Gesellschaft Mutter geht wieder weg

Wie viele Male musste Nana Vera sie anrufen, um sie daran zu erinnern, dass sie deine Mutter war?
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Ein Artikel, der in Zusammenarbeit mit dem queer-feministischen Magazin Cutra entstanden ist.
Geschrieben von Sașa Zare
Illustrationen von Yanna Zosmer
 

Von Sașa Zare

Camelias Frage erschüttert mich. In der Mitte des Couchtisches zwischen uns steht eine Wasserkanne. Eine weiße Serviette bedeckt sie. Meine Sitzung ist die erste des Tages und Camelia sagt mir, dass sie die Serviette am vorigen Abend daraufgesetzt hat, damit kein Staub ins Wasser dringt. Ich mag Therapiesitzungen am Morgen. Ich mag es, aufzustehen, zu duschen, einen langen Kaffee zu brühen, den ich dann in der metallischen Thermosflasche mit lila Deckel gieße, meine Wasserflasche zu füllen, aus der ich sowieso nicht trinken werde, weil Camelia ja Wasser hat – was aber, wenn ich auf dem Weg durstig werde? –, mich anzuziehen, meine Tasche zu holen, meine Sportschule anzuziehen und die dreiundzwanzig Minuten von meiner Mietwohnung bis zum alten Haus mit hohen Decken und der Schneckentreppe, von der mir ein bisschen schwindlig wird, wenn ich sie zu schnell besteige, zu laufen, in dem sich ihre psychotherapeutische Praxis seit ein paar Jahren befindet.

Ich habe in unterschiedlichen Wohnungen und in unterschiedlichen Entfernungen von ihren Praxen gewohnt. In den ersten Jahren dauerte der Weg vierzig Minuten mit der U-Bahn. Die Praxis lag neben einem Park, in dem ich verloren gehen konnte, in dem ich zum See blicken und nachdenken konnte. Ich schaffte es niemals, in den Park spazieren zu gehen, jedoch war die Perspektive, es zu tun, irgendwie beruhigend. Die Wohnung lag im zehnten Stock und ich kann mich noch daran erinnern, dass ich Camelia alle paar Sitzungen fragte, was wir im Falle eines Erdbebens tun müssten, da wir keine Chance hatten, aus dem Wohnblock schnell genug zu fliehen. Ich weiß nicht, was sie mir normalerweise antwortete, vielleicht fragte ich auch nicht so oft, aber einmal sagte sie mir, dass sie eine Studie über diese Art von Wohnblocks gelesen habe: das Erdgeschoss und die höchsten Etagen seien ein wenig sicherer als der Rest. Angeblich würden die mittleren Etagen, die Unglücklichen, bei einem größeren Erdbeben zerquetscht werden.
Ich erinnerte mich an die Zeit, in der ich in einem Supermarkt arbeitete und jeden Morgen um sechs die Produktions- und Ablaufdaten der Torten ändern musste. Am fünften Tag fingen einige Torten an, kleiner, kompakter zu werden. Sie schienen in sich selbst hineinzufallen. Wenn man den Finger in diesen Torten reinsteckte - so wie ich es einmal aus Versehen tat -, fühlte man einen wässrigen klebrigen Schleim, das Herz der Torte war zu Dreck geworden. An diesen Torten dachte ich, als mir Camelia über die zerquetschten Wohnblocks erzählte. Ich befand mich auf dem Gipfel einer enormen, mit Menschen gefüllten Betontorte. Und ich hatte das Glück, die Kirsche auf der Torte und nicht deren Füllung zu sein.

Mittlerweile wurden sowohl der Abstand zwischen uns als auch die Praxis, immer angenehmer. Die Sitzungen am Morgen sind ein Ritual. Ich stehe auf, ziehe mich an, dusche, trinke meinen Kaffee, ziehe die Turnschuhe an, hole meine Tasche. Sehr selten, wenn ich zu spät aufstehe, kaufe ich mir einen Kaffee vom Geschäft im Erdgeschoss oder vom Nonstop-Markt an der Kreuzung. Dann gehe ich dreiundzwanzig Minuten lang zu Fuß. Ich denke daran, was ich in der Sitzung sagen werde. Ich setze meine Kopfhörer auf und schreite regelmäßig nach vorne. Manchmal halte ich an, um ein altes Haus, einen Innenhof oder einen Baum zu fotografieren, vom Licht, das auf ihnen fällt, angezogen. Manchmal mache ich mir im Geist eine Liste, ich zeichne mir eine mentale Struktur der Themen. Wenn es zu viele Themen für eine einzige Sitzung gibt, versuche ich nur eines oder zwei zu wählen. Ich wähle sie abhängig vom Druck der Situation, von ihrem emotionalen Gewicht, von ihrer Dringlichkeit. Ob ich mit dem Thema allein oder mit einer Freundin leicht fertigwerden kann, oder ob ich es während einer Therapiesitzung besprechen muss. Zum Beginn der Therapie war die Gegenwart häufig bedrückend und jede Sitzung begann mit einem Gefühl der Schwere und der Dringlichkeit. All das, was mir geschah, was zu heftig, überwältigend, das Leben schien eine ständige Krise ohne Ende zu sein. In der letzten Zeit habe ich angefangen, psychologische Optionen zu haben, nicht mehr nur auf Reizen zu reagieren, wählen zu können, bestimmte dringende gegenwärtige Situationen wegzulassen, mit denen ich schon fertigwerden kann. Therapie kommt, wenn man sie lange Zeit macht, mit diesen...Geschenken. Also versuche ich in manchen Sitzungen mich bewusst in den Dunkelkammern der Vergangenheit hinunterzugehen, in denen ich mich auf keinem Fall vorher begeben würde. Ich gehe in diesen Kammern hinunter, auch wenn das von keinem gegenwärtigen Reiz betätigt wird, ja insbesondere, wenn das von keinem gegenwärtigen Reiz betätigt wird. Es ist so, als ob man irgendwelche Schmerzen, eine beginnende Krankheit zu lindern versucht, bevor sie akut wird.

Während ich vorwärts schreite und meinen Kaffee an gleichen Schrittabständen trinke, denke ich an meiner Hausaufgabe. Meine Hausaufgabe war, mir einen sicheren Platz vorzustellen. Mir einen sicheren Platz vorzustellen, wohin ich jederzeit in meinen Gedanken fliehen kann, einen Ort, der mich an die Tatsache erinnert, dass ich zurzeit in Sicherheit bin, dass all diese Sachen fern von mir entfernt sind. Ein Ort fürs Da-sein. Ich stelle mir ein Haus vor, ein Haus in einem Gebirgsdorf. Das Haus ist klein, aber bequem. Hier wohne ich zusammen mit einer Reihe von kleinen Tieren - Katzen und Hunde. Ich habe ein Wohnzimmer mit einem riesigem Bücherregal, mit hübschen kleinen Lichtern, mit einer Couch mit zahlreichen Kissen und einer warmen und kuscheligen Decke. Ich bin von Büchern umgeben und mein Häuschen ist von anderen Häusern umgeben, in denen all meine Freundinnen wohnen. Ihre Liebe ist eine große, kuschelige Decke. 
Bevor wir über etwas anderes diskutieren, erzähle ich Camelia über dieses Haus. Am Anfang der Sitzung begeben wir uns zusammen dorthin. Ich will es haben, damit ich zu ihm jederzeit zurückkehren kann.

Wie viele Male musste Nana Vera sie anrufen, um sie daran zu erinnern, dass sie deine Mutter war?
Camelias Frage teilt mich in zwei. Auf einer Seite steht das kleine Mädchen. Ich eile zur ihrer Hilfe, ich habe sie immer geschützt.
Das arme Kind, es hat die urinverschmutzte Couch sieben Mal mit Vanish gewaschen, damit sich Mutti nicht aufregt, wiederholt Camelia sanft, mitfühlend, jedoch ohne Zweifel in ihrer Stimme.
Ja, es hat das getan.
Das Kind - die Mutter der Mutter
Ja, so hat es getan.
Mutter geht wieder weg© Yanna Zosmeri
Auf der anderen Seite steht der Zorn. Es sind zwei entgegengesetzte Seiten. Der Zorn ist genauso groß wie das Kind der Mutter gewidmet ist. Eigentlich sind die zwei eine und dieselbe Person, es ist immer so gewesen, noch vor Anbeginn der Zeit. Wie das kaputte verrückte Liedchen der Schminkbox mit Spieluhrtänzerin und Spiegel, das sich ewig wiederholt: das Kind wird von der Mutter verletzt, die eigentlich keine Mutter ist, dann kommt der Zorn, das Kind rebelliert, ärgert sich, die Mutter droht, die Mutter sagt, sie sterbe, das Kind glaubt ihr, das Kind sieht sie sterben, das Kind verzweifelt, dass kommt das Schuldgefühl, das Kind hasst, dass es keine gute Mutter für die Mutter, die keine Mutter ist, gewesen ist.

