Mehrsprachigkeit: Mehrsprachigkeit im Alltag
Sprachenmix und Sprachenwechsel

Sprachenmix und Sprachenwechsel Sprachenmix und Sprachenwechsel | Illustration: Melih Bilgil

In der Großstadt, aber auch in Sprachgrenzgebieten verwenden Menschen im Alltag besonders oft mehrere Sprachen in einer Äußerung. Aber was bedeutet dies im konkreten Fall? Und verläuft gelebte Mehrsprachigkeit tatsächlich so „chaotisch“, wie oftmals angenommen? Oder sind sprachliche Mischphänomene nicht vielmehr ganz „normal“?

Abstract

Im Alltag äußert sich Mehrsprachigkeit sehr vielfältig: Mal wechseln die Sprecher zwischen den beherrschten Sprachen hin und her, mal stellen sie einen Sprachmix her. Eine besondere Rolle kommt dabei der Nutzung der offiziellen Landessprache oder einer Verkehrssprache wie Englisch als „Lingua franca“ zu. Für die meisten Sprecher sind dies mehr oder weniger gut beherrschte Fremdsprachen, oft durchsetzt mit Elementen anderer Sprachen: also im Grunde genommen „hybride Kontaktvarietäten“.

Ob ein Sprecher im Alltag mehrere Sprachen abruft oder abrufen kann, hängt von den Kenntnissen der am Gespräch beteiligten Personen (ihren „Sprachprofilen“) ab (Mondada 2001, Pekarek Doehler 2005), aber auch von gesellschaftlichen Gewohnheiten. In jenen Situationen, in denen nur eine einzige Sprache angemessen ist, müssen mehrsprachige Sprecher alle anderen Ressourcen vorübergehend ausblenden. Unter Mehrsprachigen ist die Sprachenwahl flexibler, kann von der einen in die andere Sprache gewechselt werden.

In allen Fällen geht es darum, das Beste aus den vorhandenen Möglichkeiten zu machen, kreativ tätig zu sein, gleichsam mit den sprachlichen Fähigkeiten zu spielen. Dabei werden auch gewisse Risiken eingegangen (Lüdi, Py 1986: 63–68): Vor allem, wenn die mehrsprachigen Kommunikationspartner nicht im Gedächtnis vorfabrizierte Formen nutzen, sondern abseits der traditionellen Wege innovative neue Ausdrucksmöglichkeiten in der Verwendung von „Mischsprachen” erkunden.

Dies kann in Extremsituationen, beispielsweise an einem Bahnschalter zwischen einem Schweizer Schalterbeamten und einem brasilianischen Kunden, zu solchen Dialogen führen:

Kunde             =<duos passagem para Freiburg deutsch>.
Beamter           Freiburg Deutschland jä okey. ((lange Pause))
voilà, si vous faire la carte à la machine? oui. (3) va bene.
(...)
Beamter           voilà. il prossimo treno (.) binario cinco hm? dodici diciotto.
Kunde             merci. obrigado.
Beamter           bitteschön. service
Kunde             obrigado (h)
Beamter           molto grazio. ((sic))

DER „SPRACHLICHE MARKT“

Gegen solchen Sprachenmix steht die in Grammatiken fixierte „präskriptive“, also vorgeschriebene Normung von Sprache, wie sie in der Schule vermittelt wird. Sie dient nicht selten dazu, die „Spreu vom Weizen zu trennen“, sprich: das „einfache“ Volk inklusive der Migranten von den einheimischen Eliten abzugrenzen. In Deutschland hat der Begriff der „Sprachpflege“, der auf der Idee von einem „richtigen“ und „guten“ Gebrauch der Sprache basiert, eine bis ins 17. Jahrhundert zurückreichende Tradition (vgl. schon Ermahnung an die Deutschen. Von deutscher Sprachpflege von Gottfried Wilhelm Leibniz). Auch wenn die Vorstellung der „Sprachpflege“ etwas Mythisches hat, dient sie gebildeten Sprechern doch nicht zuletzt dazu, ihre selbstverständliche Zugehörigkeit zur kulturell dominierenden Schicht zu belegen. Angehörige anderer Schichten bedienen sich seiner, um ihren Aufstiegswillen zu manifestieren.

Bei Gesellschaften, in denen Menschen über Sprache um Anerkennung und Teilhabe ringen, spricht der Soziologe Pierre Bourdieu von einem „sprachlichen Markt“, auf dem die höchstgeschätzte Sprachvarietät als „legitime Sprache“ fungiert (Bourdieu, 1982): Sie wird von allen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft stillschweigend beste und wertvollste anerkannt. Dies gilt sogar – und gerade auch – für jene, die ihrer selber nicht oder nur unvollständig mächtig sind. Im Rahmen eines von Dialekten, Soziolekten, Registern und Mischsprachen geprägten Raums gilt die „legitime Sprache“ also nicht als eine Varietät unter anderen, sondern als die Sprache schlechthin.

Im Rahmen solcher Modelle gilt der Sprachgebrauch der Mitglieder sozialer Unterschichten als defizitär (Bernstein 1971). Obwohl diese vereinfachte Lesart schon von Bernstein selbst nicht lange vertreten wurde, hält sie sich hartnäckig im allgemeinen Verständnis.  Für die Mehrsprachigkeit von Zuwanderern und ihrer Kinder ergibt sich daraus eine unrealistisch hohe Messlatte für beide Sprachen; entsprechend wird deren individuelle Mehrsprachigkeit im Alltag vielfach noch heute gering geachtet.

