähigkeiten unterstützt. Mehrsprachig lebende Kinder sind früher und intensiver als einsprachige gezwungen, über ihren Sprachgebrauch „nachzudenken“ und Entscheidungen über die Wahl einer der ihnen zur Verfügung stehenden Sprachmöglichkeiten zu treffen. Dies trainiert ihre sprachlichen und geistigen Fähigkeiten in besonderer Weise. So sind mehrsprachige Kinder früher und besser als einsprachige Kinder imstande, den Sinn von Äußerungen und die Form derselben auseinanderzuhalten. Sie verfügen aus ihrer alltäglichen Sprachpraxis heraus über „metasprachliche Fähigkeiten“, also ein Wissen über Sprache und ihre Funktionsweisen, das eine gute Voraussetzung für das Lernen in der Schule ist.
Dies sorgt nicht zuletzt beim Lesen- und Schreibenlernen für bessere Startbedingungen. Denn dabei geht es zunächst vor allem darum zu begreifen, dass das Lautsystem und das Schriftzeichensystem unterschiedlichen Regeln folgen. Man „hört“ nicht, wie man schreibt: Um schreiben zu können, muss man die Konventionen kennen, nach denen in einer bestimmten Sprache etwas Gesprochenes aufgeschrieben wird. Solche Unterschiede zu erfassen: Dafür sind Kinder, die mehrsprachig aufwachsen und leben, besonders gut gerüstet (Bialystok, Poarch 2014; Gogolin 2014).
DER „DRITTE RAUM“
Man kann demnach davon ausgehen, dass mehrsprachige Menschen über eine größere kognitive Flexibilität verfügen, weil sie in unterschiedlichen sprachlichen Perspektiven auf die Welt schauen und diese Welt über verschiedene sprachliche „Werkzeuge“ verstehen können. Ihre erhöhte Kreativität findet in jenem von Homi Bhabha (1988, 1994) konzeptualisierten „dritten Raum“ oder „in-between space“ statt, wo zwei oder mehrere Sprachen, Denkweisen und Kulturen sich begegnen.
Die positiven Folgen der Mehrsprachigkeit ergeben sich freilich nicht von selbst: Sie setzen voraus, dass — namentlich migrationsbezogene — Mehrsprachigkeit gesellschaftlich anerkannt und bildungspolitisch gefördert wird.
Wenn man die Mehrsprachigkeit tatsächlich ernst nehmen will, heißt dies für die Schule zudem, die Spuren einer Multikompetenz wie einen Akzent oder lexikalische Transfers nicht zu verdammen, sondern als Indizien einer reichen Persönlichkeit zu verstehen — und gleichzeitig den Betroffenen zu helfen, in einsprachigen Situationen die jeweils anderen Sprachen auszublenden.
Literatur
Bhabha, Homi K.: The location of culture. New York: Routledge 1994.
Bialystok, Ellen; Poarch, Greg J.: "Language experience changes language and cognitive ability". Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 17 (3) 2014, 433–446.
Bono, Mariana; Stratilaki, Sofia: "The M–factor, a bilingual asset for plurilinguals? Learners’ representations, discourse strategies and third language acquisition in institutional contexts". International Journal of Multilingualism 6 (2) 2009, 207–227.
Bono, Mariana: Ressources plurilingues dans l’apprentissage d’une troisième langue : aspects linguistiques et perspectives didactiques. Paris, Thèse de l’Université Paris III 2008.
Compendium: Study on the Contribution of Multilingualism to Creativity. Compendium Part One: Multilingualism and Creativity: Towards an Evidence-base. Brussels, European Commission 2009.
Gogolin, Ingrid: „Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen im Bildungskontext“. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 17 (3) 2014, 407–432.
Page, Scott E.: The difference: How the power of diversity creates better groups, firms, schools, and societies. Princeton, NJ: Princeton University Press 2007.