Wir kennen aber dieses Szenario sehr gut, es ist ein Klassiker. Wie oft muss ich es noch wiederholen? Was könnte ich da nur anders machen? frage ich Camelia, schon ein wenig frustriert.
  • „Sie kennt ihn noch nicht, sie tanzt noch immer in ihn.“
  • „Die kleine Sașa?“ Die kleine Sașa ist die Tänzerin in der Schminkbox. Super.“
  • „Sie kommt jedoch langsam zu ihr, hab Vertrauen. Der Weg von der mentalen Illustration von Szenarien zur Repositionierung unserer tiefsten Seiten ist lang.“
  • „Und wer könnte denn die verfluchte Box entsperren? Die Mutter?!“
  • „Nein, die Mutter ist dort mit ihr. Du entsperrst sie, du machst schon Schritte in dieser Richtung, jedoch geschieht das nicht auf einmal, wie in den Märchen.“
  • „Ich hasse Eltern! Die meisten sind seelisch verkümmert. Keiner sollte mehr Kinder kriegen.“
Gleich nachdem ich das sage, erinnere ich mich an Camelias Kind und zanke still mit mir. Ich frage mich, ob ich sie beleidigt habe, ich denke daran, mich zu entschuldigen oder sie zu fragen, ob meine Worte sie gestört haben, dann sage ich mir, dass sie Therapeutin ist und sie all dies nicht persönlich nehmen sollte, es ist mein Zorn, sie weiß, dass all dies über mich ist und eigentlich ist nicht alles über mich, es ist nur ein Moment - wenn ich ihn nicht anerkenne und ihn nicht hier mit ihr zusammen verarbeite, dann wo sonst? Camelia scheint das zu verstehen. Ohne etwas zu sagen, versichert sie mich, dass mein Zorn legitim sei und dass ich ihn so viel wie ich will ausdrücken könne.
  • „Willst du zurück zur Geschichte mit Slavic kehren?“
  • „Ja...“
  • „Sicher?“ „Wir können auch über etwas anderes sprechen, wenn das zu viel für heute ist.“
  • „Nein, lass uns zurückkehren.“
  • „Wenn du vorbereitet bist.“
     
Ich habe vergessen, ihr ein Glas zu verlangen. Camelia hat eine Reihe von bunten Gläsern, die auf der Fensterbank in der Form einer Raupe angereiht sind. Jedes Mal, am Anfang der Sitzung, bietet sie mir ein Glas an oder ich verlange ihr eines. Sie fragt mich, was für eine Farbe ich möchte, dies ist auch Teil des Rituals. Ich wähle dann eine Farbe. Häufig ist es eine Farbe, die meinen Geisteszustand widerspiegelt, ich denke allerdings nicht allzu sehr daran und analysiere nicht die Beziehung zwischen der Farbe und meinem Zustand, dies scheint mir etwas ziemlich Unbedeutendes, Banales. Heute hat sie es vergessen, mir ein Glas anzubieten und ich habe ihr auch keines verlangt. Bevor ich zu meiner Geschichte zurückkehre, die sie schon teilweise in anderen Sitzungen gehört hat, stehe ich auf und hole mir selbst ein Glas. Ich tue das zum ersten Mal. Wir sprechen ein wenig darüber, sie fragt mich, wie es sich anfühlt, das Glas/die Macht mit meinen eigenen Händen zu holen.
  • „Ich glaube, dass wir zu viel hineininterpretieren.“
  • „Es ist doch nicht unwichtig, dass du das Glas zum ersten Mal selbst geholt hast.“
  • „Na gut, aber jetzt wollte ich nicht darüber sprechen.“
  • „Gut, dann lass uns mal darüber sprechen, was du mir erzählen wolltest.“
  • „Also war mein Vater gestorben. Er war bereits seit einem Jahr gestorben, das heißt, dass ich etwa vierzehn Jahre alt war. Ich war wahrscheinlich schon vierzehn Jahre alt, ich erinnere mich daran, dass es Herbst war. Vielleicht sogar Spätherbst, vielleicht gab es Raureif, ich erinnere mich, dass ich kein T-Shirt trug, als ich durch den Dorf ging. Womöglich war es schon Winter, ich erinnere mich an etwas Weißes, vielleicht war das Schnee? Sicher war es kalt. Ich weiß, dass als ich Lunica von ihrer Herde nach Hause brachte, ich warme Kleider anhatte. Ich war mit Lunica zu Hause geblieben, unsere Nachbarin hinkte, ich brachte Lunica zu und von ihrer Herde und die Nachbarin melkte sie.“
  • „Du hattest Lunica lieb...“
  • „Ja, sie war meine Lieblingskuh. Sie ist meine Kuh gewesen. Ich habe sie geliebt. Manchmal kam Lunica von der Herde verletzt nach Hause zurück, die Idioten, die an jenen Tagen die Herde hüteten, schlugen sie, ich sah ihr in den Augen, sie weinte. Wirklich, sie weinte. In ihren großen Augen, die fünf Mal größer waren als meine Augen, und in ihrem Gesicht, auf ihrem Fell, waren Tränen. Ich legte meine Stirn an ihre Stirn, wir hielten vor dem Tor an und standen einfach da. Ich weinte dort mit ihr.“
  • „Es tut mir leid...“
  • „Es ist in Ordnung. Also war es womöglich noch kein Winter, vielleicht war es Spätherbst, wenn Lunica noch graste. Im Winter blieben die Kühe zu Hause, sie konnten nicht grasen, sie fraßen das Heu, das wir im Sommer gesammelt hatten.“
  • „So.…“
  • „So. Sein Vater war auch tot.“
  • „Slavics Vater?“
  • „Ja.“
  • „Der war...dein Onkel?“
  • „Ja. Onkel Vasea. Der mich nach Moskau gebracht hat, das war mein Onkel. Er war Physiklehrer gewesen, dann hatte er aber einen Schlaganfall und war kein Lehrer mehr. Danach hatte er den Verstand eines Achtjährigen, mit Erinnerungsresten aus seinem Erwachsenenleben. Die Mischung zwischen seinen Erwachsenenerinnerungen und das Verhalten eines Kindes war ein wenig seltsam. Also, Onkel Vasea war gestorben und sein Sohn, mein Vetter, war von Moskau gekommen - zur Beerdigung oder zur Gedenkfeier, vierzig Tage danach.“
  • „Und er wurde bei euch zu Hause untergebracht.“
  • „Anfangs wollte er bei ihnen wohnen. Also im Haus seiner Eltern, wo er seine Kindheit verbracht hatte, das jetzt leer war. Slavic war aber Alkoholiker, in Moskau war er Alkoholiker geworden. Und er versuchte ständig nicht mehr zu trinken. Also gab es sehr lange Perioden, die ein halbes Jahr oder länger dauerten, in denen er überhaupt kein Alkohol mehr trank. Das Problem war, dass als er wieder anfing zu trinken - und er fang immer an - ununterbrochen trank und wochenlang nicht mehr aufhören konnte. An jenem Tag aber, als er zur Gedenkfeier oder zur Beerdigung kam, trank er überhaupt nichts. Er sagte, er habe seit mehreren Monaten nichts mehr getrunken und diesmal schien es, dass er mit dem Alkohol endlich aufgehört hatte. So wie es immer so scheint. Und Mutter sagte ihm, er solle bei uns bleiben, um nicht in seinem leeren, miserablen, kalten Haus zu wohnen. Dass er bei uns zu Hause bleibe. Dann hatte Mutter einen Anfall, so wie immer. Ihr wurde schlecht, wir haben den Krankenwagen gerufen, die haben sie ins Krankenhaus gebracht und dort ist sie dann auch geblieben. Oder doch nicht. Entschuldigung, das war eine andere Geschichte. Mutter hatte keinen Anfall, sie musste zu einer dreiwöchigen homöopathischen Kur gehen, zu einer chinesischen Behandlung mit Akupunktur und Blutegel und Hypnose und andere solche Techniken. Hauptsache, sie war weg. So bin ich allein mit Slavic zu Hause geblieben. Bevor sie wegging, sagte Mutter, dass er jetzt wirklich nicht nach Hause gehen solle. Sie freute sich sogar, dass jemand bei uns zu Hause mit ihrer Tochter blieb. Die ersten zwei Tage sind wunderbar gewesen.“
    Mutter geht wieder weg© Yanna Zosmeri
  • „Also ist die Mutter weggegangen und dich allein mit einem Alkoholiker zu Hause gelassen.“
  • „Du verstehst nicht, er war kein Alkoholiker. Ich meine, er war ein Alkoholiker, er trank aber nicht mehr. Die Art, in der du diese Sachen umformulierst, lässt alles sehr schlimm erscheinen.“
  • „Ja, ok, er war in Remission, aber üblicherweise fing er dann wieder an zu trinken und deine Mutter wusste das, nicht wahr? Besonders da sein Vater damals gerade gestorben war, sie hätte wissen müssen, dass ein Alkoholiker in einer solchen Situation wieder anfangen würde zu trinken...“
  • „Na ja, wahrscheinlich, aber bei der Gedenkfeier hatte er überhaupt nichts getrunken. Ich kann mich noch an Mutter erinnern, als sie Nana Vera sagte, dass Slavic diesmal wirklich den Alkohol weggelassen habe, er habe überhaupt nichts getrunken, nicht einmal bei der Gedenkfeier seines Vaters.“
  • „In Ordnung. Wollen wir vielleicht ein wenig über dein sehr starkes Bedürfnis sprechen, das Verhalten deiner Mutter zu rechtfertigen?“
  • „Wir können darüber reden, hör mir aber zuerst zu, ich will die Geschichte zu Ende erzählen.“
  • „Ich höre dir zu.“
  • „Also sind die ersten zwei Tage wunderbar gewesen. Slavic benahm sich wie ein älterer Bruder, er kochte, machte sauber, deckte den Tisch, wir sahen zusammen fern, er umarmte mich und erzählte mir Witze, wir haben uns totgelacht. Oh, Gott, ich kann mich noch daran erinnern, wie viel wir gelacht haben. Ich habe mich wirklich sehr wohl gefühlt. Ich habe mich geschützt gefühlt. Meine Brüder kamen selten nach Hause und ich vermisste sie sehr, ich musste immer mit meiner kranken Mutter bleiben, Krankenwagen-Krankenhaus-Krankenwagen-Injektionen-Tabletten-Injektionen-Diät, jeden Tag Mutters Diät essen, das aßen wir, ich konnte jenen gebackenen Haferschleim mit ungesalzenem Käse, die klare Suppe und das gedünstete Gemüse nicht ausstehen. Wenn ich das heute sehen würde, würde ich bestimmt kotzen. Was ich sagen möchte ist, dass es wie ein frischer Wind da war, einen Erwachsenen da zu haben, der noch jung und amüsant war, anstatt Krankenwagen, und der mit mir wohnte, der mich unterhielt, der mich lustig fand.“
  • „Der dich lustig fand?“
  • „Na ja, er schien mich gern zu haben, er mochte meine Gesellschaft und für mich war es wichtig, dass ich von einem Erwachsenen gemocht war, es war, als ob ich in einer geheimen Welt gedrungen war, als ob meine Existenz endlich einen Sinn hatte. Auch wenn mich nicht alle Kinder meines Alters mochten, in der Welt der Erwachsenen, die ich bewunderte, reingelassen zu werden war, als ob ich ein Ticket zu einem exklusiven Club gekriegt hatte. Mich interessierte es also nicht mehr, dass mich die jüngeren Idioten mochten...“
  • „Ach...“
  • „Ja. So ist es in den ersten Tagen gewesen. Dann ist alles schiefgegangen.“
  • „Schiefgegangen?“
  • „Am dritten Tag fing Slavic an, mit Rita am Telefon zu streiten. Rita war seine Partnerin in Moskau, eine Russin. Sie haben den ganzen Tag gestritten. Ich kann mich noch daran erinnern, er stand am kleinen braunen Zaun mit weißen Kanten im Garten, mit einer Hand hielt er sich am Zaun fest, mit der anderen hielt er sein Telefon ans Ohr und brüllte. Rita schrie auch, ich konnte es hören. Ich stand im Wohnzimmer und guckte zum Fenster hinaus, konnte seine Aufregung erkennen, Teile ihres Gesprächs hören, wie sie durch den ganzen Hof verhallten.“
  • „Wie sie durch den ganzen Hof verhallten - wie schön du das gesagt hast.“
Ich fühle mich geschmeichelt und lächele. Dann trinke ich noch einen Schluck Wasser.
  • „Dann fing es an zu regnen. Slavic kam ins Haus herein und verschloss sich im hinteren Zimmer, wo er wieder anfing, ins Telefon zu brüllen. Jetzt konnte ich sehr gut hören, was sie redeten, sie machten wieder Schluss.“
  • „Wieder?“
  • „Na ja, sie machten immer wieder Schluss und dann waren sie wieder zusammen. Sie machten das seit etwa zehn Jahren. Er hatte seine eigene Wohnung, sie konnte ihn und seine Alkoholsuch nicht vertragen, warf ihm immer wieder vor, dass er ein undankbarer Mistkerl sei, warf ihn aus ihrem Haus raus, dann nahm sie ihn wieder zurück, ein Klassiker...“
  • „Furchtbar.“
  • „Tja. Gleich nachdem sie miteinander sprachen, ging Slavic direkt in den Keller. Unser Keller war nicht versperrt und man kam dort durch eine improvisierte Scheune, eine Sommerküche, rein. Aus dieser Sommerküche konnte man in den Keller gehen, man konnte aber auch aus dem Haus runtergehen. Er ging in den Keller durch das Haus. Ich blieb eine Weile stehen, dann folgte ich ihm leise, um zu sehen, was er tat. Es war ja unmöglich, dass er wieder trank! Er hatte seit mehr als einem halben Jahr nicht mehr getrunken, nicht einmal bei der Gedenkfeier seines Vaters! Als ich dort ankam, saß er schon am Küchentisch mit einem Weinkrug vor sich, mit dem ersten Glas schon leer, mit Zähnen, die anfingen, sich blau anzufärben. Vom Kinn tropften ihm weinrote Tropfen auf die Brust. Ich glaubte, du trinkst nicht mehr, Slavic..., sagte ich flüsternd. Na, Sașecika, wenn du einmal groß bist, wirst du sehen, wie schwer das Leben ist..., antwortete er und goss sich erneut Wein in sein Glas. Prosit, Gesundheit! In den wenigen Minuten, in denen ich ihn beobachtet hatte, hatte er schon einen Liter Wein getrunken. Er stand dann auf, beeilte sich plötzlich und rollte wie ein Fass in den Keller hinunter.“
  • „Wieso lachst du?“
Camelias Eingriff macht mich auf mein Lachen aufmerksam. Ich lache mich tot. Es amüsiert mich total, diese Geschichte zu erzählen. Nur ist das keine neue Reaktion.
  • „Es ist ja sehr komisch, wie ich mich dort mit dem Alkoholiker unterhielt, wie er mir Prosit sagte. Findest du das denn nicht amüsant?“
  • „Nein, aber ich bin neugierig, welches Teil von dir so energisch wird, wenn du darüber erzählst.“
  • „Der Teil, der mich beschützt.“
  • „Der dich auch damals beschützt hat, nicht wahr? Die Überlebende...“
  • „Ja... Dann dachte ich, dass er nur an diesem Abend trinken würde. Bevor ich schlafen ging, rief mich Mutter an und fragte mich: ist alles in Ordnung, versteht ihr euch? Ich antwortete, dass alles in Ordnung sei. Ich sagte ihr nicht, dass er wieder angefangen hatte zu trinken.“
  • „Warum hast du es ihr nicht gesagt?“
  • „Aus zwei Gründen. Die grüne stinkende Couch im hinteren Zimmer war damals noch neu. Dort schliefen wir normalerweise, meine Mutter und ich. Der zweite Grund war, dass meine Mutter ständig krank war und ich ständig Angst hatte, dass ihr etwas noch Schlimmeres passieren könnte, also wollte ich sie unbedingt beschützen. Deshalb habe ich ihr nichts gesagt, damit ihre Behandlung gut lief und in der Hoffnung, dass am nächsten Morgen Slavic plötzlich nüchtern war und alles wieder normal war. Ich habe also ruhig meine Arbeit im Hof gemacht, bei den Hühnern, dem Hund, der Kuh.