DER NORMIERTE SPRACHENMIX

Dem gegenüber hat die neuere Forschung gezeigt, dass der Einsatz mehrsprachiger Ressourcen nicht nur statistisch gesehen sehr häufig ist, sondern auch keineswegs so „chaotisch” verläuft, wie dies von normgläubigen Kritikern oft moniert wird. Vielmehr folgt er „mehrsprachigen Normen (Jessner, 2008). Wenn ein spanischer Migrant in der französischen Schweiz seinem Gesprächspartner „Vamos a la gare“ zuruft und damit ein spanisches Verb mit einem französischen Substantiv kombiniert (wobei der Artikel in beiden Sprachen identisch ist), dann nicht in erster Linie, weil ihm das spanische Pendant („estación“) nicht in den Sinn kommt, sondern weil „gare“ und „estación“ zwei völlig unterschiedlichen Erlebnissphären – hier: der Treffpunkt der Migranten in Neuchâtel, dort: die Abreise oder Ankunft in der spanischen Heimat – entspringen. Aber auch der Deutschschweizer Lehrling, der von seinem Arbeitsplatz sagt: „il y a de grands mast de stahl“, folgt einer eigentlichen Grammatik des so genannten Code-switching, wenn er das französische Wortbildungsmuster aufgrund von Lücken im Wortschatz mit deutschem lexikalischem Material auffüllt.

Diese Formen der „mehrsprachigen Rede“ entsprechen abgelagerten, wenn auch nie ganz stabilen und unter Mehrsprachigen ständig neu ausgehandelten Mustern. In der englischsprachigen Literatur wird in solchen Fällen von „plurilanguaging” gesprochen (García 2008, Pennycook 2010). Entgegen dem allgemeinen Verständnis zeigt sich dieses Phänomen auch dort, wo Nicht-Muttersprachler untereinander eine „lingua franca“ benutzen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn deutsche und italienische Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler untereinander Englisch sprechen, aber auch, wenn Zuwanderer unterschiedlicher Herkunft am Arbeitsplatz ihre Zweitsprache Deutsch verwenden. Eine „Lingua franca“ ist also nicht anderes als eine mehr oder weniger hybride Kontaktvarietät, die eine erfolgreiche Kommunikation ermöglicht, aber nicht mit „Queen's English“ oder dem Hochdeutsch von Muttersprachlern verwechselt werden darf. Die Erforschung dieser Varietäten gehört im weiten Sinne zum Gegenstandsbereich der Mehrsprachigkeitsforschung (Hülmbauer, Seidlhofer 2013; Siemund 2013).

Über die Aneignung von Mehrsprachigkeit, die sprachliche Alltagspraxis mehrsprachiger Menschen und die aus dem Sprachkontakt entstehenden Besonderheiten liegt schon reichlich Forschung vor. Über die Zusammenhänge von Mehrsprachigkeit, sprachlicher Bildung und Bildungserfolg hingegen sind bislang nur wenige Erkenntnisse vorhanden. Dies wird sich wohl bald ändern: 2014 hat ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderter Forschungsschwerpunkt zum Thema „Sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit“ seine Arbeit aufgenommen und lässt interessante Ergebnisse erwarten.

Grundsätzlich haben diese Beobachtungen zur Mehrsprachigkeit im Alltag viele Implikationen für den Unterricht. Insbesondere gilt es, Formen von Sprachmischung als das zu nehmen, was sie sind: Ein ganz normales Sprachverhalten von Mehrsprachigen, um kommunikativ erfolgreich zu sein. Wer akzeptiert, dass jede „Lingua franca“ eine Form von Sprachenmix darstellt, wird deshalb akzeptieren, dass der Unterricht in Deutsch als Zweitsprache keine „perfekte“ Zweisprachigkeit erzeugt und das Deutsch der Zuwanderer Spuren anderer Sprachen enthält.
 

Literatur

Bernstein, Basil: Class, Codes and Control (3 vol.). London, Routledge & Kegan, 1971-1973.

Bourdieu, Pierre: Langage et pouvoir symbolique. Paris, Fayard 1982.

García, Ofelia: Bilingual Education in the 21st Century: A Global Perspective. Oxford, Wiley-Blackwell 2008.

Hülmbauer, Cornelia; Seidlhofer, Barbara: “English as a lingua franca in European multilingualism” In: Berthoud, A.-C., Grin, F. & Lüdi, G. (eds.): Exploring the Dynamics of Multilingualism. Results from the DYLAN Project. Amsterdam, John Benjamins 2013, 387-406.
 
Jessner, Ulrike: “Teaching third languages: findings, trends and challenges. State-of-the-Art Article”, Language Teaching 41/1 2008, 15–56.
 
Leibniz, Gottfried Wilhelm: Ermahnung an die Deutschen. Von deutscher Sprachpflege. Unv. Nachdruck der Ausgabe von 1916. Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft 1967.
 
Lüdi, Georges; Py, Bernard: Etre bilingue. 4e éd. revue, avec une postface. Berne/Francfort 1986, 2012, Lang.
 
Mondada, Lorenza: “Pour une linguistique interactionnelle”, Marges linguistiques 1 (2001), 142-162.

Pekarek Doehler, Simona: “De la nature située des compétences en langue” In: J.-P. Bronckart, Bulea, E., & Puoliot, M. (Eds.). Repenser l’enseignement des langues: comment identifier et exploiter les compétences? Villeneuve d’Ascq: Presses universitaires du Septentrion 2005, 41-68.

Pennycook, Alastair: Language as a Social Practice. New York, Routledge 2010.
 
Siemund, Peter: Varieties of English. A Typological Approach. Cambridge, CUP 2013.


 

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