    Dann wollte ich mich schlafen legen und fand Slavic auf der neuen Couch schlafen. Ich versuchte, ihn aufzuwecken, ihn in seinem Zimmer zu schicken, es gelang mir aber nicht. Also bin in seinem Zimmer schlafen gegangen. Am nächsten Morgen, sehr früh, als ich aufstand, um die Kuh zu füttern oder zur Schule zu gehen - ich musste doch auch noch zur Schule gehen, ein weiteres wichtiges Detail - war Slavic bereits im Keller. Mein Zimmer, das Zimmer meiner Mutter stank bis zum Himmel und die neue Couch war voll mit Pisse.

    Ich fing an zu weinen. Ich weinte wegen der Couch – aber nicht unbedingt wegen der Couch an sich, sondern weil ich große Angst davor hatte, dass meine Mutter darüber erfuhr und dass es ihr schlecht wurde und dann starb. Ich ging dann nicht mehr zur Schule. Ich ging einkaufen, kaufte einen Liter Vanish und putzte stundenlang die Couch, bis diese nicht mehr nach Slavics Pisse roch, sondern nur nach Vanish. Dann steckte ich den Haartrockner in die Steckdose und versuchte die Couch einigermaßen zu trocknen. Als sie fast trocken war, kam dann Slavic wieder torkelnd ins Haus, mit der klaren Absicht, sich auf der Couch hinzusetzen und fernzusehen. Also fing ein absurdes Spiel an: er versuchte sich hinzusetzen, ich stellte mich vor ihm, er stieß mich zur Seite, ich stellte mich wieder vor ihm hin, er stieß mich wieder, ich stieg auf der Couch und schrie Bitte, nicht auf der Couch, bitte, bitte nicht, er lachte, allerdings nicht fröhlich, irgendwie spielerisch-bedrohlich, so wie betrunkene Männer, die zweimal so groß sind wie du, lachen können. Er setzte sich trotzdem hin, pisste wieder, also musste ich wieder zum Laden gehen und Vanish kaufen. Schließlich, nach zwei oder drei Tagen, musste ich meiner Mutter am Telefon gestehen, dass Slavic wieder mit dem Trinken angefangen hatte. Und Mutter, als ob sie gefühlt hatte, was passiert war, sagte vorschnell: Um Gottes willen, lass ihn nicht ins hintere Zimmer gehen, sonst pisst er auf meine neue Couch!“
     
  • „Unglaublich.“
  • „Lustig, nicht wahr?“
  • „Es ist wirklich nicht lustig, es ist eigentlich unglaublich, dass Eltern so reagieren, wenn ihr Kind im Haus mit einem Mann eingesperrt ist, der ständig besoffen ist. Es ist wirklich unfair, dass dir so etwas passiert ist...“
  • „Ich weiß nicht, was ich sagen sollte. Ja. Na ja. Sie war krank. Seither war der Sinn meines Lebens, die Couch vor Slavic mit allen Mitteln zu beschützen.  Es war wie in einem Videospiel mit Kriegern, einerseits ich und die Couch, auf der anderen Seite, Slavic. Bloß...umso mehr ich sie beschützte, desto leidenschaftlicher kämpfte er, sie zu erobern und so kam es zu Situationen wie jene mit der Axt...“
  • „Mit der Axt?“
  • „Ach, ich glaubte, ich hätte dir schon darüber erzählt.“ Also versuchte ich ständig, ihn vom Trinken fernzuhalten. Ich habe den Keller mit einem Schloss gesichert und den Schlüssel versteckt. Als ich von der Schule nach Hause kam, fand ich Slavic mit einer Axt in der Hand. Er versuchte, den Schloss oder die Tür mit der Axt aufzubrechen. Slavic guckte mich feindlich an und fing an, hinter mir mit der Axt zu laufen. Jetzt zeig ich‘s dir, blödes Kind, wie traust du dich nur, den Keller meines Hauses zuzusperren? Ich fand es weiterhin ein wenig amüsant, es war ja nur ein Spiel, so etwas war doch unmöglich, es war doch Slavic! Slavic, mein guter Vetter aus Moskau, Slavic, mit dem ich vor drei Tagen Spaß hatte...und jetzt verfolgte er mich mit der Axt? Nein, das musste ein blöder Witz sein. Einerseits lachte ich und sagte ihm, Komm doch, Slavic, das ist nicht dein Haus, lieber Slavic, du bist doch total besoffen, hast die Häuser verwechselt, aber andererseits hatte ich wirklich Angst und lief weiter, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Schließlich, nachdem wir durch den ganzen Haus gelaufen waren, sperrte sich Slavic im Haus und ließ mich draußen. Ich kann ihn noch hören, wie er zurück in den Keller ging und wie er wieder mit der Axt schlug. Ich zog entsetzt an die Türklinke, er ließ mich aber nicht rein, wahrscheinlich hörte er mich auch nicht, denn der Keller lag weit vom Eingang weg. So ging ich zu einer Freundin ins Dorf für ein paar Stunden.“
  • „Willst du nicht ein bisschen in deinem Häuschen ins Gebirge gehen?“
  • „Aber ich bin ok, ich brauch es nicht, siehst du nicht, dass mir das alles amüsant scheint?“
  • „Genau deswegen, weil das alles dir amüsant scheint... Los, lass uns zum Häuschen gehen.“
 
 

Intermezzo

 
Mutter ist eigentlich noch einmal weg gewesen. Bevor ich ein Teenager war, vor ihrer Krankheiten, vor seinem Tod. Als alles noch perfekt war. Ich meine, nicht perfekt, denn perfekt ist es nie gewesen, aber vielleicht war es nicht schlimmer als bei anderen Leuten.
Wie üblich oder wie alle Leute, würde sie sagen.
Die Familie, Mutter und Vater, schrien sich an wie üblich, wie alle Leute im Hof. Es war mitten im Winter. Januar, vielleicht? Sie stritten. Sie stritten wegen Geld, wer dafür gearbeitet habe, wer es ausgegeben habe. Vater war in seinem männlichen Stolz von der Frau, die das Geld im Haus verdiente, verletzt. Die Mutter war von der Ungerechtigkeit des Stolzes des Mannes verletzt, der kein Geld verdiente, jedoch übermutig war. Ich war auf einen Stuhl in die Küche geklettert und spionierte sie auf Zehenspitzen durch das Fenster. Da Vater nichts mehr in seinen Tasche hatte, das er nach meiner Mutter werfen konnte, schlug er direkt in Mutters wie alle Leute. Er verfluchte ihren Chef, beschimpfte ihre Kolleginnen, stellte ihren Arbeitsplatz als Ort der Lügen und des Betrugs bloß, so dass das ganze Dorf erfuhr, wer sie sei, was für Gaunereien diese Frau, die alle liebten und respektierten, treibe. Mutter, die mit einer höheren Stimme schrie, versuchte ihn zu beruhigen, damit die Nachbarn all das nicht hörten. Und da sie es nicht schaffte, versuchte sie ihn schlimmer zu beleidigen, seinen männlichen Stolz mit Mist zu bedecken. Die Nachbarin, deren Kopf über den Zaun ragte, spionierte auch. Es war wie ein Film. Es endete mit Mutter, die ihre Sachen packte und schwur, dass sie für immer wegginge, dass sie genug habe, dass es so nicht mehr ginge.
Und Mutter ging weg. Zu Fuß, mitten im Winter, mit ihrer Ledertasche auf der Schulter und mit einer anderen blaukarierten Basttasche in der Hand. Sie nahm mich nicht mit. Sie nahm nicht Abschied von mir. Als ob ich nicht einmal existierte.
Mutter ging weg, sie ging für immer weg. Ich verfolgte sie vom Fenster. Mein Atem ließ das Glas beschlagen, ich zeichnete mit dem Zeigefinger ein krummes Herz, in der Mitte das Wort Mutti. Es dauerte nicht lange, bis Mutti verschwand.
 
Mutter geht wieder weg© Yanna Zosmeri

 
Gleich nachdem Mutter weg war, mussten mein Vater und ich zum Markt gehen, um Äpfel zu verkaufen. Es war Markttag, das war schon seit einiger Zeit geplant. Ich wusste nicht, dass der Tag mit dem Plan gekommen war, manchmal fiel es mir schwer, mir die Reihenfolge der Tage zu merken. Das war aber heute. Gerade jetzt mussten wir in der Kleinstadt neben unserem Dorf zum Markt fahren, um unsere Äpfel zu verkaufen. Also lud Vater die Apfelkisten in der blauen Niva, dann lud er mich auch in der blauen Niva hinein. Er war außergewöhnlich heiter und lieb und ermutigte mich mitzukommen, er versprach mir, dass wir das eine oder das andere kaufen werden, dass wir zusammen ein Abenteuer haben werden.

Papas besonderes Mädchen saß in warmen Kleidern eingehüllt auf dem Rücksitz, heulend, da es dachte, dass es seine Mutti verloren habe. Die blaue Niva hatte keine Heizung, wir kriegten das aber hin. Vater lachte zu viel, er versuchte mich aufzuheitern. Ich lachte überhaupt nicht und es ging mir auf die Nerven, dass er das tat, nachdem er sie ja vertrieben hatte. Er machte mich wütend, aber auch ein wenig froh, denn Vater lachte ja nie. Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte, die Gefühle wechselten sich wie die Lichter bei den Konzerten im Kulturhaus ab. Gerade jetzt benahm sich der Unverschämte schön, nachdem er Mutter vertrieben hatte, er machte mich krank. Mutter war weg, aber Papa liebte mich. Im Kofferraum baumelten die Äpfel. Eine Bananenkiste aus Karton, die dutzende Male seit dem Sommer schon benutzt wurde, zerriss und der ganze Kofferraum füllte sich mit Äpfeln. Ich konnte sie vom Rücksitz sehen, sagte ich Papa. Papa hielt den Wagen an und ging raus. Es schneite, es war ein Schneesturm, der Wind drückte ihm die Jacke an die Brust, Papa verschränkte seine Arme und versuchte schneller als der Wind ums Auto zu gehen. Endlich gelangte er zum Kofferraum und machte ihn auf. Und da ich meinen Kopf in seiner Richtung gedreht hatte, zeichnete mir der Sturm rote kalte Sternchen auf die Wangen. Die Jonathan-Äpfel rollten am Rand der Straße durch den Schnee.
 
Wir holten Mutter ein. Versehentlich. Oder mit Vaters Absicht. Vielleicht deswegen hatten wir uns so schnell auf den Weg zum Markt gemacht, gleich nachdem sie weggegangen war. Wir zwei, mit der blauen Niva, auf der rechten Seite des Wegs voller Schlaglöcher zwischen den Ortschaften. Mutter lief in der Mitte der Straße, vom Schneesturm verweht. Wir fuhren gleich hinter sie. Als ich ihre schwarze Tasche auf der Schulter und die blaukarierte Basttasche, die wegen des Windes an Mutters Bein klebte, als ich ihre Fellstiefeln, ihren Mantel und ihre Wintermütze sah, fing ich an zu heulen. Ich heulte wie Hunde nachts. Oder wie Schweine, die geschlachtet werden. Ich sah sie und fing an zu brüllen. Vater fuhr langsamer, hupte. Mutter guckte nicht zurück. Die blaue Schildkröten-Niva fuhr sogar langsamer als Mutter lief. Mutter guckte nicht zurück. Jetzt fuhr die blaue Niva im Schritttempo neben sie. Papa hielt eine Hand auf dem Lenkrad und mit der anderen bemühte er sich, das Autofenster zu öffnen. Das Fenster klemmte. Papa strengte sich noch stärker an und fluchte nicht mal. Ich heulte. Mutter guckte nicht zurück. Papa schaffte es endlich, das Fenster zu öffnen, steckte den Kopf raus in den Schneesturm wie ein Opfer. Komm mit, Sveta, bat er sie mit der sanftesten Stimme, die er hatte. Komm mit, Sveta, das kam am nächsten zu Es tut mir leid. Dies war nicht nur seine Unfähigkeit, sondern auch ihre, sie konnte sich auch nicht entschuldigen. Sie haben das nie gekonnt. Sie wollten es einfach nicht lernen. Aus dieser Hinsicht waren sie wie zwei Böcke, die ihre Stirnen gegeneinander rammen. Besser zerbrechen sie sich die Köpfe, als diese schändlichen, peinlichen, schwachen Worte ohne Eitelkeit auszusprechen: verzeih mir, bitte. Besser zünden sie sich selbst an. Komm mit uns, Sveta war aber ziemlich nah dran. Beinahe ein Tritt in der Eitelkeit. Komm mit uns, Sveta einmal. Komm mit uns, Sveta zweimal. Komm mit uns, Sveta dreimal, zum letzten Mal. Mutter guckte nicht zurück. Bitte, Mutti, komm mit, geh nicht weg, lass mich nicht allein, kreischte ich von der Rückbank des Autos. Mutter guckte nicht zurück. Papa machte das Fenster langsam, methodisch wieder zu und die blaue Schildkröten-Niva fuhr weiter im Schritttempo neben Mutter noch zwei Kilometer. Vielleicht antwortete sie doch, vielleicht kehrte sie doch zurück.

Dann, mit keinen weiteren Worten, fing die Niva an schneller zu fahren, holte sie ein, sie blieb weit zurück, ich drehte meinen Kopf, konnte sie überhaupt nicht mehr sehen, die blaue Niva schwebte durch den Schneesturm und trug meinen Vater und mich zum Markt. 
 
Ich hüpfte vor dem Tisch mit Jonathan-Äpfeln. Vater war weggegangen, um sich mit jemandem zu treffen oder Lotto zu spielen. Bis er zurückkam, verkaufte ich alle Äpfel. Meine Augen funkelten, ich war brav gewesen. Ich reiche ihm den Haufen Geld. Ich hatte ein gutes Gefühl, als mir die Leute Geld in die Hände steckten. Mein Bauch kitzelte, für ein paar Stunden vergaß ich über meine Mutter. Mit dem Haufen Geld - das eigentlich nicht so viel Geld war, aber da es viele ein-Leu-Scheine gab, schien es mehr zu sein - gingen wir zum Café neben dem Markt und krochen zum Tischchen mit zwei dampfenden Tellern.  Dann aßen wir zwei kleine Teiche gelber Suppe mit Nudeln, eine ölige, helle, glänzende Suppe. Eine Sonne, die gerade aus einem Päckchen Suppe gerührt wurde, aus salzigem Pulver mit Hühneraroma, Galina Blanca buli.
Nach der Suppe gingen wir noch zum Second-Hand-Laden, Vater hatte mir versprochen, dass er mir schöne Sachen kaufe. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob er mir tatsächlich etwas gekauft hat, jedoch weiß ich, dass ich schnell nach Hause fahren wollte.
Wir kehren mit der blauen Niva zurück. Der Wind wehte nicht mehr, jetzt fuhren wir durch ein stilles Schneemeer. Unser Auto war das erste, das die weiße Decke unter ihren Rädern durchdrang. Diesmal fühlte ich mich sogar ein bisschen glücklich und optimistisch, ich war fast sicher, dass Mutter zu Hause auf uns wartete. Sie war ja nach Hause in all dieser Zeit, in der ich auf dem Markt war, zurückgekehrt - wie viele Stunden waren es vergangen?
 
Sie war aber nicht zurück. Es war dunkel, es war kalt, Vater mühte sich mit dem Ofen ab, er versuchte das Feuer anzuzünden. Ich saß auf dem Ofen, jedoch von ihm so weit wie möglich entfernt. Ein paar Tage quälten wir uns gegenseitig. Da gab es kein normales Leben mehr, ein normales Leben stützte sich auf Mutter. Also spielten wir Rollen, die einem normalen Leben entgegengesetzt waren. Mein Vater spielte so, als ob er der beste Vater sei, ich spielte, als ob ich das zimperlichste und frechste Kind sei. Und weißt du, was am unerträglichsten war? Das nur jetzt, als ich ihn hasste, er sich so benahm, wie ich es mir immer schon gewünscht hatte. Er liebte mich und ich konnte ihn nicht einmal ansehen. Ich hasste ihn. Und er hasste mich. Einer von uns war ein Monster, ein Monster, der Mutter weggejagt hatte. Wir wechselten uns dabei ab. In meinem Kopf wechselten wir uns ab. Zehnmal am Tag wechselte sich der Schuldige. Vater blieb weiterhin ruhig, er blieb sogar ruhig, als ich ihren Kopf aus allen Familienfotos ausschnitt. Diese Arbeit nahm mir viel Zeit, sie hatte aber einen Zweck, sie hielt mich konzentriert, aufmerksam. Ich saß auf dem Ofen mit der Schere und dem Fotoalbum vor mir und schnitt Mutter aus allen Fotos aus. Ich klebte dann Mutter auf jeder Kachel des Ofens. Der Ofen wurde zu einem Altar, ich verbeugte mich vor ihm, ich wurde im Kult meiner Mutter getauft. Ich streckte mich zu jedem 2-Centimeter-großen Kopf hin, ich streichelte ihn mit meinem kleinen Finger, ich küsste ihn - meine Ikone, meine Religion. Diese Frau, die Sveta hieß, die meine Mutter zu sein schien, die vor mehr als vierundzwanzig Stunden verschwunden war, die ich jetzt nur aus den Fotos kannte, die Frau Sveta schwebte mit dutzenden Gesichtern über meinen Kopf. Ich lag gerade auf dem Ofen, mit Svetas Kopftuch bedeckt (das noch nach ihr roch, nach Kuh und nach gebratenen Zwiebeln und Borschtsch), ich faltete die Hände wie ein Toter und sagte mir: jetzt kann ich sterben, vielleicht so bin ich wieder bei meiner Mutti. Oder vielleicht war ich schon tot?! Ich blieb still, als mein Vater ins Zimmer hereinkam, er zankte mich nicht, sein Gesicht schien aber düster zu werden. Er ging schnell weg und sagte nichts. Das hast du davon, murmelte ich vor mich hin, dann drehte ich meinen Kopf zu den kleinen Ikonen und sagte Sveta: Siehst du, was ich dem Idioten von meinem Vater angetan habe?! Sveta antwortete mir nicht. Die Vielzahl ihrer Köpfe, die Vielzahl der unterschiedlichen Gesichtsausdrücke, wie Emojis, erfreute mich auch nicht. Ich fühlte mich schon ein wenig schuldig, Vater tat mir leid. Dann verging es mir schnell, denn in der Küche fand ich Vater mit einer großen Kanne Wein. Er hatte also angefangen zu trinken, also kümmerte er sich nicht mehr um mich. Ich blickte ihn böse an, atmete tief ein, dann seufzte ich laut - wie Mutter - und ging weg. Ich hasste ihn gleich wieder.
 
Erst zwei Tage danach erfuhr ich, dass Vater nicht mehr wusste, was er mit mir tun sollte. Ich war bei Nana Vera im Wohnzimmer und aß gefüllte Weinblätter, obwohl ich gefülltes Sauerkraut vorzog. Ich wurde hierher früh am Morgen mit der blauen Niva transportiert. Ich starrte die Knödel an, tauchte sie in Sahne ein, zerdrückte sie mit der Gabel, hörte Nana Vera im anderen Zimmer telefonieren. Sie sagte jemandem, dass Sveta weg sei und dass, zwei Tage später, Nicu nicht mehr wüsste, was er mit seiner Tochter tun solle. Dass er alles durcheinandergebracht habe und nichts mehr richtig tun könne. Dass die Tochter (also ich, sie sprach über mich) alle Familienfotos ausgeschnitten habe und Svetas Fotos im ganzen Hause geklebt habe (ich hatte sie aber nur am Ofen geklebt, sie übertrieb), und jetzt war Nicu in Panik geraten, vielleicht war das Mädchen verrückt geworden? Er hatte ihr das Mädchen gebracht, da sie eine Frau war und sich vielleicht besser in dieser Situation auskannte.
Ich bin verrückt geworden, ich bin verrückt geworden, fing ich an, amüsiert zu singen, während ich Hügel und Täler im Reis der Knödel formte. Es schien mir, dass ich alle reingelegt hatte (ich wusste aber nicht, wie genau ich das gemacht hatte) und dass ich sehr klug war.
Aber Nana Vera fand Mutter!

Anscheinend war Sveta all diese Zeit bei ihrer Familie, in ihrem Geburtsdorf. Da ich ganz gut spionieren konnte, hörte ich wie Nana Vera sie anflehte, zurückzukommen, sie an ihre Tochter erinnerte. Komm, liebe Sveta, ich verstehe, dass du dich geärgert hast, du bist doch schon so lange weg, jetzt bist du wieder ruhig, du hast dich ausgeruht. Komm jetzt bitte zurück, du hast doch ein kleines Kind. Nimm es dann wenigstens mit, denk doch dran, es glaubte, dass seine Mutter von der Erdoberfläche verschwunden sei und dass sie niemals mehr zurückkehre, es ist nur ein Kind, es ist doch nicht seine Schuld! Komm schon, ich kann nicht mehr reden, ich will nicht, dass es mich hört.
Zwei Tage danach kehrte Mutter nach Hause. Ich saß auf dem Ofen und beobachtete, wie sie sich anstrengte, das Feuer mit Papier und trockenen Zweigen anzuzünden. Das funktionierte nicht, also goss sie ein wenig Benzin drauf, dann wurde das Feuer immer größer, kam fast aus dem Ofen raus. Dann riss sie alle Fotos von meinem Altar ab. Die Schande. Sie schloss sie in ihrer Faust und warf sie ins Feuer rein. Die Flammen lecken die Gesichter meiner Mutter mit ihren heißen Zungen ab.
 
 *
 
  • „Wie viele Male musste Nana Vera anrufen, um sie daran zu erinnern, dass sie deine Mutter war?“
  • „Tja. Obwohl sie ziemlich kalt und zurückhaltend schien und ihre Kinder autoritär erzogen hatte, wusste Nana Vera ein bisschen mehr, was es bedeutete, eine Mutter zu sein. Ich meine, das Verhältnis zwischen ihr und ihre Kinder war klar, da gab es keine Zweifel.“
  • „Also machte sie keine Eltern aus ihren Kindern.“
  • „Nein, sicherlich nicht. Da bin ich schließlich zu ihr gegangen, genauso wie in der Geschichte mit Slavic, aber nur am Ende der drei Wochen...  Ich verstehe nicht, wieso ich so lange darauf gewartet habe. Oder vielleicht hat es bei ihr länger gedauert, bis sie verstand, dass es wirklich schlimm geworden war. Hauptsache, das waren Leute, die um vier Uhr morgens aufstanden und ihr Leben in einem Dorf lebten, in dem immer was los war. Nana, zum Beispiel, stand um vier Uhr auf, melkte die Kühe - sie hatte damals zwei -, arbeitete im Garten oder auf dem Feld, dann kam sie zurück nach Hause, wusch sich und bereitete sich für die Schule vor. Sie war Grundschullehrerin, um acht Uhr fing der Unterricht an und bis dann hatte sie schon die Hälfte ihres Arbeitstages erledigt. Klar hatte sie keine Zeit. Wahrscheinlich habe ich sie in der Mitte jener drei Wochen angerufen, vielleicht habe ich ihr auch nicht erzählt, dass die Situation so schlimm war, vielleicht dachte sie, dass ich zu Hause mit einem Verwandten war, also mit jemandem aus meiner eigenen Familie, also während dieser drei Wochen war sie mir los. Mutter hatte schon mit dem regelmäßigen Pendeln von einem Krankenhaus zum anderen begonnen, also landete ich manchmal, nachdem ich den Rücken des Krankenwagens in den Staub unserer Gasse verschwinden sah, zu Hause bei Nana Vera. Nicht immer. Ich zog es vor, bei uns zu Hause zu bleiben, denn bei Nana Vera fühlte ich mich schuldig, weil ich nichts tat und musste dann im Haushalt helfen, da ich doch ihr Essen aß. Wenn ich aber bei uns zu Hause bleiben wollte, dann musste ich eine oder zwei Freundinnen finden, die mit mir schliefen, sonst kriegte ich eine Teufelsangst vor den Dämonen.“
  • „Dämonen?“
  • „Albträume, du kennst sie schon, meine Angst, ganz allein in großen und verlassenen Häusern zu sitzen.“
  • „Ja, ja. Also hast du es wahrscheinlich, während jenen drei Wochen, der Nana Vera gesagt, sie hat es aber nicht gehört oder vielleicht hat sie es nicht mitbekommen?“
  • „Ich glaube schon. Ich bin aber auch nicht hundertprozentig sicher...Vielleicht war sie auch nicht zu Hause. Wer weiß... Ich habe das mehreren Leuten erzählt. Die Situation wurde immer schlimmer. Slavic gelang es, die Kellertür mit der Axt aufzubrechen. Als ich dann an jenen Tag nach Hause zurückkehrte, waren alle Türen weit geöffnet. Die Tür des Hauses, die Tür des Kellers, die Tür der Sommerküche, alle. Die Lichter waren auch alle an. Das ganze Haus stank fürchterlich nach Kotze. Weißt du wie ekelhaft die Kotze stinkt, nachdem man Wein getrunken hat? Ein saures und verdorbenes Geruch, igitt. Dieses Geruch war das diabolische Gesicht des Weins. Ich kann ihn nie vergessen, obwohl ich das hoffe.

    Ich fand Slavic in der Küche im Haus auf einem Stuhl zusammengebrochen, mit dem Kopf in einer großen Weinlache, die sich auf dem ganzen weißen Tischtuch erstreckte und mit einer anderen Weinlache auf seiner hellbraunen Bluse. Es war, als ob er alles aus seinem Mund gespuckt hätte oder im Fass gebadet hätte. Und gerade als ich reinkam und im Türrahmen stand und dieses trostlose Bild sah, hob Slavic in slow motion seinen Kopf und winkte mir zu - wie ein Kind, das seinen Kindergartenkumpel begrüßt. Dann sah ich, wie zwischen seinen Beinen, von unserem rosarot gepolstertem Stuhl in der Küche, ein Pissstrahl auf den Teppich floss. Slavic pisste durch seine Hosen, vor mir.“
     
  • „Unglaublich.“
  • „Ja, und dann lächelte er mich ein bisschen geschämt an - obwohl geschämt eine Übertreibung ist -, er lächelte mich an wie ein kleiner Junge, der einen Streich gespielt hatte und von seiner Mutter dabei ertappt wurde. Er schien sogar stolz auf sich zu sein. Igitt.

    Ich habe dann die Teppiche auf den kleinen Zaun aufgehängt. Und habe dann alles wieder mit Vanish gewaschen. Abends rief meine Mutter sehr aufgeregt auf, die direkt fragte, was mit der Couch passiert sei. Ich antwortete, dass sie jetzt sauber sei, dass alles in Ordnung sei. Ich habe ihr nicht über die Axt und über alles andere erzählt. Ich hatte Angst, dass ich sie zu viel gestresst hatte, dass ich nicht auf sie aufgepasst hatte, dass ich ihre Behandlung mit meiner Fahrlässigkeit verdorben hatte. Sie sagte, dass ihr Arzt - ich meine der Akupunktur-Spezialist - ihr gesagt hatte, uns zu zanken (ich weiß jedoch nicht, wen genau sie zanken sollte, mich, Slavic?), uns mitzuteilen, dass er böse auf uns war, dass seine ganze Arbeit umsonst sei, wenn wir Mutter nicht von den negativen Energien fernhielten. Sag ihr, dass wenn sie es will, dass du gesund wirst und weiterlebst, sie dich beschützen muss, dass sie dir keinen Unsinn mehr sagt. Sie soll allein klarkommen, sie ist schon ein großes Mädchen.
     
  • „Es tut mir leid, ich muss dir aber sagen, dass sowohl deine Mutter als auch der Arzt ganz ahnungslos waren. Du warst doch nicht erwachsen, du warst doch nur 14 Jahre alt! Wie konnten sie dir denn all diese Verantwortung zuweisen? Du hattest dort mit dem Alkoholiker gekämpft, warst ganz allein und deine Mutter und ihr Arzt wollten dich darüber hinaus für das Leben und das Wohlergehen deine Mutter verantwortlich machen. Das sind Handlungen von Erwachsenen, die von ihrer Rolle, Macht und Einflusskraft auf das Leben der Kinder  überhaupt keine Ahnung haben.“
  • „Jetzt erkenne ich das. Aber was du jetzt sagst ist das genaue Gegenteil meiner damaligen Gefühle. Ich fühlte mich von Slavic ganz erschüttert, ich kam mit ihm eigentlich ganz gut zurecht, siehst du denn nicht, dass das alles mich sogar amüsiert? Ich war aber sicherlich von der Gefahr erschüttert, dass Mutter alles erfuhr und ihr dann schlechter wurde. Ich musste auf meine Mutter aufpassen. Sie beschützen, sie vom Ärger fernhalten, sie vom Tode erretten. Nur ich konnte das tun, kein anderer. Und ich nahm meine Aufgabe sehr ernst. Letztendlich war mit Slavic nichts Schlimmes passiert. An jenem Abend legte ich mich auf unsere neue Couch schlafen. Ich kann mich noch daran erinnern, dass sie sehr stark nach Vanish und, subtil, nach Pisse roch. Ich hatte vor der Tür alle Möbelstücke gestellt, die ich nur tragen konnte. Der gelbe Nachttisch, ein Tischchen darüber und zwei Stühle obendrauf. Ich hatte vor der Tür einen kleinen Turm gebaut, damit er nicht reinkonnte. Ich bin damit ganz gut zurechtgekommen, siehst du?“
  • „Ja, der Einfallsreichtum des Mädchens in einer Krisensituation ist bewundernswert, gleichzeitig muss anerkannt werden, dass das eine Krisensituation war und dass es äußerst ungerecht war - von den Erwachsenen -, dass du allein in dieser Situation warst.“
  • „Aber mir ist nichts Ernstes passiert!! Keiner hat mich geschlagen, keiner hat mich missbraucht. Es gibt Kinder, die viel schlimmere Familien haben, die täglich missbraucht werden. Im Vergleich zu diesen Kindern ist mir überhaupt nichts passiert. Und was, wenn ich zu Hause mit einem alkoholsüchtigen Vetter geblieben war? Ich bin damit ganz gut zurechtgekommen. Mutter war krank, das war es. Was konnte sie nur tun? Es gibt schlimmere Sachen auf der Welt. Ehrlich gesagt, frage ich mich ständig und verstehe nicht, wieso ich so durcheinander bin, wenn mir eigentlich nichts Besonderes passiert ist? Ja, es gab genug merkwürdige Situationen, ich wurde aber von meinen Eltern oder Verwandten nicht geschlagen, ich wurde nicht vergewaltigt, na ja, nicht ganz.“
  • „Sașa, du hast doch einen Turm aus Möbelstücken im Zimmer, in dem du schliefest, gebaut, aus Angst, dass ein gewalttätiger betrunkener Mann, der dich früher mit einer Axt verfolgt hatte, reinstürmte. Das ist wirklich ernst.  Das ist Missbrauch. Vielleicht ist das nicht ein „klassischer“ Missbrauch, so wie ihn du dir vorstellst, aber auch das, was er dir angetan hat - das mit der Axt, war ungeheuerlich...“
  • „Vielleicht hatte er mich doch nicht mit einer Axt verfolgt, vielleicht habe ich mir das bloß eingebildet...“
  • „Ok...Ich weiß nicht, wieso du dir so etwas einbilden würdest, aber ich verstehe dein großes Bedürfnis, deine Familie, deine Mutter zu beschützten.  Denke aber dran, dass indem du deine Mutter heute noch beschützt, wenn du dich in einem sicheren Kontext befindest - du gehst doch nicht zu ihr und beschimpfst sie, du sprichst nur mit mir - indem du sie jetzt hier beschützt, gibt es weiterhin keinen, der dich beschützt. Der das Mädchen von damals beschützt. Wer beschützt es? Alles, was deine Mutter nicht damals getan hat, um dir zu helfen - ja im Gegenteil, sie gab dir die Verantwortung für ihre Genesung - ist ein Missbrauch. Ich verstehe, dass du eine ernstere Geschichte brauchst - laut deiner Definition der Ernsthaftigkeit -, ein Missbrauch, mit dessen Hilfe du deine emotionalen Problemen von heute erklären kannst, sie reparieren kannst. Dann, glaubst du, dass alles klar wird. Es ist aber möglich, dass es so etwas nicht gibt. Und diese kleine Suchmaschine ist eine Art magisches Denken, die Hoffnung, dass man die Wurzel alles Übels finden kann und dass alles, wie in den Märchen, gleich wieder gut werden kann. Es ist möglich, dass du dieses einzelne, schwerwiegende Ereignis, aus dem all deine Probleme entspringen, nie findest. Das funktioniert eigentlich nicht so. Häufig ist es die Rede von einer Mehrzahl kleineren Ereignissen - obwohl mir diese kleinen Ereignisse überhaupt nicht unwichtig erscheinen, ich sage es nur so, wie du sie siehst –, die unterschiedliche Fragmente unseres Wesens allmählich beeinflussen und kennzeichnen. Ich meine, alle „komischen” Situationen, von denen du mir erzählst, und es sind sehr viele, in deinem Leben, waren grausam und furchtbar unfair für ein Kind. Ein Kind sollte so etwas nie erleben. Nicht allein. Nicht so.“
  • „In meiner Familie gab es doch keinen Missbrauch…“
  • „Ich würde sagen, da es da doch einen Missbrauch gab... Was du erzählst, zählt zur Definition des Missbrauchs, wenn du es definieren möchtest...“
  • „Aber die Sache mit Slavic, zum Beispiel, ist über Slavic, nicht über meinem Haus und meiner Familie.“
  • „Du warst doch bei dir zu Hause. In deinem Haus, im Schlafzimmer deiner Familie, wo du dich in Sicherheit fühlen solltest. Und dort musstest du Türme bauen, um dich vor einem Alkoholikern selbst zu verteidigen, vor dem dich keiner schützte.“
  • „Ich habe Türme gebaut, damit er nicht mehr auf meiner Couch pisste. Ich hatte keine Angst vor ihm. Ich fühlte keine Angst. Na ja, vielleicht ein wenig, nachdem er mich mit der Axt verfolgt hatte. Aber ich glaube nicht, dass ich eine Todesangst vor ihm hatte, ich würde mich daran erinnern.“
  • „Das hat viel Sinn. In einer Situation, in der du „zurechtkommen“ musstest und mit dieser Situation wochenlang leben musstest, hattest du nicht den Luxus, Angst zu haben. Ich sage „den Luxus”, weil wir manchmal, um uns zu erlauben, Angst zu haben, wir wenigstens die Möglichkeit haben müssen, von jemandem unterstützt zu werden. Jemanden zu haben, der sich um uns kümmert, besonders wenn wir Angst haben. Wenn es keinen gibt und man halt überleben muss, ist es für dein Überleben nicht unbedingt nützlich, Angst zu verspüren. Angst ist ein Gefühl, dass man eher mit etwas anderem bedeckt, bis man aus der schwierigen Situation raus ist.  Ansonsten würde es, so wie du gesagt hast, lähmend sein. Und offensichtlich sprechen wir hier nicht über bewusste Entscheidungen, das eine oder das andere zu fühlen, sondern von subtilen tektonischen Bewegungen, die hinter der Psyche, meistens unbewusst stattfinden…“
  • „Ja, so muss es gewesen sein, ich glaube, dass ich es mir nicht „erlaubt“ habe, zu viel Angst zu fühlen... Vielmehr schwankte ich zwischen der Entscheidung, die Situation ernst zu nehmen oder nicht. Na ja, letztendlich wurde die Situation ganz absurd. Slavic pisste und kotzte überall im Haus, ich verfolgte ihn mit meinem Lappen und meinem Vanish, ich konnte nicht so schnell putzen, wie er verschmutzte. Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte... So dass ich anfing, mich an allen Erwachsenen um mich zu wenden, damit sie etwas tun. Zunächst ging ich zu Valeria Mihailovna, die Nachbarin, die hinkte. Sie was Rentnerin, war aber Erdkundelehrerin gewesen und Slavic war ihr Schüler gewesen. Sie kam und sprach mit ihm. Sie zankte ihn wie in der Schule mit ihrer weinerlichen Stimme und ihren müden Worten, die wie nasse Kleider an einem Seil hingen, sie sagte Es ist nicht gut zu trinken, Slavic, du warst doch so ein guter Bub und guck mal was aus dir geworden ist, dein Vater muss sich wohl im Grabe umdrehen, wenn er dich sieht, du, Slavic, du. Es funktionierte nicht. Dann holte ich meine Patenmutter, Nana Tasea, zur Hilfe, die vom anderen Ende des Dorfes eilte und ihn ausschimpfte, ihm die Leviten las, so wie sie es zu pflegen sagte. Sie fragte ihn, was er für ein Mann sei, was für ein Mann würde das tun, wenn sie seine Frau wäre, würde sie ihn fesseln, in den Kofferraum stecken und ihn weit in den Wald bringen, wo sie ihn lassen würde, ohne zurückzublicken.  Er solle schnell das Trinken aufgeben, sich rasieren, waschen und wieder wie ein normaler Mensch aussehen, sonst bringe er Schande über seinen Namen im ganzen Dorf und in den nächsten drei benachbarten Dörfern. Er hörte ihr bereuend zu und erklärte sich einverstanden, es war aber umsonst. Dann bin ich zum Nachbarn auf der linken Seite unseres Hauses gegangen, jener mit dem Nussbaum im Hof. Der Nachbar Anatolii Stepanovici. Ich habe ihm wieder die ganze Geschichte erzählt, von Slavics Anfängen bis heute und Anatolii Stepanovici, der Probleme mit seinen Beinen hatte und zu uns nicht kommen konnte, um die Sache direkt zu überprüfen, sagte Wir müssen jetzt die Polizei anrufen. Ich war zuerst dagegen, dann erkannte ich, dass ich verzweifelt war und überhaupt keine Lösung hatte, also akzeptierte ich. Vielleicht konnte die Polizei kommen und ihn in einer Reha bringen, ich weiß nicht, ich wusste nicht, was die Polizei tun konnte, jedoch hoffte ich, dass sie etwas tun konnte. Anatolii Stepanovici rief die Bezirkspolizei an und sagte, dass ein Mann ins Haus meiner Nachbarn eingebrochen ist, bitte, kommen Sie und verhaften Sie den Verbrecher! Ich rief aber Nein, nein, er ist nicht ins Haus eingebrochen, er ist mein Vetter, er ist unser Verwandter, wir haben ihn reingelassen. Und die Polizisten riefen zurück Also ist er oder nicht eingebrochen? Und Anatolii Stepanovici sagte Ja, ja, er ist ins Haus meiner Nachbarn eingebrochen. Ich brüllte Nein, nein, nein, er ist nicht eingebrochen, er ist bloß ein Alkoholiker, ihr müsst ihn dazu zwingen, keinen Alkohol mehr zu trinken. Und die Polizisten sagten, Sprecht, bitte, der Reihe nach und gebt uns keine falschen Informationen, sonst müssen wir euch bestrafen. Ist es also richtig, dass ein Alkoholiker ins Haus ihrer Nachbarn eingebrochen ist? Und Anatolii Stepanovici sagte Ja, ein Alkoholiker ist eingebrochen. Und ich schrie Neeeeeeeeein.
Schließlich hat sich die Bezirkspolizei mit dem Dorfpolizisten in Verbindung gesetzt, der gerade an jenem Tag angeln gegangen war. Jemand holte ihn zurück und so kam Vitalie zu unserer Tür, mit den knielangen Stiefeln voller Schlamm. Slavic ging heraus, erkannte Vitalie und reichte ihm seine Hand. Sie waren ehemalige Klassenkameraden und eigentlich wusste Vitalie nicht, wie er sich benehmen sollte, also war er einmal Polizist und das andere Mal, Kollege. Er schüttelte ihm die Hand, dann nahm er sie wieder zurück, wurde ernst und teilte Slavic offiziell mit, dass er ihn zum Revier begleiten soll. Im Polizeirevier gab er ihm eine mündliche Verwarnung wegen Slavics fiktiven Einbruchs. Dann schickte er ihn zum leeren Haus seiner Eltern, und da Slavic scheinbar nicht gehen wollte, begleitete er ihn bis zum Tor. Dann sagte der Polizist, dass er mich auch nach Hause begleiten wolle. Wir gingen gerade durch den Dorfpark, als wir Slavic laufen sahen. Er überholte uns und rannte weiter und Vitalie folgte ihm und Slavic lief außerordentlich schnell für einen Betrunkenen. Vitalie aber schaffte es, ihn umzuhauen. Ich näherte mich und sah, wie Vitalie Slavic mit einer Hand hielt und mit der anderen sich an die Nase hielt. Slavics Hosen waren gerade nass geworden. Er sagte Vitalie, dass er sich in die Hose gepinkelt habe und dass, weil er keine andere Hosen im Hause seiner Eltern hatte, zurück zu unserem Haus gehen wollte, um sich frische Hosen zu holen. Er hatte auch keinen Wein, auch keinen vollen Weinkeller bei ihm zu Hause. Vitalie war komplett überfordert, er konnte nichts anderes tun, als ihm ständig zu wiederholen: Schäm dich, du Biest!
 
  • „Wow, meine Damen und Herren, das ist wie ein Film von Kusturica.“
  • „Haha, ja, klar.“ Das mit der Polizei war das Sahnehäubchen auf dem Kuchen. Dann ist nichts aufregendes mehr passiert. Slavic ist zu uns nach Hause noch zweimal zurückgekehrt, ich hatte aber alle Türen verschlossen und schreckte jedes Mal zurück, wenn ich ein Geräusch hörte. Vitalie ist auch noch ein paarmal gekommen, hat Vitalie zurück nach Hause gebracht, ihm eine Geldstrafe verhängt. Schließlich ist auch die Bezirkspolizei gekommen, die von Vitalie gerufen wurde, da er mit Slavic nicht mehr zurechtkam. Sie steckten ihn eine Nacht ins Gefängnis, am nächsten Tag war er schon wieder besoffen. Zusammen mit ihm ist aber auch meine Mutter zurückgekommen, also kann ich mich an das Ende der Geschichte nicht mehr erinnern. So viel, c'est fini.“
  • „Obwohl ich von deiner Erzählfähigkeit entzückt bin und ich erkenne, dass jemand nur von der eigentlichen Geschichte verzaubert werden kann, muss ich dir sagen, dass wir diese Geschichte nicht besprechen, weil sie spannend ist. (Camelia lächelt). Darüber kannst du eventuell schreiben. Jetzt wollen wir aber sehen, was für Wunden, was für Narben diese Geschichte hinterlassen hat, wie wir sie heilen können. Mutter ist zurückgekommen, sagtest du. Wann, wie ist sie zurückgekommen?“
  • „Es war fast das Ende ihrer Akupunkturkur. Nach der ganzen Geschichte mit der Polizei bin ich wieder zur Nana Vera gegangen und ihr alles darüber erzählt. Sie war schockiert und sagte, dass sie Mutter gleich anrufen wolle, obwohl ich sie bat, sie nicht anzurufen, sie nicht zu stören. Nana Vera meinte, dass sie besser wisse und dass ich mich nicht reinmischen solle. Sie rief sie an und zankte sie, das habe ich von Mutter erfahren. Sie sagte ihr, dass ihre Tochter allein zu Hause war und dass sie das ganze Dorf zur Hilfe gerufen habe, um sie vom Alkoholiker zu retten. Und was Mutter machte? Sich im Kurort in der Sonne entspannte. Das war ein wenig übertrieben, es war noch kalt.“
  • „Du hattest Glück mit Nana Vera.“
  • „Ja...nur hat mir Mutter leidgetan. Slavic tat mir auch sehr leid.“
  • „Warum weinst du?“
  • „Er war so klein und mager und hilflos, sein Vater war gestorben, seine Freundin hatte ihn verlassen, er war allein mit mir und, anstatt ihm zu helfen, habe ich die Polizei gerufen, die ihm weiter weh getan hat...“
  • „Moment, Moment, warte mal! Du konntest Slavic doch nicht helfen, Kind! Ich sage das für das Kind in dir, es scheint jetzt zu weinen. Du konntest nichts anderes tun, als dich zu schützten. Er war zweimal so groß wie du, befand sich in einer alkoholischer Krise und konnte gewalttätig werden, wenn er sich ärgerte. So wie es eigentlich auch passiert ist. Du konntest nichts anderes tun als das, was du getan hast: es zu versuchen, aus der Situation rauszukommen. Und du hättest doch von Anfang an nicht mit ihm drei Wochen lang zusammenbleiben sollen. Die Unfähigkeit aller Erwachsenen um dich, ein Kind vor der Gefahr zu beschützen, ist empörend. Du warst doch in Gefahr und sie kamen, hielten ihre Predigten und dann ließen sie dich weiterhin mit ihm im Haus.“
  • „Sie haben es versucht, mir zu helfen...Es war doch nichts Besonderes, viele Männer waren Alkoholiker, man lebte halt mit ihnen, man machte einfach weiter. Ich glaube, dass ich mich jetzt schuldig fühle, weil er gestorben ist, und weil ich mit ihm überhaupt keine Beziehung zu ihm hatte.“
  • „Damals?“
  • „Nein, nein, das war ein paar Jahre später, ich war schon im Gymnasium.“
  • „Es tut mir leid, dass er gestorben ist.“ Ich vermute, dass das die Dinge ein wenig kompliziert. Das vermischt alles und kann irreführend sein. Ich muss aber wiederholen, dass du überhaupt keine Schuld an alles, was geschehen ist, hattest und dass du dein Bestes getan hast, mit den Ressourcen, die dir zur Verfügung standen. Auch ist die Empathie für den Angreifer verständlich, sie hilft beim Überleben.“
  • „Slavic war doch kein Angreifer.“
  • „Ok, er hatte jedoch das Potential, als er betrunken war. Hört sich das besser an?“
  • „Teilweise.“
  • „Gut.“
  • „Ich mache jedoch den Unterschied, weißt du?“
  • „Den Unterschied?“
  • „Ja, ich mache den Unterschied. Es sind komplett unterschiedliche Personen in meinem Kopf. Slavic, der immer Witze machte, mich in seinen Armen nahm und mir Geschenke brachte ist eine Person. Der betrunkene Slavic, mit der Axt in der Hand und den scheißverdreckten Hosen, eine andere. Slavic, der mir das Stoffhündchen, das er im Zug gekauft hatte, als er uns im Jahr vor seinem Tod besucht hat, brachte. Slavic, der als wir zusammen aßen, in der Anwesenheit meiner Mutter, meiner Tante und meines Onkels sagte, dass alle Homosexuellen ins Gefängnis geworfen und geschlagen werden sollten, bis sie umerzogen sind, oder enthauptet werden sollten, als ich, samt der Polenta und dem Gemüseeintopf, die Liebe für das erste Mädchen in meinem Leben verschlucken musste. Slavic...Ich habe wochenlag geweint, als ich erfuhr, dass er in Moskau in einem Unfall verstorben war. Ich habe Gedichte über seinen Tod geschrieben, ich wurde von einer ungeheuren Trauer überwältigt, viel mehr als beim Tod meines Vaters.“
  • „Du warst jetzt älter, vielleicht war das auch ein Teil der Trauer, die du beim Tod deines Vaters nicht erlebt hattest. Sahen sie sich ähnlich?“
  • „Sie sahen sich ähnlich, ja.“ „Ich meine, ich glaube, dass sie sich ähnlich sahen.  Slavic ist nur ein unglücklicher Mann gewesen, Camelia.“
  • „Und manchmal hat er sein Unglück über alle um sich herum überschüttet.“
  • „Ja, theoretisch weiß ich das. Das Unglück entbindet einen nicht von seiner Verantwortung, bla, bla. Ich fühle mich jedoch mit diesem Satz nicht wohl. Wenn ich ihn ausspreche, tut mir mein Magen weh. Ich fühle, ich muss ihn, sie, trotzdem verteidigen. Ich habe trotzdem Mitleid mit ihm und mit allen Männern, die mich jemals verletzt haben. Ich verspüre keinen Hass, ich will mich nicht rächen und ich bin wütend über mich selbst, dass ich keine dieser Reaktionen fühle, die eigentlich gesünder scheinen. Nur ein unendliches Mitleid, das mich fast auflöst, nur Hilflosigkeit. Ich bin entwaffnet, Camelia. Wenn ich mich an ihn erinnere, an Slavics trauriges Gesicht, zerbricht mein Herz. Er ist wie ein ausgesetzter Hund, so fühle ich ihn. Ich will ihn umarmen, ihn...“
  • „Retten?“
  • „Ja. Ihn retten, ihn nicht sterben lassen.“
  • „Es ist gut so, dass du das eingestehst. Du hast eine Menge geleistet, du sollst stolz auf dich sein.“
  • „Und ich muss noch vieles tun...Igitt. Wir es jemals enden?“
  • „Du wirst niemals aufhören, Neues über dich zu erfahren.“
  • „Wun-der-bar.“
  • „Wenn du ständig neue Verhältnisse, neue Positionen finden wirst, wirst du auch die neuen, nichtintegrierten Teile integrieren. Du wirst mehr und mehr Raum um dich schaffen, mehrere mögliche Wege entdecken, so wie du es schon tust...“